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„Feiert jetzt, denn ihr werdet nicht viel zu lachen haben“
Liebe Abiturienten,
falls ihr heute nach eurer Abiturpfrüfung einen drauf macht, macht es richtig! Denn ich kann euch sagen, ihr werdet im nächsten Jahr nicht viel zu lachen haben. Vor einem Jahr war ich genau an der gleichen Stelle wie ihr heute. Mit heiß gelaufenem Kopf und einer gezielten Handbewegung pfefferte ich meine letzte Abiklausur auf das Lehrerpult, das ich nie wieder sehen müsste. Zum Glück. So dachte ich. Adé den miefigen Klassenzimmern und dem engen Korsett aus Stundenplänen und Landjugendspießigkeit! Hallo Freiheit!
Am Gymnasium hatte ich mir mühsam, beziehungsweise durch achtjähriges Ausharren, die großen Augen der Fünftklässer erkämpft. Wann immer ich durch die Gänge schritt, folgten mir Blicke, die mir versprachen: „Du gehörst zu den Coolen hier. Zu den Großen.“ Nach der Schule musste ich feststellen: In der Welt da draußen bist du auch mit einem Schulabschluss nicht der Größte und Coolste. Als ich eines Abends mit meinen Freunden zu einer Party wollte, streckte ich dem Türsteher selbstsicher meinen Ausweis entgegen. Doch es war anscheinend ein Club, indem man keine 18-jährigen dabeihaben wollte, indem man erst ab 21 cool und groß genug war, um dabei zu sein. Mit dem Abi in der Tasche dachte ich, dass mir die ganze Welt offen stehen würde. Und ich fand eine Welt, in der ich noch nicht mal in jeden Club rein durfte. In der mir sofort klargemacht wurde: Jetzt bist du nicht mehr die Coolste. Sondern der Anfänger.
Es gab noch mehr solcher mich-auf-den-Boden-der-Tatsachen zurückholender Ereignisse: Als sich der deutsche Wirtschaftsapparat immer drohender mit seinen Klauen nach mir reckte, beschloss ich mich in der Arbeitswelt auszutesten und machte ein Praktikum. Auch dort hatte keiner auf mich gewartet. Ich war ein blutiger Anfänger, meilenweit abgeschlagen von denen mit einer fertigen Ausbildung und jahrelanger Berufserfahrung. Hier merkte ich, dass man die Schulzeit wahrscheinlich mit den ersten paar Kilometern eines Marathons vergleichen kann.
Eine andere Erfahrung war, dass ich während dieses Jahres viele Pläne hatte. Ein paar klappten, ein paar gingen schief. Doch eins hatten sie gemeinsam: Bei jedem von ihnen hatte ich das Gefühl, ihn rechtfertigen zu müssen. Egal wo ich hinging und mich vorstellte - sofort lauerte mir mein Gesprächspartner mit der Frage auf, was ich denn mache. Ein Studium? Eine Ausbildung? Ein Jahr Au-Pair? all das wären akzeptable Antworten gewesen. Aber ein schlichtes „Nichts“ als Antwort verwunderte die Fragesteller. Dabei kann man die besten Gründe für das „Nichts“ haben: einen Plan, der nicht aufgegangen ist, eine Orientierungsphase, in der man sich grade befindet oder auch einfach Unwissenheit über das, was man eigentlich will. Aber wer sich dem Wirtschaftsapparat aufs erste entzieht, erntet von denjenigen, die sich schon für einen Lebensweg entschieden haben, meist recht wenig Verständnis.
Liebe Abiturienten, genießt das Gefühl des Großseins jetzt noch, denn wenn ihr das ganze Feierlichkeitspipapo hinter euch habt und im Herbst irgendwo antanzen müsst, dann wird es wahrscheinlich dauern bis ihr 35 seid, bis euch jemand wieder so ernst nimmt, wie die Fünftklässer heute. Bis dahin werden euch die Menschen euch sagen, was ihr zu tun habt. Sie werden euch dauernd fragen, was ihr grade macht, weil sie das irgendwie ganz interessant finden: junge Menschen das erste Mal allein in der großen, weiten Welt. Aber alle eure Pläne und Wünsche werden sie allwissend belächeln (und wenn sie es nicht tun, werden sie es in Gedanken machen). Ihr werdet den Druck von euren Eltern spüren, dass etwas Vernünftiges aus euch wird und gleichzeitig die eigenen Zweifel. Eure Freunde werden anfangen, über Arbeitsmärkte und Lohnsteuerkarten zu reden. Ihr werdet dauernd unterschätzt und belehrt werden.
Liebe Abiturienten, das Leben ist kein Ponyhof. Auch nicht mit Abi.
Es grüßt euch herzlich: Mariel McLaughlin
Text: mariel-mclaughlin - Foto: A.Rei / photocase.com