- • Startseite
- • Redaktionsblog
-
•
Die Revolution auf den Köpfen
Wie viele Sachen modischer Natur, besitzen auch Frisuren eine Aussagekraft, die sich nicht auf ihre reine physische Präsenz beschränkt. Das verdeutlichte gestern sehr gut die dpa, die in einer Meldung über die Tatsache informierte, dass amerikanische Jungs ihre Haare wieder länger tragen. Nicht nur im liberalen New York sei der „Marine-Cut“, der militäraffine Kurzhaarschnitt, out – sondern auch im, leider nicht genauer lokalisierten, „Hinterland“. Die Matten wachsen wieder. Und wie bereits oben gesagt: Irgendetwas schwingt immer mit, selbst Frisuren eignen sich prima als politische Frühindikatoren. „Ist dies vielleicht das erste sichere Anzeichen dafür, dass es mit der konservativen Regierung George Bushs zu Ende geht?“, fragt der dpa-Autor. Nichts mehr mit K.O. Patriotismus? Und der Umschwungimpuls dazu entsteht nicht mehr in, sondern auf den Köpfen, sanft getragen von Wella und Herbal Essences. Es gibt schlechtere Anlässe sich der politischen Aussagekraft der Frisuren in den vergangenen Jahrzehnten zu widmen. In der Nachkriegszeit und den fünfziger Jahren beispielsweise, betonierten die Frauen ihre Haare oft mit Spray an Ort und Stelle fest, beliebt waren auch Toupieren und Dauerwellen. Damals nebensächlich, dass das Haar schwer geschädigt und widerlich anzufassen war, unendlich viel Wartungsarbeit erforderte und doch nie richtig saß. Künstlerisch-künstliche Frisurenaufbauten und Kunsthaar waren angesagt. Friseure wie Antoine oder Monsieur Guillaume waren dafür berühmt. Der Wiederaufbau Europas war in vollem Gange, die Sehnsucht nach neuem Wohlstand stand bei den meisten Menschen im Vordergrund. Die Haare spiegelten die Stimmung des Jahrzehnts wieder - auch sie bewegten sich zwischen Tradition und Modernität. Die Sechziger führten zur Auflösung der gebändigten Pracht. Es gab zahlreiche Anstöße für neue Frisurentrends: Etwa die Frisuren der Beatles, die geometrischen Schnitte von Vidal Sassoon oder die langen, kaum manipulierten Haare der „Hippies“. Offen getragene, meist schulterlange Haare mit weniger Künstlichkeit und mehr Bewegung kennzeichneten die Zeit ab Mitte der 60er Jahre. Im Partnerlook wurden sich die Geschlechter immer ähnlicher - Männer probierten lange Haare aus, Gleichberechtigung auf den Köpfen. Der politische Geist der 68er, der wie man weiß, für Aufbruch, Ausbruch aus gesellschaftlichen Konventionen und Liberalisierung stand, zog schließlich auch an den Frisuren nicht spurlos vorbei. Die jungen Leute von damals hatten meist pazifistische Flausen unter ihren luxusverwöhnten Hippie-Locken. Die Achtziger und Neunziger waren wie in so vielem anderen auch in ihrer Haar-Symbolik konsequent sinnfrei. Letztendlich eben die Postmoderne mit ihrer schrecklichen Unübersichtlichkeit, auch auf den Köpfen. Heutzutage muss man mit den Menschen reden, um ihre politische Gesinnung zu erfahren. Zurück in der Gegenwart „rätseln“ die üblichen Trendforscher, sonst selten um eine Antwort verlegen, was der Auslöser für das Wiedererstarken der Langhaarfrisur sein könnte. Erste Hinweise führten sie jedoch bereits zu „langhaarigen Skateboardern“, die in vielen amerikanischen Teenagerhaushalten eine Vorbildfunktion eingenommen haben sollen. Und auch in anderen Sportarten sähe „es cool aus“, wenn unter den eben nicht gerade so coolen Helmen wenigstens noch ein paar verfilzte Dreadlocks hervorschauen. Amanda Freeman, Vizepräsidentin der New Yorker Trendforschungsgesellschaft Youth Intelligence, fällt abschließend folgender Satz ein: „Jugendliche sind heute in ihren Interessen viel multidimensionaler.“ Die dpa erklärt sekundierend, Freeman meine, „man kann lange Haare haben und trotzdem für den Irakkrieg sein". Nix mit Revolution also, aufatmen angesagt bei den Bewohnern von 1600 Pennsylvania Avenue.