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"Dit war 'ne böse Pille"

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DJ Ickarus sitzt mit nacktem Oberkörper und Sonnenbrille am Tisch eines Nobelhotels und pickt wie ein verzücktes Huhn in seinem Müsli herum, das er zuvor samt Joghurt auf der Tischdecke verteilt hat. Den Joghurt verstreicht er gewissenhaft auf seiner Glatze. Als der Kellner ihn fragt, ob er hier Gast sei, stellt Ickarus plötzlich fest, dass Blut an seinen Händen klebt. Seine Stimmung schlägt um. Icke beginnt zu wimmern: „Blut, Blut, das ist ja Blut.“ Als er wieder die Augen öffnet, liegt er in einem Bett der Psychiatrie. "Dit war ne böse Pille", sagt er. „Berlin Calling“ von Hannes Stöhr porträtiert die Berliner Technoszene: die Nächte, die erst am nächsten oder übernächsten Nachmittag enden, die Drogen, die nicht mehr Ecstasy, sondern MDMA, Crystal und Ketamin heißen, und die minimalisierte Musik, die im Ausland nur unter „Berlin Techno“ bekannt ist. DJ Ickarus spielt der Musiker Paul Kalkbrenner, im echten Leben beim Electro-Label B-Pitch Control unter Vertrag.

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DJ Ickarus, mit bürgerlichen Namen Martin Karow, führt ein prekäres Thirty-Something-Leben: Zwischen Starsein und Dispokredit, Rausch und Kater, Dauerstrom und Kurzschluss. Mal tourt er mit seiner Freundin und Managerin Mathilde durch Clubs in ganz Europa, mal hängt er bedröhnt mit seinem Dealer "Erbse" rum. Trotz des sporadischen Erfolgs sind die beiden notorisch klamm, was nicht zuletzt an Ickarus’ Drogenkonsum liegt. Das neue Album soll den Durchbruch bringen. Doch bevor das passiert, verändert eine schlechte Pille Ickarus' Leben. Icke irrt zunächst halbnackt durch Berlin, bis er schließlich in einem Nobelhotel sein Frühstück auf der Tischdecke verteilt. Die humoristisch wirkende Einlage entpuppt sich als psychotischer Schub. In der Psychiatrie trifft Icke eine mehr oder weniger sympathische Gruppe von Freaks mit drogeninduzierten Psychosen: Goa Gebhard, der zuviel LSD genommen hat und seitdem nicht mehr spricht, und Crystal-Pete, der seit seinem übermäßigen Methamphetamin-Konsum zu unkontrollierten Wutausbrüchen neigt. Die Ärztin Petra Paul, gespielt von Corinna Harfouch, führt ein strenges, aber faires Regiment in der offenen Anstalt. Sie rät Icke, die nächsten Tage hier zu bleiben und sich auszuruhen, bis seine psychotischen Symptome abgeklungen sind. Ickarus willigt ein. Die Einsicht währt nur kurz. Am nächsten Tag haut Ickarus wieder ab, zieht durch Clubs und landet irgendwann wieder bei Erbse, um Kokain zu ziehen. Ickarus wird jähzornig und gewalttätig. Als ihm die stets in weiß gekleidete Labelchefin erklärt, sein Album vorerst nicht zu veröffentlichen, zertrümmert er ihr Büro. Das Finanzamt will 25.000 Euro Steuernachzahlung und seine Freundin Mathilde erträgt seine Gewaltausbrüche nicht mehr. Sie verlässt die gemeinsame Wohnung und tröstet sich mit einer lesbischen Türsteherin. Seine psychotischen Schübe hören nicht auf und Ickarus landet wieder bei Dr. Paul. Nach einem kleinen Intermezzo in Form einer Stationsparty mit viel Alkohol und Prostituierten, zu dem er den Zivi überreden kann, bricht Ickarus komplett zusammen. Am nächsten Tag liegt er fixiert in einem Bett der geschlossenen Abteilung. Von diesem Nullpunkt kriegt er an sein Leben mühsam mit Psychopharmaka wieder auf die Reihe. Nun reißt die Geschichte „Hedonist übertreibts, landet in der Psychiatrie und wird geläutert“ einen zwar nicht gerade vom Kinosessel, trotzdem ist „Berlin Calling“ ein Film, den man sich merken wird. Das liegt an der von Paul Kalkbrenner grandios gespielten Hauptfigur und an den Originalaufnahmen seiner Gigs. Vor allem aber liegt es an all den kleinen, verstörenden aber nie überdrehten und effekthaschenden Details. Dealer Erbse erzählt, wie er regelmäßig Jobs wechselt, um an Hartz-IV zu kommen. Ickarus schnoddert Berlinerisch, wenn er seine Begleitung fragt, ob "sie nicht gleich noch eine zweite Line nachlegen wollen". Zwei Sexszenen – eine auf dem Klo und ein Dreier mit Mathilde und der Türsteherin – genügen, um den Hedonismus Berliner Technonächte zu dokumentieren. Das Beste an "Berlin Calling" aber ist, dass er kein Film über die Neunziger mit Love Parade und XTC ist. "Berlin Calling" dokumentiert die einzigartige Electro-Szene in Berlin von heute. Und die ist spannend genug, um sie nicht in der Vergangenheit zu verklären. Auf der nächsten Seite: Der Trailer zum Film und warum Hauptdarsteller Paul Kalkbrenner glaubt, dass die Berliner Technoszene ihren Zenith überschritten hat. Ein Interview


Du bist Musiker. Wie kommt es, dass Du plötzlich die Hauptrolle in einem Kinofilm spielst? Der Regisseur Hannes Stöhr hatte sich vor ein paar Jahren ein Album von mir gekauft und sich dann gefragt: Wie lebt so ein Typ? So sind wir ins Gespräch gekommen. Erst sollte ich den Soundtrack betreuen, dann den Soundtrack machen und schließlich hat er mich gefragt, ob ich die Hauptrolle spielen möchte.

Hast Du schon einmal geschauspielert? Noch nie. Aber anscheinend kann ich das ganz gut. Ein Berliner DJ, der zu viele Drogen nimmt und in die Psychiatrie kommt - wie ähnlich sind sich Paul Kalkbrenner und DJ Ickarus? Es gibt schon ein paar Unterschiede: Ickarus ist noch auf dem Weg dahin, wirklich von seiner Musik leben zu können. Die Nöte und Ängste, die so ein Leben mit sich bringt, kenne ich aber gut. Auch wenn die Drogenerfahrungen ähnlich sind – ich war zum Glück noch nie in der Psychiatrie. Sagen wir es so: In mir steckt ein Teil von Ickarus. DJ Ickarus erkrankt an einer drogeninduzierten Psychose. Kennst Du viele Leute, denen Ähnliches passiert ist? Ja. Problematisch ist vor allem Zeugs wie Ketamin, Crystal Meth, das in den USA zur Epidemie wird und GHB. Ich habe an einem Abend in der Bar 25 zwei Leute gesehen, denen Adrenalinspritzen ins Herz gerammt werden mussten. Wir zeigen in „Berlin Calling“ das alles sehr explizit, aber das ist eigentlich nur der Unterbau. Es geht ja auch um das ganze Business, das man sich immer so leicht und toll vorstellt. Dabei ist es eigentlich knallhart. Seit wann kannst Du von Deiner Musik leben? Ohne dass ich nebenher etwas anderes tun muss - seit etwa zehn Jahren. Der Film ist eine Hommage an die Berliner Technoszene. Findest Du, dass … Ich finde ihn eigentlich ziemlich traurig. Hat die Musik zum zweiten Mal ihren Zenith überschritten – nach dem Hype in den Neunzigern? Ja. Ich bin gespannt, wie lange das noch so weitergehen kann. Kein Hype kann ewig halten. Das Problem ist, dass die Leute nicht mehr wegen der Musik kommen, sondern nur weil sie gehört haben, man müsse dorthin, weil es angesagt ist. So lief es in den Siebzigern mit dem Studio 54, so läuft das immer. Im Film will Ickarus sein neues Album "Titten, Techno und Trompeten" nennen. Die Label-Chefin besteht aber auf "Berlin Calling". Welche Rolle spielt Berlin? Berlin wirkt noch immer wie ein Magnet, weil die Mieten billig sind, die Drogengesetzgebung liberal ist und es viele Freiräume gibt. Das wäre in einer anderen deutschen Stadt nicht möglich. Früher in den Neunzigern gab es intakte Technoszenen in Frankfurt oder München. Heute geht jeder nach Berlin. Keine Ahnung, wohin das langfristig führt. "Berlin Calling" läuft am 2. Oktober in deutschen Kinos an

Text: philipp-mattheis - Fotos: www.berlin-calling.de

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