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Die Stille an der Stelle des Pop: Nordkorea Chronicles
Lösche zuerst die Melodien von Bloc Party und den Strokes. Vergiss dann die Stimme von Johnny Cash, streich auch Bob Marley, Metallica und alles von den Rolling Stones. Verschwunden sind die Beatles, Elvis Presley und Queen. Britney Spears, Robbie Williams, Amy Winehouse – weg, weg, weg, alles weg. Da sind keine Melodien mehr. Die Musik ist verschwunden. Wo Pop war, ist nur noch Stille. So hört sich das musikalische Gedächtnis eines Nordkoreaners an. Und jetzt erklär mal, was Aphex Twin 1. ist 2. für Musik macht. Tja. Willkommen in Nordkorea.
Es sind alltägliche Augenblicke des Wahnsinns wie dieser, die der Kanadier Guy Delisle von seinem Leben in Nordkorea mit nach Hause gebracht hat – da ist ein Zöllner mit einer dieser strengen steilen kommunistischen Uniformmützen, am Flughafen von Pjöngjang, gleich bei der Ankunft, er wühlt sich durch das Gepäck, öffnet den CD-Player, sieht eine Aphex Twin-CD und fragt: Was ist das? Nur ein CD-Player. Nur für Musik? Ja. Und was ist das für Musik? Ähmm... hm... Eine Mischung.. Schwer zu sagen... Eigentlich Jungle, aber mit fast klassischen Arrangements... Mit Geräuschen, die.... Guy Delisle scheitert. Er schafft es nicht, Aphex Twin zu erklären, und wer seine Erinnerungen aus Nordkorea liest, weiß nicht, ob er über diese Szene lachen oder weinen soll. Das passiert oft in Guy Delisles Buch „Pjöngjang“, in dem er von seinem Leben in diesem abgeschotteten Land berichtet. Guy Delise ist, wie etliche Europäer in den vergangenen Jahren, wegen der Comics in Nordkorea – hier, im billigsten Land des Trickfilms, lassen große Studios, vor allem aus Frankreich, ihre Animationsfilme fürs Fernsehen zeichnen. Guy Delisle ist Supervisor, er hat zu überwachen, dass die nordkoreanischen Zeichner, die weder Asterix noch Mickey Mouse kennen, die Trickfilme fürs Kinderfernsehen schön zeichnen. Zwei Monate lebt er deswegen in Pjöngjang. Nach seiner Rückkehr hat er, wie bereits nach einem anderen Ausflug in eine der unbekannten Trickfilm-Fabriken der Welt im chinesischen Shenzhen, seine Erlebnisse als gezeichnetes Tagebuch veröffentlicht: Wie er seine Schatten kennen lernt, Dolmetscher und Fahrer, die irgendwas zwischen Zensor und Reiseleiter sind. Wie er versucht, sie zu verstehen oder zumindest, wie man so geblendet sein kann. Wer er betrunken durch das stockdunkle Pjöngjang läuft, in dem nur die Denkmäler Kim Jong-Ils leuchten. Wie er lernt, die Geheimnisse des Systems zu lesen, von den Wasserflaschen, bei denen stets das Ablaufdatum überklebt ist, bis zu den unsinnigen Arbeitseinsätzen von Menschen, die seine Schatten „Freiwillige“ nennen. Wie er seinem Schatten als Lektüre ein eingeschmuggeltes Exemplar von „1984“ unterjubelt. Wie er schließlich ein einziges Mal sicher ist, echte, ungeheuchelte Freude zu erleben – als er seinem Schatten eine Flasche Hennessy Cognac schenkt. Das alles ist auf eine perverse Weise wunderbar, weil Guy Delise wie ein Antikörper auf das Leben der Nordkoreaner prallt, denen er genauso fremd erscheint wie sie ihm – er aber kein Journalist ist, der danach das System der Diktatur Nordkorea erklären will, sondern einfach ein Zeichner, der die alltäglichen Augenblick des Wahnsinns in diesem Land einfängt. Das klingt nach wenig. Es ist aber viel. Nordkorea, das ist nach dem Lesen klar, ist ein Land, das man kaum begreifen kann, vielleicht geht das sogar gar nicht. Man kann nur versuchen, einen Zipfel von einem Eindruck zu erhaschen. Guy Delise hat das erkannt – und einfach Eindrücke aneinander gereiht. Immer wieder kommt er dabei auf die Musik. Er bemüht sich, seinem Dolmetscher zu erklären, was zum Teufel eigentlich ein Rave ist. Er legt im Büro Acid-Jazz auf, den er für unverfänglich hält, ungefähr eine Minute lang, bis ihm sein Schatten befiehlt, leiser zu machen, da Jazz negative Einflüsse auf die Zeichner haben könne. Er versucht, von seinem Dolmetscher herauszubekommen, wie das Propaganda-Lied heiß, von dem er auf einmal einen Ohrwurm hat. Und er macht heldenhaft den Versuch, die Stille an der Stelle des Pop zu füllen:
Nordkorea ist nicht besonders Reggae. Das ist, zynisch gesagt, eine ziemlich gute Definition dieser Diktatur. Pjöngjang von Guy Delisle, 176 Seiten, 18 Euro. Erschienen bei Reprodukt (Abbildungen aus dem besprochenen Band)