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Der Riss in der Seele

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Vom Heroin des Trailerparks

Hannah Modigh, 33, zeigt auf dem FotoDoks ihre Serie "Hillbilly Heroine, Honey". Sie lebt in Schweden.

jetzt.de: Was ist die Geschichte hinter deinen Fotos?

Hannah Modigh: Für die Bilder habe ich drei Monate in St. Charles, einer Kleinstadt nahe den Appalachen in Virginia, verbracht. Die Stadt lebte lange von den Kohleminen, von denen haben mittlerweile aber fast alle zugemacht. Alle die mir von der Stadt erzählten meinten, ich solle dort auf keinen Fall hin. Die Menschen wären arm, drogenabhängig und kriminell. Ich bin trotzdem hingefahren und habe Fotos gemacht.

Was von den Vorurteilen hat sich bewahrheitet?

Tatsächlich ist es so, dass viele Menschen dort Drogen nehmen. Anfangs bekamen die Minenarbeiter ein Oxycontin gegen ihre Rückenschmerzen. Mittlerweile wird das Schmerzmittel allerdings als Droge missbraucht. Daher kommt auch der Titel der Fotoserie: Die Leute von außerhalb nennen das Schmerzmittel "Hillbilly Heroine" (Anm. der R.: "Hinterwäldler-Heroin"). Wenn man die Einwohner dann aber besser kennen lernt, merkt man schnell, wie nett die eigentlich sind. Zu mir haben sie immer gesagt "How can I help you, honey?". Deshalb habe ich das "Honey" noch dazugetan, um diesen Konflikt aufzuzeigen.

 

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Wie hast du die Stimmung in St. Charles erlebt?

Natürlich war es oft niederschmetternd. Viele Jugendlichen haben keine Jobs, ihre Eltern auch nicht. Trotzdem will dort niemand wegziehen, weil sie dort zum Beispiel seit Generationen ein Haus haben und es woanders teurer wäre. Dementsprechend leben die Menschen dort einer Art Vakuum - was ich fotografiert habe, hat auch vor 20 Jahren schon so ausgesehen. Andererseits weiß ich, dass viele der Menschen mit denen ich gesprochen habe, schlimme Dinge erlebt haben. Manche Jugendlichen dort wurden von ihren Eltern missbraucht, von anderen sitzen die Eltern im Gefängnis oder sie haben schon immer bei den Großeltern gelebt. Das macht etwas mit dir. Viele sind einfach nur froh, am Leben zu sein.

 

Gab es denn auch hoffnungsvolle Momente?

Wenige. Die Jugendlichen wollen aber auch nicht für ihre Situation bemitleidet werden. Sie sind einfach oft ganz taub, haben keine Träume. Dieses ganze "vom Tellerwäscher zum Millionär"-Gerede in den USA gilt für sie nicht. Der Riss in der Seele ist viel schlimmer, als der Riss in der Wand. Vielleicht ist es das, was ich mit den Bildern sagen wollte.

 

Wie haben die Anwohner später auf deine Bilder reagiert?

Eigentlich gut. Mir ging es aber auch in der ganzen Bildsprache darum, ihr Leben nicht zu bewerten oder auszustellen. Es sollten eher Momentaufnahmen sein. Nur manche von der Kirche waren wegen des Titels mit dem Wort "Hillbilly" sauer.  

 

Geschichten von verlorenen Freundschaften

 

Andrea Gjestvang, 32, zeigt auf dem Foto Doks ihre Bilderreihe "One day in history". Für die Fotos bekam sie dieses Jahr den Sony World Photography Awards Photographer verliehen. Andrea kommt ursprünglich aus Norwegen, lebt und arbeitet zur Zeit aber in Berlin.

 

jetzt.de: Was ist die Geschichte hinter deinen Fotos?

Andrea Gjestvang: Die Bilder zeigen die Opfer der Anschläge von Utøya. Ich dachte bereits kurz nach den Anschlägen, dass es wichtig wird, nicht nur über den Täter sondern auch über die Opfer zu sprechen. Allerdings war ich unsicher, ob es wirklich richtig ist sie dafür zu fotografieren.

 

Wie haben die Jugendlichen denn auf deine Anfrage reagiert?

Die meisten haben "ja" gesagt, das hat mich sehr beeindruckt. Wenn jemand nicht wollte, habe ich das aber auch direkt akzeptiert und nicht versucht, irgendjemanden zu überreden. Als dann der Prozess gegen den Täter, Anders Breivik, anlief, hat sich die Stimmung auch nochmal ein wenig geändert. Die Jugendlichen standen unter medialer Beobachtung und dadurch sehr unter Druck. Gleichzeitig wurde Breivik der meistgehassteste Mensch Norwegens. Umso mutiger fand ich es von den Jugendlichen, sich trotzdem von mir fotografieren zu lassen und die eigenen Verletzungen auch zu zeigen.

 

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Man vergisst bei der Berichterstattung über die vielen Toten ja auch ein wenig, dass manche Menschen nur schwer verletzt überlebt haben...

Ja. Da war zum Beispiel Cecile. Ihr fehlt seit dem Attentat ein Arm. Beim Fotografieren hatte sie erst eine Jacke an. Ich hab dann irgendwann gefragt, ob sie die ausziehen könnte und es war direkt okay für sie. Vor Utøya war sie eher eine Außenseiterin, sehr verschlossen. Bei dem Attentat wurde ihr dann dreimal in den Arm und die Schulter geschossen. Eine Kugel ist ihrem Weisheitszahn stecken geblieben, nur so hat sie überlebt. Seitdem hat ihr Leben zwar immer noch Höhen und Tiefen aber sie sagt, dass sie jetzt sehr froh ist noch zu leben und es deshalb besser für sie ist, als vorher. Das fand ich beeindruckend.

 

Was genau wolltest du mit den Fotos zeigen?

Den Alltag der Jugendlichen. Ich wollte zeigen, dass das was die Jugendlichen dort auf der Insel erlebt haben sie natürlich weiter verfolgt. Aber trotzdem haben viele es geschafft, auch weiterzugehen und eine Art Alltag wiederzufinden. Es ist aber auch eine Serie über verlorene Freundschaften - schließlich hat jeder der Jugendlichen auf Utøya jemanden verloren.

 

Würdest du sagen, der 22. Juli 2011 ist für Norwegen so etwas wie der 11. September für die USA gewesen?

Natürlich kann man das nicht eins zu eins vergleichen. Aber es ist schon so, dass alle wissen, wo sie an dem Tag waren und wenn man darüber spricht auch immer alle erzählen, wie sie das erlebt haben. Viele waren danach mit einem Schock unterwegs

 

Und wo warst du an dem Tag?

Im Büro. Ich war Bildredakteurin bei einer norwegischen Zeitung die in der Nähe des Osloer Regierungsviertels ist. Auf einmal hat es auch bei uns im Büro gescheppert. Das waren die Bomben, die im Bürogebäude des Ministerpräsidenten hochgingen.

 

Noch mehr Fotos von Andrea Gjestvang gibt es beim SZ-Magazin.

 

Schluss mit Selbstdarstellung

 

Anne Morgenstern, 37, zeigt in München ihre Reihe "Straight Flush". Sie kommt aus Leipzig, lebt und arbeitet aber in Zürich.

 

jetzt.de: Was ist die Geschichte hinter deinen Fotos?

Anne Morgenstern: Die Foto-Serie "Straight Flush" ist Teil einer Reihe, die ich für ein Forschungsprojekt der Kunsthochschule Zürich gemacht habe. Dabei ging es auch um die Selbstdarstellung in jugendlichen Subkulturen, mit einem Schwerpunkt auf Jugendliche aus dem ehemaligen Jugoslawien. Von denen leben viele in der Schweiz, allerdings haben sie auch Probleme, Lehrstellen zu finden und akzeptiert zu werden. Ich habe diese Jugendliche also auf der Straße angesprochen und mit ihnen Zeit verbracht. Dabei sind die Bilder entstanden.

 

Warum heißt deine Bilderserie "Straight Flush"?

Im Rahmen des Projekts war ich mit den Jugendlichen auch in einer Spielhölle in einem Schweizer Vorort. Dort haben sie dann gepokert. Straight Flush" bedeutet ja, eine ganze Reihe von einer Farbe zu haben. Das fand ich für die Portraitreihe ganz passend. Ich habe aber auch noch mehr Bilder mit den Jugendlichen gemacht in anderen Situationen. Die werden nur nicht auf dem Foto Doks gezeigt.

 

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Du kommst den Jugendlichen in den Portraits sehr nahe, zeigst nahezu die Poren. Warum?

Mir fiel auf, dass Jugendliche sich heute immer so stark selbstdarstellen. Sei es auf sozialen Netzwerken, aber auch in der Art, wie sie sich kleiden, frisieren und posieren. Mir ist schon bei früheren Arbeiten aufgefallen, dass Menschen sich im Ausland auf einmal noch stärker über ihre Nationalität definieren, als im normalen Leben. Bei dieser Gruppe war das auch so. Das wollte ich entmystifizieren. Zeigen, wie sie sich stereotypisch inszenieren.

 

Wie haben die Jugendlichen auf die Bilder reagiert?

Die finden sie ganz furchtbar. Ich habe sie ja so gezeigt, wie sie sich selber nie öffentlich zeigen wollen würden.

 

 

Die Ausstellung "Stranger World" mit den Bildern der interviewten Fotografinnen ist noch bis zum 1. Dezember im Münchner Stadtmuseum zu sehen.

 

 

Text: charlotte-haunhorst - Fotos: Hannah Modigh, Andrea Gjestvang, Anne Morgenstern

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