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Die Liebe zum Hass

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#Hoodiejournalismus, #Flausch, #sexistischeKackscheisse, #aufschrei, „dieses Internet", Kaffeetweet, „große Sandalen-Liebe" - wenn ich all das schon höre, muss ich kotzen. Meine Timeline ist verstopft von altklugen Hobby-Senf-Ablassern und Selfie-Bloggern, die außer der Bedienung des Internets meist nichts so richtig gut können, sich aber leider genau deshalb für eine neue kulturelle Elite halten. Verfall der menschlichen Intelligenz, wüte ich, Hirnvermüllung! Durchschaubare Netzrudel-Arschkriecherei,  Vorbeileben an der Essenz, anmaßende Selbstdarstellerei, Rühren im eigenen Brei! So irrelevant! So nehme diese selbsternannten Internetexperten doch endlich keiner mehr ernst!

Die Tatsache, dass ich darüber jetzt einen Ich-Text schreibe, einen metamäßigen Ich-Text im Internet über lauter von mir selbst als angeblich irrelevant betitelten Hirnmüll, ist natürlich extrem ballaballa. Ich bin ein wandelnder, umherirrender Widerspruch, in diesem Moment vielleicht die anmaßendste von allen Ins-Internet-Schreibern. Würde ich einfach meinen Mund halten und meine Finger in diesen Minuten vermeintlich Wichtigeres tippen lassen, hätte ich all meine Probleme gelöst.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Unsere Autorin muss sich eingestehen: Sie liebt es, sich aufzuregen.

Klare Sache also: Ich sollte dringend aufhören, a) Tweets zu lesen, über die ich mich nur aufregen muss, b) mir auf instagram doofe Fotos anzugucken, über die ich mich nur aufregen muss, c) die Profile entfernter Bekannte zu stalken, über die mich nur aufregen muss.

Kann ich aber nicht! Weil es mir nämlich Spaß macht. Die Wahrheit ist, ich liebe es, mich aufzuregen. Eine seltsam verbotene Befriedigung kleidet mich dabei von innen aus, eine herrliche Genugtuung und auch ein Triumphgefühl: Je mehr ich mich darüber aufrege, wie doof und hirnverbrannt ich die anderen finde, desto mehr aale ich mich in der Gewissheit, total anders als sie zu sein und zum Glück nicht dazuzugehören.

Schon als weintrunkener, liebesbekümmerter Teenie stellt man in den ersten hochphilosophischen Diskussionen unter Freunden fest: Nicht unbedingt Hass oder Wut sind das Gegenteil von Liebe, sie sind nur eine andere, eventuell noch viel verkorkst-bedürftigere Form davon. Das wahre Gegenteil von Liebe ist Desinteresse. Und Desinteresse hieße in diesem Fall nichts anderes als: Den "Entfolgen"-Button drücken.

Habe ich natürlich schon oft gemacht. Denn dahinter verbirgt sich ja auch immer wieder eine kleine eitle Genugtuung: Aus meinem Leben, du Idiot! Früher oder später ertappe ich mich aber wieder dabei, wie ich, abends im Bett oder mittags im Bus, beim gedankenverlorenen Rumscrollen wieder auf ein kürzlich entfolgtes Profil klicke und schadenfreudig nachsehe, was für einen Bullshit der oder die schon wieder verzapft hat. Und wie ich mich dann freue, wenn ich eine nigelnagelneue Doofheit finde, über die ich mich ärgern kann! Oh holy Lord of the sweet Ärgernis!

Denn Desinteresse ist langweilig. Desinteresse sorgt nicht für euphorische Herzhüpfer und empörte Adrenalinschübe. Was ist das für ein Leben, ohne Gossip-Faktor, ohne ein paar gepflegte alltägliche Ausraster, ohne ein paar ehrlich unreflektierte Arschloch-Lästereien? Da kann man ja gleich ins Kloster gehen.

Vielleicht ist es also so: Meine pseudoentfolgten Twitterer sind meine heimlichen Klatschmagazine, die ich natürlich nur und ausschließlich und ab und zu mal im Wartezimmer lese. Auf die ich genauso gut verzichten könnte. Aber ohne die halt leider auch alles ein ganz klein bisschen weniger geil ist.

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