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Der Sommer der Rührung
Als erstes ist es mir bei meinen Freunden und Kollegen aufgefallen. Neulich schickte eine Freundin den Link zu dem Handyvideo eines Syrers, der mit einem Bus im Ruhrgebiet ankam und draußen auf der Straße standen freundliche Menschen mit „Willkommen“-Plakaten. „Ich muss heulen“, schrieb die Freundin. Dann fand ein Kollege auf einmal die Umarmungs-Sequenzen im Musikvideo zu „Mit offenen Armen“ rührend. Ein Freund, der dafür bekannt ist, immer genau die Meinung zu vertreten, die gerade nicht der Mainstream ist (oder zumindest kompliziert-kritische Gedanken dazu zu formulieren), postete Bilder des Marschs der Flüchtlinge aus Ungarn und schrieb dazu, er wisse jetzt wirklich nicht mehr, was er noch sagen solle. Und alle, alle sprachen über die Ankunft der Flüchtlinge, wurden gefühlig, wenn sie die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof sahen, und ziemlich viele gingen hin, um zu helfen oder um zu applaudieren. Um sich rühren zu lassen. Meine ganze Facebook-Timeline und alle Gespräche, die ich zu dem Thema führe, sind auf einmal voller Rührung.
Meine Freunde und Kollegen (und ich auch) sind eigentlich sehr ironische und kritische Menschen. Rührselige Momente sind cheesy, euphorische Menschen sind naiv, man kann und darf über alles einen Witz machen und Gefühle wie Rührung oder Fassungslosigkeit kommen uns nicht ins Haus beziehungsweise in die Bäuche. Aber jetzt ist das auf einmal anders. Denn jetzt ist es zwar gerade wieder etwas kühler geworden in Deutschland, aber hinter uns liegt der Sommer der Rührung.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Willkommen im Sommer der Rührung
Im Sommer 2015 kam die Flüchtlingskrise und brach – viel stärker als alle Krisen, die wir bisher erlebt haben – in unseren Alltag ein. Da war auf einmal etwas, mit sehr viel Welt und sehr viel Bedeutung darin, das in unseren Städten und Straßen auftauchte und bei dem es nicht um böse Banken oder Naturkatastrophen ging. Etwas, das nicht abstrakt und weit weg war. Sondern ganz nah. Da waren auf einmal diese vielen Menschen und zwischen ihnen und uns keine Distanz mehr. Distanz ist aber die wichtigste Voraussetzung für diese Geisteshaltung, die man uns so oft nachsagt, die angeblich unsere ganze Generation prägt: die Ironie. Es könnte sein, dass das Zeitalter der Ironie nun endgültig vorbei ist, verdrängt von der Rührung. Und ich glaube: Das ist gut.
Das wird jetzt erst mal keiner glauben. Denn Rührung hat einen schlechten Ruf. Darüber hat kürzlich erst ein Kollege des SZ-Magazins geschrieben. Im Internet, schrieb er, ließen wir uns von süßen Katzenvideos rühren – aber dadurch ginge das echte Mitgefühl verloren, für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer, Erdbebenopfer in Nepal und die von Boko Haram verschleppten Mädchen. Weil Rührung nämlich ein privates Gefühl sei, das auf einen selbst zurückverweist. Die negativen Nachrichten der Welt hingegen lösten "empathischen Stress" aus und der führte dazu, dass wir sie lieber ignorieren, den Fernseher ausschalten, wegschauen – obwohl wir eigentlich vom empathischen Stress zum Mitgefühl finden sollten.
Das Wunder dieses Sommers ist, dass sich Rührung und Mitgefühl nicht mehr im Weg stehen
Klar, Rührung ist ein einfaches, wenig komplexes Gefühl. So einfach, dass es nicht mal einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat (im Gegensatz zu zum Beispiel Angst, Trauer oder Freude – die haben alle einen). Rührung ist, wenn alle Schleusen aufgehen und der Mensch gleichzeitig lacht und weint. Rührung ist das Ende des Films „Während du schliefst“ oder wenn jemand dir sagt, dass er dich vermisst. Rührung ist also eigentlich da, wo es harmlos ist, wo der Ernst der Welt nicht hinreicht, Rührung ist Naivität. „Ein Plädoyer für den Mut, sich wieder auf die Welt einzulassen“, hieß es deswegen auch im Teaser des SZ-Magazin-Textes. Weg mit der Rührung, her mit dem Mitgefühl.
Das Wunder dieses Sommers ist aber, dass sich Rührung und Mitgefühl nicht mehr im Weg stehen: Wir haben zu einer welthaltigen Rührung gefunden. Zu einer intellektuellen Naivität, weil wir ein einfaches Gefühl fühlen, aber wissen, wie viel dahintersteckt. Wie komplex all das ist, was bis hierher, zu unserer Rührung, geführt hat. Und das ist der erste Schritt von der ironischen Distanz zurück in die Welt – und hin zum Mitgefühl. Weil wir uns nicht mehr nur von niedlichen Katzen im Internet rühren lassen. Sondern von jemandem, der uns am Münchner Hauptbahnhof gegenübersteht. Und dann auf einmal von allem, auch von kitschigen Umarmungsszenen in Musikvideos. Als hätte jemand unseren weichen Kern freigelegt.
Und weil das jetzt sicher viele, die diesen Text lesen, einwenden werden, sage ich es am besten gleich noch dazu: Nein, eigentlich bringt es dem kleinen syrischen Mädchen überhaupt nichts, wenn ihr am Bahnhof ein Stofftier in die Hand gedrückt wird und sie lächelt und sich dann alle vor lauter Rührung überschlagen. Das zu glauben wäre wirklich naiv. Das Mädchen hat dann noch nichts zu Essen, kein Zuhause, sie spricht dann noch kein Deutsch und gegen rassistische Hetze kann sie sich mit Plüsch auch nicht verteidigen. Und nein, jubelnde Münchner am Hauptbahnhof verhindern keine brennenden Flüchtlingsheime. Und ja, manches ist reine Heuchelei. Und ja, die Probleme fangen jetzt erst an: Verteilung, Versorgung, Integration und der Kampf gegen rechtes Gedankengut. Aber: Dass das kleine syrische Mädchen lächelt, wenn sie das Stofftier bekommt, ist besser, als dass sie keins bekommt und nicht lächelt. Und das kleine lächelnde Mädchen, die jubelnden Menschen, die gerührten Menschen, der friedliche Marsch über die ungarische Autobahn mit der EU-Flagge vorneweg, kitschige Wörter wie „Herz“ und „Gänsehaut“, das alles zusammen zeigt, dass eine positive Grundstimmung grade größer zu sein scheint als das, was schon mal beinahe die Ironie abgelöst hätte – das Wutbürgertum, die Empörung, die Resignation. Und dieses Positive darf man jetzt nicht kaputt reden. Genauso, wie man sich darauf nicht ausruhen darf.
Das ist jetzt kein guter Vergleich, aber über den sehr heißen Sommer der Fußballweltmeisterschaft 2006 sagen wir heute, die Welt sei zu Gast bei Freunden gewesen. Hoffentlich können wir später mal sagen, in diesem heißen Sommer der Rührung 2015 sei die Welt bei Freunden zuhause gewesen. Und vielleicht können wir noch später unseren Enkeln mal erzählen: Wir waren immer so ironisch. Und dann kam der Sommer 2015 und wir wurden gerührt. Und dann hat sich was gerührt.