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Ein Film als Freund: Myspace lädt zur Preview
Chris hat 745 Freunde auf Myspace. Die Zahl weiß er auswendig, sie kommt aus seinem Mund geschossen, als ginge es um seinen Geburtstag oder eine für ihn lebensnotwendige Information. Letzteres ist vielleicht gar nicht so weit hergeholt. Chris ist täglich mehrere Stunden online, das Myspace-Profil dabei immer geöffnet. Seit ein paar Tagen hat er einen Freund mehr. Wächter des Tages ist sein Name, und hinter dem Profil verbirgt sich – wie eine herkömmliche Offline-Definition des Begriffs Freundschaft einen glauben machen könnte – keine Person aus Fleisch, Blut, Haut und Haaren, ja nicht mal eine Band, wie es bei Myspace ja nicht selten der Fall ist. Vielmehr – Freunde russischer Phantasieromane und aufmerksame Cineasten werden es bereits bemerkt haben – handelt es sich um den zweiten Teil der Verfilmung von Sergei Lukyanenkos Bestsellern.
Chris (rechts) und zwei seiner 745 Freunde beim Secret Screening in München Obwohl der offizielle Start des Films erst für Donnerstag angesetzt ist, war er in fünf deutschen Kinos schon am Montag zu sehen, umsonst und mit passenden T-Shirts und Sonnenbrillen als Zusatzgeschenk. Allerdings nur für diejenigen, die wie Chris den Wächter des Tages zu ihrem Myspace-Freund gemacht haben und dies an der Kinokasse mit einem Ausdruck ihres Profils belegen konnten. „Secret Screening“ nennt sich dieser brandneue Zögling aus dem Hause Myspace in schönem neudeutschen Marketingjargon, in Anlehnung an die dem Krippenalter bereits entwachsenen und bewährten „Secret Shows“. Ganz wichtig ist bei beidem das vermittelte Gefühl von Exklusivität – eine bekannte und bewunderte Band in einem kleinen Club zu erleben, wirkliche Nähe zu spüren statt aus Reihe 725 und hinter 20 Wellenbrechern auf Großleinwände zu starren, das ist seit jeher der Traum des Musikliebhabers. Einen Film ein paar Tage vor seinem offiziellen Start zu sehen, mag daran in der Intensität des Erlebens nicht ganz heran reichen – das Schaffen von Mehrwert orientiert sich aber auch hier am gleichen Prinzip: Man bekommt, was andere nicht bekommen, man bekommt es früher, und man bekommt es umsonst. Ohne einen Myspace-Account bleiben die Kino- und Konzertsäle verschlossen, und einen solchen anzulegen, ist eine Sache von Minuten. Der Köder scheint durchaus zu wirken, zumindest im Falle der Secret Shows: In Leipzig, wo am Dienstag Abend Robocop Kraus und Dúné für eine Secret Show auf der Bühne stehen werden, hat sich die Zahl registrierter Myspace-User in den letzten Tagen verdoppelt. „Gerade in solchen Städten, wo unsere Userdichte nicht so hoch ist, spürt man die Auswirkungen solcher Aktionen sehr deutlich“ erklärt Christoph Urban, Marketing-Direktor von Myspace-Deutschland. „Und selbst wenn die Leute sich nur wegen dieser Aktion angemeldet haben, jeder neue User birgt das Potenzial, lange dabei zu bleiben.“
Christoph Urban, Director Marketing und Content bei Myspace Deutschland Der lebende Beweis für diese Theorie ist Anja, die wie Chris gestern in München das Secret Screening von Wächter des Tages besuchte. Vor drei Tagen erfuhr die Lehramtstudentin von der Möglichkeit, sich den Film umsonst anzusehen, und registrierte sie sich eigens zu diesem Zweck bei Myspace. Seitdem hat sie die Seite täglich besucht und schon 50 Freunde in ihrer Liste verbucht. Einen solchen Freundeszuwachs in drei Tagen hinzubekommen, würde selbst den eifrigsten Szenetypen und Partygänger überfordern. Ohnehin hat Freundschaft in Internetangeboten wie Myspace eine neue Note bekommen. Die Zahlen, die einem von manchen Myspace-Profilen entgegenblinken, lassen die Verwendung des Begriffs absurd erscheinen. Hätten die deutschen Volksparteien nur annähernd so viele Mitglieder wie die beliebtesten Myspace-User in den USA Freunde, Frau Merkel und Herr Beck würden Freudentänze vollführen. Außerdem scheint, was nach der herkömmlichen Offline-Definition eine auf Zuneigung und Vertrauen beruhende Verbindung zwischen Individuen ist, hier zu einer Art Handelsware geworden zu sein. Um der Vorab-Filmvorführung beiwohnen zu können, vergibt man seine Freundschaft an das abstrakte Profil eines Films, verschafft ihm damit einen höheren Status, macht ihn für jedermann sichtbar beliebter und schafft so letzten Endes Nachfrage. Auch Marketing-Chef Christoph Urban ist sich dieses Wandels bewusst: „Das ist natürlich eine fast schon kulturphilosophische Frage, wie man Freundschaft definiert. Es ist sicher richtig, dass sich hier etwas geändert hat. Die Definition von Freundschaft, die vor zehn Jahren mal gegolten hat, ist in unserer Zielgruppe sicher nicht mehr vorhanden.“ Und diese Veränderungen könnten weiter ihren Lauf nehmen. Grundsätzlich ist eine Ausweitung der Konzepte des Secret Screenings nämlich auch auf andere Bereiche möglich, so Urban: „Es wird sicher nicht soweit gehen, dass Tschibo in einer geheimen Vorführung für Freunde seine neue Kaffeemaschine vorführt. Wir planen derzeit auch nicht konkret, das auszuweiten, aber solange es ins Markenkonzept passt, ist vieles denkbar.“ Das Secret Screening befindet sich ebenfalls noch nicht im Endstadium. Man wollte es erstmal testen, allerdings war der Zulauf bei der Vorführung am Montag noch recht spärlich. Nach „Wächter des Tages“ wird am 26. September, ebenfalls ein paar Tage vor dem eigentlichen Start, mit „Planet Terror“ ein zweiter Versuch gestartet. Chris wird auch hier wieder dabei sein. Gleich morgen will er das Profil der Produktion von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez zu seinen Freunden hinzufügen, sagt er. Das wäre dann Nummer 746.