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Die Erfindung des Papiers

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Ein Stammesältester sprach im Jahre 3078 zu seinem Volke Ihr Lieben, wie ihr wisst, graben wir an den unterschiedlichsten Stellen der Erde um euren Unmut zu besänftigen. Euren Unmut darüber, dass unsere Götter uns gebieten, die Dinge zu beschauen, zu erleben, in unseren Köpfen zu behalten und sie einander zu erzählen; euren Unmut darüber, dass jedem, der in unsere Welt geboren wird, die drei mittleren Finger an jeder Hand entfernt werden, auf dass er kein Schreibgerät halten könne und schließlich euren Unmut darüber, weshalb die Götter, die uns sonst so wohlgesonnen sind, so harte Strafen und Opfer fordern für den Fall, dass einer – und sei es nur aus Versehen oder im Gedanken – etwas in einen Gegenstand ritzt, das aussieht wie ein Buchstabe oder auch nur ein sprachliches Zeichen, die, wie ihr wisst, schon seit etlichen Generationen in unserer Welt verboten sind. Nun endlich ist es gelungen, das Geschick unserer Ahnen ein wenig mehr ans Licht zu bringen und ihr seid alle aufgerufen, an die heiligen Grabungsstätten zu kommen und euch ein Bild von den Ursprüngen unserer Kultur zu machen, die nicht, wie wir bislang gerne glauben möchten, in einem mildtätigen Schöpfungsakt liegen, sondern in der barmherzigen Errettung einiger weniger, deren Nachfahren wir sind.

Welches Unheil über die Untergegangenen hereingebrochen ist, wissen wir nicht genau. Unsere wenigen Schriftkundigen vermuten aber, dass es der Zorn ihrer eigenen Götter gewesen sein muss, denn es war etwas, an das viele von ihnen glaubten, etwas Sintflutartiges. Die Reste dieser Sintflut ziehen sich in Form riesiger Zellstoffklumpen durch die Erdschichten direkt über den Ausgrabungsorten der zuletzt untergegangenen Kulturen. Wie ermittelt werden konnte, kam das Unheil als unmittelbarer Ausdruck ihres eigenen Lebenswandels über die Menschen und sie waren ihm machtlos ausgeliefert, auch wenn es nicht über Nacht und plötzlich kam, sondern sehr allmählich und eigentlich noch hätte verhindert werden können. Der Durchsatz in den Ausgrabungsstätten muss für die Menschen damals von enormer Bedeutung gewesen sein, denn sie hatten dafür eine Vielzahl von Wörtern, wie für kaum einen anderen Gegenstand ihrer Welt und benutzten sie je nachdem, welche Form er gerade annahm. Dabei ist uns heute noch weitgehend unbekannt, in welcher Form er das Unheil brachte. Unsere Gelehrten streiten darüber sehr heftig, denn an dieser Frage hängt auch ein Teil unseres Selbstverständnisses. Papier wird Macht Aber nun wieder zu den Tatsachen: Wie es aussieht, war einer der allgemeinsten Ausdrücke für den Gegenstand, den die Menschen damals so verehrten, Papier. Hiermit wurde aber eher die Substanz bezeichnet, gewissermaßen der Urstoff. Der Kern des Übels konnte dies aber noch nicht sein, da es in dieser Form keine Macht über die Menschen hatte. Erst die Formen, die die Menschen dem Papier gaben, machten es so schädlich, ja zerstörerisch. Eine beliebte Form war das Buch. Als solches war Papier lange Zeit Mangelware. Es steht nicht fest, wie viel Schaden es anrichten konnte. Aber wir vermuten, dass dieser nicht besonders groß war. Wir wissen davon, dass es des Öfteren wohl Unruhen verursachen konnte, die in leichten Erhebungen oder Gemütsbewegungen einzelner Menschengruppen bestanden. Ebenso konnten durch ihn einzelne Menschen an Einfluss gewinnen oder ihn auch verlieren. Ihr Ansehen konnte steigen oder sinken. Aber zum Schluss hin war der Umgang mit dieser Papiersorte wohl immer mehr Menschen eher anstrengend, weshalb sie den Kontakt so weit als möglich vermieden; wiewohl es aber auch viele gab, die dieses Papiergut sammelten und sorgfältig, ja stolz, in ihren Regalen verwahrten, denn in dieser Form galt der Besitzer einer solchen Sammlung als gelehrt. Man sprach dann auch von belesen. Wesentlich schädlicher, weil sie, wie es scheint, den Menschen sehr viel Zeit rauben konnte und darüber hinaus durch eine enorm hohe und schnelle Mutationsfähigkeit für sehr viel Verwirrung sorgte, war eine Form, die man mit dem allgemeinen Namen des Formulars belegt hat. Es muss eine arge Geißel gewesen sein, die sich die Menschen unter dieser Bezeichnung zugelegt hatten. Es schien den Menschen häufig an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen: Am Selbstwertgefühl. So wirkte es bisweilen persönlichkeitszersetzend, denn es ließ sich nicht weglegen, da es selten Aufschub duldete. Gleichzeitig verbrachte der Mensch aber Stunden mit dieser Form des Papiers, da es sich offensichtlich verschleierte und dem Verständnis des Einzelnen entzog. Und so ist heute sicher, dass Menschen häufig Tage, ja sogar Wochen über den unterschiedlichsten Formularen sitzen mussten und daran wahrscheinlich verzweifelten. Da diese Form so wandelbar war, haben unsere Gelehrten in diesem Zusammenhang auch das mit Abstand größte Vokabular entdecken können, aus dem ich euch hier nur einen Bruchteil wiedergebe: Steuererklärung, Antrag, Überweisungsformular, Bestellschein für Überweisungsformulare, Vordruck, Anmeldung, Erklärung, Registrierungsformular, Kauf- oder Mietvertrag, Abkommen, Auftrag, Registrierung, Quittung usw. usw. Alles auf Papier Und wie wir nun recht zuverlässig wissen, war es der Regelfall, dass es nicht bei einem Formular blieb. Untereinander kommunizierten diese. Es scheint so, als gruppierten sich bestimmte Gruppen von Formularen um gewisse Hauptformulare, die eine kleine Invasion auslösen konnten. So folgte einer Bewerbung eine Zusage oder eine Absage (alles auf Papier). Auf die Zusage folgte eine Registrierung von Wohnort und Bankverbindung, ein Wechsel des Krankenversicherungsstatus, der wiederum eine Verdienstbescheinigung oder eine Anmeldung des Arbeitgebers nach sich ziehen konnte. Es konnte aber auch die Aufforderung einer Beantragung eines polizeilichen Führungszeugnisses folgen sowie der Nachweis einer gesundheitlichen Eignung, was wiederum mit Überweisungen, Gutachten, Rezepten u.a. verbunden sein konnte. Im Einzelnen lassen sich die Formularbewegungen der vergangenen Zivilisationen, die sich auf den Gebrauch der Schrift eingelassen haben, nicht mehr rekonstruieren. Es sind nur noch grobe Verlaufslinien auszumachen, ähnlich den Strömungslinien einer Völkerwanderung, die ja auch mehr eine statistische als eine tatsächliche Nachzeichnung von Bewegungen ist. Diese Möglichkeit ist aber auch nur der sehr merkwürdigen Tatsache zu danken, dass der Durchsatz in den Ausgrabungen von unterschiedlicher Zusammensetzung, man könnte sagen, Qualität war. Es war nämlich das Papier, das zwischen Behörden und sonstigen öffentlichen Verwaltungen oder aus ihnen heraus floss, von wesentlich minderer Qualität als das in wirtschaftlichen oder privaten Zusammenhängen gebräuchliche. Beides nahm häufig sehr getrennte Wege, weshalb wir einige Ströme noch nachzeichnen können. Der letzte Grund, warum dies zu einer sintflutartigen Katastrophe führen musste, bleibt uns jedoch unbekannt, da wir den Mechanismus, auf den das Papier in dieser Form auf den Menschen so zerstörerisch gewirkt hat, nicht im Detail kennen.

Geld, schon seit langem ist dies die am stärksten von uns vertretene These, war eine der mächtigsten Papierformen. Es hatte in dieser Form eine Unzahl zerstörerischer, ja sogar epidemischer Eigenschaften. Ich möchte nur zwei herausgreifen, die illustrieren können, welch Gefährdung von ihm ausgegangen sein muss. Wie wir jetzt wissen, war das Geld ein Meister der Verwandlung und der Verschleierung. Es konnte unterschiedliche Formen annehmen; und dies nicht nur in seiner realen Erscheinungsweise, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Wurde es anfangs von den Menschen erfunden um gewissermaßen einen tauschbaren Gegenwert der eigenen Arbeit darzustellen, trat ihnen das Geld schon bald nach seiner Erfindung entgegen, als wäre es ein selbstverständlicher Teil der Schöpfung und hätte deshalb einen Anspruch auf dementsprechende Wertschätzung. Die Menschen beugten sich diesem Eindruck und verehrten es schon bald mit der Folge, dass es, das ursprünglich ein Werkzeug war, nun um seiner selbst Willen begehrt wurde, da es seinem Besitzer eine gewisse Macht gab. Das Tückische daran war, dass das Geld nur dieses eine Verlockende vermochte. Es war nicht in der Lage, seinem Besitzer einen Sinn zu geben und so brachte es Menschen dazu, für es alles zu tun, ja sogar sich selbst zu verraten und seinen Dienst ganz in des Geldes Vermehrung zu stellen. Man könnte meinen, das Geld wäre eine Art Organismus gewesen, der den Menschen zu seiner Fortpflanzung benötigte und schließlich auch benutzte. Damit war aber noch nicht die einzige Verwandlung seiner Gestalt vollbracht. Später schützte es sich vor der Wut und Grobschlächtigkeit der Menschen, indem es noch einmal seine Gestalt veränderte. Es wurde in gewissem Sinne unsichtbar. Bestand es zunächst noch aus Papier und war an des Menschen Hang zu diesem Stoff gebunden, befreite es sich später und nahm die Form bloßer Informationen über Kontostände an, die man elektronisch speicherte, abrief und veränderte. Gefährlich war es in dieser Form, denn schon ein einziges falsch gesetztes Komma konnte eine Existenz auslöschen, ein versehentlich transferierter Betrag großes Misstrauen stiften usw. Als Geld: Häßlich Die zweite und noch viel zerstörerischere Eigenschaft des Papiers in Gestalt des Geldes war dessen Fähigkeit, Dinge unbedeutend und eigenschaftslos zu machen. So kam es vor, dass sich das Geld vor das Wesen der Dinge stellte und diese für deren Besitzer unsichtbar machte. Ein Blumenstrauß verlor seine ursprüngliche Bedeutung und eine Hand voll Gänseblümchen, die ein Kind aus Dankbarkeit für seine Mutter pflückte, wurde gar lächerlich, wenn sich das Geld seiner annahm und zum Gradmesser für dessen Wert wurde. Manche Menschen fingen sogar an, sich von Dingen zu ernähren, die weder schmeckten, noch gut für sie waren, nur weil an ihnen viel Geld klebte. Wieder andere behängten sich mit überaus abstoßender und hässlicher, ja unzweckmäßiger Kleidung, wenn nur viel Geld in ihr steckte. Und über allem, meine Brüder, verlernten die Menschen dabei etwas, das bei uns als eines der obersten Gesetze gilt, die wir unseren Kindern mit allem Nachdruck und mit aller Ernsthaftigkeit vermitteln: Sie redeten nicht mehr im Geiste der Wahrheit miteinander, weil sie sonst sich hätten eingestehen müssen, dass sie sich dem Geld schon zu sehr unterworfen haben. Und noch ein Letztes liegt mir hier am Herzen, das ich euch nicht vorenthalten möchte, das aber auch eine der übelsten Formen war, die das Papier annehmen konnte: Die Werbung! Und dass ich es hier erwähne, hat damit zu tun, dass sie so eng mit dem Geld in Verbindung stand und eigentlich ein Kind desselben war. Sie trieb die Menschen zum Geld. Sie verfolgte die Menschen auf Schritt und Tritt. Sie verführte sie, indem sie sich von ihrer schönsten Seite zeigte und den Menschen ins Gesicht schrie, was sie alles mit ihrem Geld machen könnten und warum sie das glücklich machen würde! Sie war schamlos und verbarg sich nicht. Fluten ihrer selbst bevölkerten Briefkästen und Zeitschriften. Auf überdimensionalen Plakaten trat sie den Menschen entgegen und wirkte unbarmherzig auf ihr Gemüt. Dabei arbeitete sie heimtückisch mit dem Geld zusammen, da auch sie den Blick für die Welt hinter den Plakaten verstellte und die Menschen lehrte, die Welt nicht wahrhaftig, sondern plakativ zu betrachten. Dabei war sie effektiver noch als das Geld, denn sie fraß den Menschen von innen auf und schaffte Platz für das Bedürfnis, dem Geld zu dienen. So nehmt diese wenigen Beispiele nun als Lehre über unsere Vergangenheit, meine Lieben, und gehet an die Stätten der Ausgrabungen, an die Reste der Zivilisation unserer Vorfahren! Schauet mit Ehrfurcht und mit Bedacht, was von den Orten übrig geblieben ist, an denen einst das Papier floss und sein Unwesen trieb, an denen es wucherte und sich vermehrte, an denen es seine Entscheidung fällte, sich dem Menschen entgegenzustellen und ihn zu zerstören! Bilder: Amac Garbe (amac)

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