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Drogenkrieg im Auslandssemester
In der ersten Nacht halte ich die Schüsse noch für ein Feuerwerk. Der ohrenbetäubende Knall, der mich gegen drei Uhr nachts aus dem Schlaf reißt, klingt wie ein sehr lauter Böller. Es kracht weiter, ich stecke mir Stöpsel in die Ohren und schlafe wieder ein. Trotzdem wache ich bis zum Morgengrauen mehrmals von den Explosionsgeräuschen auf.
Am nächsten Morgen erfahre ich: Es gab Schießereien in dem Armenviertel, das ich von meinem kleinen Balkon aus sehen kann. In der folgenden Nacht weiß ich nicht, was ich tun soll: das Bett vom Balkon wegrücken? Auf dem Boden schlafen? Ich tue nichts von beidem. Die Vorstellung, dass mich wirklich eine Kugel treffen könnte, ist einfach zu unwirklich. Auch, wenn ich die Schüsse hören kann.
Ich studiere für ein Semester an der Universität von Niterói, einer Stadt mit Blick auf Christusstatue und Zuckerhut, am anderen Ende der Bucht von Rio de Janeiro. Dass Rio nicht nur Copacabana, Samba und Caipirinha bedeutet, sondern auch Gewalt und Kriminalität, das wusste ich natürlich. Dass ich in einen regelrechten Straßenkrieg geraten könnte, habe ich dennoch nicht gedacht.
Es sind wohl rivalisierende Drogengangs, die um das Kommando in den Favelas des Bezirks kämpfen. Seit Beginn der 80er Jahre operieren die Rauschgifthändler von den illegal errichteten Armensiedlungen aus, die sich in die vielen steilen Hügel in Rio und Umgebungs schmiegen. Denn der brasilianische Staat gab sich lange Zeit geschlagen gegenüber dem dort herrschenden sozialen Elend und überließ die Viertel sich selbst – eine optimale Bedingung für die Kriminellen. Erst kürzlich hat eine Drogengang eine dieser Favelas „erobert“. Sehr zum Missfallen eines konkurrierenden Kommandos. Seither fliegen Kugeln.
Auch Rocinha, Rios größte Favela, ist Teil des Befriedungsprojektes des Staates. Wegen der Befriedung weichen Kriminelle Gruppen auf die Nordzone Rios und in die Vorstädte aus - auch nach Niterói, wo unsere Autorin zur Zeit studiert.
In der Zeitung lese ich, dass es sich um Anhänger der Kartelle „Amigos dos Amigos“ (Freunde der Freunde) und „Comando Vermelho“ (Rotes Kommando) handelt. Das rote Kommando hätte bisher die Favela in der Nähe des Hauses beherrscht, in dem ich bei einer Gastfamilie untergekommen bin. Die Konkurrenz versuche jetzt, die Macht zu übernehmen. Wenn das stimmt, habe ich zwei der schlimmsten Verbrecherbanden Rios als Nachbarn. Da beruhigt es mich auch nicht, dass in dem Artikel steht, die Kämpfe würden innerhalb einer Favela stattfinden – während meine Vermieterin mir erzählt, die Gangs würden sich zwischen zwei Hügeln beschießen und das Haus, in dem wir wohnen, liege direkt dazwischen.
Verlagerung der Gewalt
Eigentlich liest, hört und sieht man in deutschen Medien momentan ja vor allem viel darüber, dass sich die Sicherheitslage in Brasilien verbessert. Das stimmt: Seit Ende des Jahres 2008 räumt die Militärpolizei für Fußball-Weltmeisterschaft und Olympische Spiele in den Slums auf, vertreibt die Drogenbosse. Und anders als früher bleibt sie danach dort, sorgt für Ruhe und Ordnung und schützt soziale Projekte für die benachteiligten Bewohner. Pazifizierung nennt der Staat das Programm.
In Niterói scheinen die Pazifizierungen Kriminalität und Gewalt nur zu verschlimmern. Denn die Drogenbosse, die von den Favelahügeln der reichen Südzone vertrieben wurden, fliehen nun in unbefriedete Favelas in Rios Nordzone und in die Nachbarorte der Stadt. Nachbarorte wie Niteròi. Die liegen nicht in strategischer Nähe zu Stadien und Sehenswürdigkeiten. Touristen werden sich zur WM 2014 und Olympia 2016 hierher eher nicht verlaufen, weswegen diese Gegenden nicht befriedet werden. Seit 2009 nimmt die Gewalt dort rapide zu, die lokalen Medien berichten von Überfällen, Entführungen und Morden – und nachts wird geschossen. Die Befriedung ist wohl eher eine Verlagerung.
Doch trotz des Gewaltausbruchs in der Stadt und in meinem Viertel will ich mich nicht einschränken und fahre nachmittags mit einer Freundin an den Strand. Als ich das Haus verlasse, gehen die Schüsse wieder los. Ich zucke zusammen. Die Menschen vor mir beginnen zu rennen.
In der Vorlesung am folgenden Tag klopft mein Herz schneller als gewöhnlich. Ich drehe mich auf der Straße ständig um, beeile mich, vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen. Bei der Bäckerei an der Ecke fragt mich eine Frau, ob ich in die gleiche Richtung müsse wie sie – sie wolle nicht alleine zu ihrer Wohnung laufen. Zu Hause angekommen schrecken endlose Schusssalven meine Gastfamilie und mich beim gemeinsamen Abendessen auf. Und spätestens als der Vater den Sohn ermahnt, sich nicht zu nah am Fenster aufzuhalten, wird mir klar, dass die Gefahr echt ist. So unwirklich sie mir auch erscheint. Ich verbringe diese Nacht noch in meinem Zimmer, dann ziehe ich zu Freundinnen nach Rio und schlafe dort auf dem Sofa. Ich kann das. Die anderen Menschen, die hier wohnen, nicht.
Warum schießen die Menschen aufeinander? Ist das Viertel jetzt auch außerhalb der Favelas unsicherer als zuvor? Unternimmt der Staat irgendetwas? Das alles wollen meine Freundinnen wissen. Ich kann ihre Fragen kaum beantworten.
Denn es ist schwierig, herauszufinden, was wirklich geschieht. Die Polizei leugnet zunächst die Schießereien gegenüber der Presse. Dann marschiert sie doch in eine der Favelas ein, es wird der Tod eines „bandidos“ gemeldet. Laut Polizeiangaben starb er im Gefecht. Durch einen Kopfschuss, was eher für eine Exekution als einen Tod im Kampf spricht – Polizeiarbeit, wie sie vor dem Pazifizierungsprogramm in den Favelas üblich war.
Danach gehen die Schießereien weiter. Ob die Polizei an ihnen beteiligt ist, wissen die Anwohner nicht.
Meine Vermieterin schreibt eine Petition an die Sicherheitsbehörden. Sie will mehr Polizisten in Niterói, am besten die Pazifizierungs-Soldaten, die Rios Favelas besetzen. Wie die meisten Anwohner, mit denen ich gesprochen habe, fühlt sie sich im Stich gelassen, schimpft, dass Niterói dafür bestraft wird, kein Austragungsort von Wettkämpfen bei der WM und bei Olympia zu sein.
In Rio erreicht mich eine Nachricht von ihr. Tatsächlich sind jetzt in Niterói mehr Polizisten im Einsatz. Die Schüsse seien nur noch manchmal nachts zu hören und es patrouilliere abends Polizei auf der Straße. Auch seien weitere Kriminelle verhaftet worden.
Umzug ins "verlorene Viertel"
Ich ziehe trotzdem um, in das Univiertel von Niteròi, nach Ingá. Zunächst schrecke ich jedes Mal zusammen, wenn ich ein lautes Geräusch höre. Mit der Zeit aber entspanne ich mich immer mehr, die Erfahrung erscheint mir wie ein böser Traum. In Ingá wirkt es ruhig, auch wenn wieder – wie überall in der Stadt – eine Favela in meiner unmittelbaren Nachbarschaft liegt.
Dann aber erfahre ich, dass ein Straßenzug bei mir um die Ecke „verlorenes Viertel“ heißt. Der Grund: Gangster, die hier regelmäßig Studenten überfallen, rufen „verloren, verloren“, wenn sie eine Waffe auf ihr Opfer richten. Auch wenig beruhigend ist der Grund, weshalb die Uni im Herbst 2012 Busse eingerichtet hat, die die verschiedenen Fakultäten miteinander verbinden: damit die Studenten sich so wenig wie möglich zu Fuß auf den Straßen um den Campus herum bewegen müssen.
Kurz darauf höre ich im Morgengrauen Schüsse. Sie kommen von der Favela nebenan. Was mir als Ausnahmezustand erschien, ist jetzt vielleicht einfach Alltag in Rios Nordzone und den Vorstädten der Stadt.
Text: leonie-feuerbach - Foto: dpa