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Elf neue Bücher in sechs Wochen. Ein Bericht vom Lesen.

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Meine Leseplätze der letzten sechs Wochen: Am Wochenende nachmittags auf dem Sofa am Fenster. Die Beine dort eingewickelt, in einer Decke aus Schurwolle. In einer von diesen Fleecedecken, die über Nacht das ganze Land einhüllten, könnte ich nie lesen. Meine Lesedecke riecht immer noch ganz leicht nach Schaf und wurde von österreichischen Kindern gewebt. Man hört ja gelegentlich, dass man für Schuhe viel Geld ausgeben soll, im Winter halte ich aber viel Geld für eine richtige Decke für wesentlich wichtiger, denn mit der muss man nicht durch Matschpfützen und sie bleibt immer schön. Unter der Woche lese ich quasi im Stehen, was sich fast genauso unangenehm anfühlt, wie im Stehen zu essen, nur dass das Aufgenommene eben nach oben geht und nicht in den Magen. Ich lese an der Bushaltestelle, im Bus, an der S-Bahnhaltestelle und in der S-Bahn und immer gerade dann, wenn ich mich zum ersten Mal wieder auf die nächste Seite freue, muss ich aussteigen. Dieses Lesen ist anstrengend, nicht nur für mich, der den ganzen Tag mit Fragmenten und abgerissenen Sätze im Kopf rumläuft, sondern auch für das Buch. Ein S-Bahn-Buch sieht nach einer Woche aus, als hätte es schon vier Jahre in der Stadtbücherei gestanden. Es gibt auch Bücher, die leiden besonders, weil ich ihren Einband umknicke, damit ich ihn nicht den anderen Menschen in der S-Bahn ins Gesicht halten muss. „Bitterfotze“ von Maria Sveland war so ein Fall. Fürchterlicher Titel, den ich ungern vorzeigte.

In der schwedischen Originalausgabe heißt das Werk „Bitterfittan“, man kann dem Verlag also wohl nicht vorwerfen, via Titel die Aufmerksamkeit maximieren zu wollen. Die hat das Buch durchaus verdient. Es ist ein Roman, der sich an feministische Meilensteine wie Syliva Plaths „Glasglocke“ oder „Angst vorm Fliegen“ von Erica Jong anlehnt und sie auch zitiert. Die Ich-Erzählerin darin ist vor allem eines: bitter. Unendlich verbittert über ihr eigenes Frausein, aber auch über die Frauen allgemein und ihre ausweglose Situation – selbst in einem Land wie Schweden, das sich um die Gleichberechtigung der Geschlechter seit Jahrzehnten kümmert. Obwohl sie dort gut lebt und in einer Beziehung mit einem Mann, der auch intellektuell ein gleichwertiger Partner für sie ist, kann sie in ihrer Rolle nicht glücklich sein. Sie wird ständig vom Schuldgefühl verfolgt, eine schlechte Mutter zu sein, weil sie monatelang apathisch und überfordert mit ihren Aufgaben ist und sich dabei alleingelassen fühlt, unverstanden und verurteilt. Während sie das beschreibt, begibt sie sich auf eine Urlaubsreise, alleine an ein Pauschalziel im Süden, Kind und Mann zurücklassend und dadurch schon wieder schuldverfolgt, gepeinigt von den Blicken der reisenden Pärchen und den verbitterten Mundwinkeln der anderen Frauen, die sie unterwegs beobachtet. Sveland bietet keinen Ausweg an. Das feministische Hemdsärmel-Hochkrempeln, das letztes Jahr hierzulande wieder ausgerufen wurde, fehlt dem Buch völlig. Und obwohl mich die Materie nicht besonders lockte, habe ich es einigermaßen atemlos zu Ende gelesen, verärgert manchmal, über die stark einseitigen Allgemeinplätze der Autorin. Ich als Mann jedenfalls wache auch auf, wenn ein Kind schreit, selbst wenn es nur das Nachbarskind ist.


Einen schräg diametralen Beitrag zu diesem Diskurs steuert Alexa Hennig von Lange mit ihrem neuen Roman bei. Der spielt in einem Milieu, das in den 70er-Jahren verwurzelt ist, folgerichtig heißt das Ding auch „Peace“. Der bemitleidenswerte Ich-Erzähler ist ein Junge, der mit einer Mutter klarkommen muss, die als Faktotum der Hippie-Ära auf einem Trip hängengeblieben ist und im fortwährenden Delirium die aggressiv männerfeindlichen Parolen der damaligen Frauenbewegung bis in die Neunziger gerettet hat. Freilich ist diese Mutter ein übles Wrack, das sich für ein halbes Jahr ins Klo einsperrt, während ihr Sohn versucht mit seinen Altersgenossen klarzukommen und irgendeine Form von männlicher Identität in sich zu entdecken. Das alles ist ziemlich gut aufgeschrieben, hat aber inhaltlich dann doch zwei bis drei Ideen zu wenig. Die Charaktere bleiben wacklig und fremd und gerade wenn Bewegung reinkommt, ist das Buch auch schon wieder zu Ende. Ich weiß nicht genau, worauf die ehemalige Pop- und Kinderbuchautorin eigentlich mit dieser Geschichte abzielte. Kritik an unserer Eltern-Generation und ihren 68er-Phantasmen? Vielleicht, aber dafür ist das Ganze eben doch wieder so grotesk überzeichnet und abwegig angesiedelt. Das ist ja ohnehin so eine Frage: Wofür sind Bücher da? Wozu lese ich und gucke nicht nur noch Peter Zwegat? Es gibt mehrere Dinge, die ich mir von einem neuen Buch verspreche, wenn es so daliegt, in seiner durchsichtigen Folie, verheißungsvoll und sauber verschweißt. Einmal natürlich Unterhaltung. Gute Geschichten, in denen ich mich verliere, Welten, die für mich aufgehen und Gefühle erzeugen, die man ein bisschen Druckfarbe und Papier nie zugetraut hätte. Ich sage es gleich, so ein Buch gab es lange nicht mehr. Viel öfter ist die Lektüre nur Zerstreuung, so ähnlich wie Kaugummi kauen oder auf die Straße schauen und gucken, ob da was passiert, aber sie macht nichts mit einem. Diese Bücher erkenne ich daran, dass mich gar nicht interessiert, wie sie ausgehen und ich manchmal einfach zwanzig Seiten vor dem Ende aufhöre. Dann lese ich auch Bücher, weil ich hoffe, dass ich danach klüger bin oder über ein Thema besser Bescheid weiß.

Was noch? Manches lese ich, weil ich andere Werke von dem Autor gut fand. Das ist so bei Stefan Beuse. Der hat, das ist schon ziemlich lange her, mal ein Buch gemacht, das hieß „Wir schießen Gummibändern zu den Sternen“. Das war damals, ich weiß nicht mehr genau warum, sehr wichtig für mich. Es war eines von diesen Büchern, ihr wisst schon. Jetzt hat er „Alles was du siehst“ vorgelegt, ein Werk, an dem er nach eigenen Angaben vier Jahre schrieb und es von 700 Seiten auf 200 eindampfte. Puh. Ein Roman, natürlich. Alles ist sehr genau und auch poetisch hier. Ein Mann spielt die Hauptrolle, der mal wieder ein typischer Protagonist zeitgenössischer deutscher Literatur ist: weiß, mittelalt und von urbaner Empfindsamkeit, unnahbar und irgendwie auf der Suche. Ein geheimnisvoller Auftrag verschlägt ihn in die USA in ein Haus mit einer seltsamen Gesellschaft von Intellektuellen, die irgendwie auf ihn gewartet zu haben scheinen. Naja, undsoweiter. Alles ist sehr vage und Identitäten verschwimmen, als Leser ist man selten klar im Bilde, sondern gemeinsam mit der Hauptfigur verwirrt, stolpert durch die Kulisse und ahnt schon, es handelt irgendwie vom Verlorengehen, vom Aufheben der Grenzen jajaja, aber ach, irgendwie bleibt der Spaß auf der Strecke. Es wird, wie bei vielen Romanen, viel wert auf Sterilität gelegt, auf ästhetisches Erzählen, aber bei mir zieht das ganz oft nicht. Ich habe dann beim Lesen einen Zustand fortwährender Unterkühlung und bin dadurch irgendwann ganz ungerührt vom Ganzen. Schade, Stefan Beuse, aber vielleicht mein Fehler.


Schnell zum nächsten, verzagten, mittelalten, weißen männlichen Protagonisten. Michael Ebmeyer schickt so einen nach Sibirien. Es liest sich allerdings hervorragend, wie Herr Bleuel als verschüchterter Leisetreter von seiner Firma mit einem, mal wieder, seltsamen Auftrag in die Taiga versetzt wird. Dort, in einer sibirischen Stadt, lernt er nicht nur Menschen und ihre Art zu leben kennen, sondern verliebt sich auch. Erst in eine Frau und dann in alles. Soweit, so unaufregend. Ebmeyer schreibt aber in einer wirklich guten Verfassung, erlaubt sich keine ermüdenden Schlenker, verheddert sich nicht in Klischees, sondern lässt seine Figuren erfrischend anders agieren, so dass ich bis zum Schluss nahezu eilig bei der Sache blieb. Ein gutes Buch also, wenn auch nicht gerade ein Faszinosum, das man mit Blumen bewerfen möchte.

Zu Abwechslung muss ich ja auch mal was anderes lesen, als die zeitgenössischen Kalt- und Klar-Entwürfe. Im Thomas-Bernhard-Jahr zum Beispiel mal wieder Thomas Bernhard. Der Suhrkamp-Verlag hat aus seinem Nachlass ein ziemlich unterhaltsames, streckenweise aberwitzig lustiges Buch herausgegeben. Es heißt „Meine Preise“ und behandelt genau das – Bernhards Notizen über die diversen Literaturpreise, denen er im Verlauf seiner Karriere habhaft wurde. Dabei geht es en detail um die Umstände, die dem Preis vorausgingen und um die Verleihung selber, um die Nöte mit Dankesreden und – natürlich – das Zusammentreffen mit Kultuministern und anderen Beamten des Betriebs in Österreich und Deutschland. Nicht nur die routinierte Abrechnung mit diesen Menschen machen das Buch zu einem Vergnügen, auch die freimütige Preisgeldgier des Autors und die Verwendung des Gelds im Bernhardschen Alltag sind ein Stoff, von dem ich nicht genug kriegen kann. Selbiges gilt auch für seinen Stil, der bei aller Einfachheit allzeit Wendungen zulässt, die an Eleganz und Treffsicherheit ihresgleichen suchen.

Weil ich davon so begeistert war, musste ich auch gleich das neue Bernhard-Buch des Residenz-Verlages haben, in dem alle biographischen Romane und Erzählungen von Thomas Bernhard als ein Band vorgelegt wurden – übrigens ein wunderschön gemachtes Buch. Inhaltlich aber schon ein anstrengenderes Kaliber als das Geplauder über Preise. Gute Laune bekommt man jedenfalls nicht, bei diesen hundertseitenlang in sich strudelnden Aufwürfen und Anklagen. Für Bernhard-Novizen aber ein guter Einstieg und wie gesagt, eine Zierde fürs Regal, auch wenn Bernhard darüber schon wieder gelästert hätte.


Sehr hübsch macht ja auch der Münchner Blumenbar-Verlag seine Bücher. Sie stechen auf den Buchtischen regelrecht hervor, vor allem weil sie auf einen separaten Umschlag verzichten und direkt auf den Coverdeckel drucken, was ich in 99 Prozent aller Fälle immer besser finde, als dieses ewig raschelnde Glanzpapier ums Buch. Mit Tracey Emin hat sich die Blumenbar eine international bekannte Künstlerin ins Haus geholt. Ihr „Strangeland“ ist eine Art Autobiographie. Von einer Konzeptkünstlerin, die vor allem mit Provokativkunst auf sich aufmerksam macht, darf man hübschen Schweinskram erwarten. Selbiger kommt auch vor, aber gar nicht mal übermäßig. Stattdessen lese ich die ziemlich episodenhafte Schilderung einer Jugend in England inkl. Aufarbeitung der türkisch-zypriotischen Herkunft der Autorin. Ja, also und das war’s dann auch schon. Ziemlich banal das Ganze und in keine Richtung auffällig, sieht man mal vom zerrissenen Familienbild ab, das hier geschildert wird. Aber Gott, das hat ja nun nahezu schon fast jeder und wenn nicht persönlich, dann doch wenigstens schon zehnmal im Buchregal. Bleibt jedenfalls wenig übrig von Frau Emin und auch einen Einblick in ihr künstlerisches Schaffen wird dem Leser weitgehend verwehrt. Hm.

Bücher von Journalistenkollegen nehme ich ja prinzipiell überskeptisch in die Hand, so ist man eben, untereinander. Bei Nils Minkmar war es das erste Mal, dass mich so ein Buch nach zwei Seiten komplett überzeugt hatte. Minkmar kannte ich nur von vielen Autorenzeilen unter guten Texten in der FAS und hatte ihn mir immer als flotten Mittdreißiger gedacht. Ich war deshalb etwas überrascht, als mich vom Rückumschlag ein onkelhafter Mittvierziger anguckte. Flott ist er aber ohne Zweifel und schreibt einen begnadet feinen Stil, eigentlich so, wie ich auch gerne schreiben können würde, mit Vierzig. Was in „Mit dem Kopf durch die Welt“ zu lesen ist, sind eigentlich Feuilletons, aber mit einer persönlichen Note. Es geht da um kleine Erlebnisse, Familiengeschichten, die sich in nur einem Absatz in Überlegungen zum großen Ganzen ausweiten: unsere Politik, unser Leben als Europäer, Frankreich etc. Hätte mir mal jemand gesagt, dass ich fanatisch einen Text über Oskar Lafontaine in mich hineinfresse, ich hätte wirklich laut und beknackt: „Never ever!“ gerufen. Aber Minkmar schafft das, ich lese über französischen Innenpolitik und Islamisten und bin keine einzige Zeile lang geneigt, das Auge springen zu lassen. Seine Metaphern sind herrlich, seine Ansichten klug ohne angestrengt zu wirken, im Grunde denkt er, wie man selber in einer Partydiskussion gerne denken können würde - klar und originell und absolut überzeugend. Ein feines Buch, im besten Sinne irgendwie geistreich und das finde ich wirklich höchst selten.


Ein anderes Journalistenbuch kommt aus der Schweiz und stammt von Mark van Huisseling. Der arbeitet als Society-Reporter für das mittlerweile schwer konservative Magazin „Weltwoche“ und sorgt dort seit Jahren mit seinen egozentrischen Lästerorgien für eine gewisse Erfrischung. Was er jetzt mit „Wie man berühmte Menschen trifft“ versammelt, ist eine Art Coffeetable-Book nur mit wenig Bildern, stattdessen mit seinen Promi-Interviews. Diese ähneln in ihrer Kürze aber tatsächlich eher Momentaufnahmen und Fotos als Lesetexten, sie sind nicht mal so richtig fürs Lesen aufbereitet. Von Joe Cocker bis Kylie Minogue, van Huisseling fragt respektlos und gelangweilt, die Interviewten antworten respektlos und gelangweilt, aber natürlich blitzt aus diesen aufeinanderprallenden Attitüden in den besten Momenten Glamour und Witz. Ich stehe auf so was, in gewissen Stimmungen. Finde es aber auch noch öfter ein wenig schlapp. Sehr gut zum Verschenken für Kollegen, die schon alles haben, vor allem einen Coffeetable.

Da fällt mir ein, das Buch „Das Leben ist keine Waldorfschule“ habe ich auch gelesen. Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, worum es darin ging. Witzige Anekdoten aus der jungen Lebenswelt, vielleicht? Ich weiß nur noch, dass der Autor ein gefeierter Poetry-Slammer ist. Schön.

So richtig seltsam, und damit kommen wir auch zum Ende meines sechswöchigen Lesens, ist der Debütroman von Thomas Klupp, erschienen im renommierten Berlin Verlag. Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Typ trampt durch Deutschland, kommt in seinen Heimatort und fährt weiter nach München. Wer jetzt schon alles ahnt hat recht: Knietief waten wir hier durch das, was vor zehn Jahren Popliteratur genannt wurde. Ein zutiefst unsympathischer Ich-Erzähler assoziiert sich durchs Land, ganz oft werden die Wörter „irgendwelche / irgendeine“ gebraucht und es sind immer mindestens drei Millionen Sterne am Himmel, bzw. eine Million doofer Leute vor einem an der Kasse, so ist das hier. In schwacher Faserland-Manier manövriert sich das Ich also durch die Situationen, trifft alte Freunde, hat mal Sex und begeht schwer nachvollziehbare Affekt-Taten, schlägt zum Beispiel seinem besten Freund die Fresse ein oder schrottet den BMW seiner Eltern. Weder Inhalt noch Stil glänzen mit Ideen, stattdessen wurde ich immer ärgerlicher. Nicht nur dass hier durchgehend das Nazi-Wort „Tschechei“ benutzt wird, auch logische Unklarheiten und Formfehler erschweren die Lektüre. Das habe ich mit so einem gewissen Reiz des Unperfekten zu Ende gelesen, war aber, wurde das deutlich, nicht erbaut. Jetzt ist es vor meinem Lesefenster neben dem Sofa schon wieder bis halb sieben hell. Bald wird man gar nicht mehr wissen, wohin mit dem ganzen Tageslicht. Die Bücher im Überblick: Maria Sveland: Bitterfotze, 8,95 Euro Nils Minkmar: Mit dem Kopf durch die Welt, 17,95 Euro Thomas Klupp: Paradiso, 18 Euro Alexa Hennig von Lange: Wie man berühmte Menschen trifft. 22,90 Euro

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