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Der Staat lügt

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Mariana Rivera ist außer sich. “Lügner”, sagt sie. “Heuchler. Schweine! Sie erklären die Studenten für tot, dabei geht die Suche weiter.” Der offiziellen Erklärung, dass die vermissten Studenten umgebracht, verbrannt und ihre Asche in einen Fluss gestreut worden sein soll, wie sie der mexikanische Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam verbreitet, glaubt Mariana kein Wort. “Unsere entführten Freunde leben noch”, sagt Mariana wütend. Davon ist sie überzeugt.

Rivera studiert Philosophie in Mexiko Stadt. Ihre Wut treibt sie aber hinaus aus der Bibliothek, wo sie eigentlich an ihrer Masterarbeit schreiben müsste. Seit vier Monaten ist die Studentin mit den schwarzen Locken und auffallend geschminkten Lippen fast jeden Tag auf der Straße. Mariana verteilt Infomaterial auf dem Campus und hilft, die Aktivisten ihrer Fakultät zu organisieren: ein Protestmarsch folgt auf eine Sitzblockade, ein Orgatreffen mit Studenten anderer Universitäten auf spontane Demos vor Bürogebäuden der Regierungspartei PRI.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Mariana Rivera (rechts) glaubt kein Wort von dem, was die Regierung behauptet.

Der Grund für Marianas Wut: Am 26. September waren etwa 100 Lehramtsstudenten der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa auf dem Weg aus ihrem kleinen Dorf nach Iguala, der nächst größeren Stadt im Bundesstaat Guerrero, verschleppt worden. Am Abend gerieten sie in eine Polizeisperre. „Wir versuchten noch, den Bus zu wenden. Doch da begannen sie schon auf uns zu schießen, ohne irgendeinen Anlass“, erinnert sich Miguel Nepomuceño. Der bullige Mann um die 20 ist selbst Student an der Escuela de Ayotzinapa.

José Luis Abarca, der von der Mafiabande Guerreros Unidos ins Rathaus von Iguala gehievte Bürgermeister, wollte die linken Studenten nicht in seiner Stadt haben. Die Aktivisten hatten im Jahr zuvor schon mal das Rathaus besetzt, um gegen die Ermordung eines Genossen zu demonstrieren. Und Maria de los Angeles Pineda, die Frau des Bürgermeisters und Schwester eines Drogenbosses, hatte am Abend eine große Wahlkampfrede geplant. Also wies der Bürgermeister die Polizei an, die Studenten zu stoppen.

Was daraufhin geschah, darüber gehen die Versionen auseinander. Fest steht: Sechs Menschen starben. Und 43 Studenten verschwanden in der Nacht. Die städtische Polizei soll sie unter dem Vorwand, sie seien Mitglieder der Verbrecherorganisation Los Rojos, an deren Gegner, die Guerreros Unidos, übergeben haben. Bandenmitglieder transportierten die jungen Männer wohl in Lastwagen und Viehtransportern ab. Viele müssen bereits während der Fahrt erstickt sein. Die anderen wurden wohl erschossen, bevor sie auf einer Müllkippe verbrannt worden sein sollen. Soweit geht die offizielle Version der Behörden, mit denen Mexiko das Studenten-Massaker jetzt zu den Akten legen will.

Doch an der offiziellen Rekonstruktion der Nacht gibt es Zweifel. Mariana und ihre Mitstreiter sind sich sicher: Die Studenten aus Ayotzinapa werden gefangen gehalten, um die Protestbewegung unter Druck zu setzen. „Auch die Eltern glauben fest daran, dass ihre Kinder noch am Leben sind“, sagt Mariana.

Den Behörden traut die Philosophiestudentin nicht. „Zu viele Ermittlungspannen, zu viele falsche Aussagen.“ Mariana glaubt auch nicht, dass laut Ermittlungsbericht drei Anhänger einer Drogenbande die Leichen verbrannt und die Asche in einen Fluss gestreut haben sollen. Sie zweifelt grundsätzlich alles an, was die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto verkündet. Die Fragen, die sich gerade viele in Mexiko stellen, klingen aber durchdacht: Wie soll es möglich sein, dass drei Männer 43 Leichen in nur einer Nacht komplett verbrennen können? Dass sie die heiße Asche anschließend ausgerechnet in Plastiktüten zum Fluss gebracht haben sollen, wenn ein Feuer doch mehrere Stunden mit mehr als 900 Grad glühen muss, um Knochen zu Asche zu zersetzen?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Informationsveranstaltung an der Universidad Nacional.

„Fue el estado!“ „Es war der Staat!“ Seit mehr als einem Monat hallen die Rufe schon durch Mexiko. Weil es Polizisten waren, die die Studenten in Iguala entführten. Und weil die Regierung schon lange gewusst haben soll, dass die Sicherheitskräfte und der Bürgermeister in dem Städtchen in Guerrero gemeinsame Sache mit Drogenbanden machten.

„Das alles ist ein Ablenkungsmanöver“, folgert Mariana Rivera. „Die Regierung will, dass wir aufgeben, dass wir denken, wir können sowieso nichts mehr ändern, wenn wir jetzt auf die Straße gehen.“ Und selbst wenn längst nicht mehr alle glauben, dass die verschleppten Studenten noch am Leben sind, ändert sich gerade etwas in Mexiko. Die Verzweiflung, die Apathie, die Angst, die viele Mexikaner über Jahre zurückhielt, ihre Empörung hinauszuschreien, während ihr Land immer weiter ins Chaos stürzte, sie schlägt in Wut um.




Text: florian-meyer-hawranek - Bilder: privat

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