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Der Held in der Hängematte
Matthias ist der Held meiner Kindheit, naturgemäß. Denn er ist mein großer Bruder, fünf Jahre älter als ich. Wenn mich Matthias in der Grundschule vom Schwimmtraining abgeholt hat, haben meine Freundinnen getuschelt und ihn angehimmelt. Weil meine Eltern viel arbeiten mussten, hat er nachmittags oft auf mich aufgepasst. Mir Schokopfannkuchen gebraten, wenn ich auf das vernünftige Essen keine Lust hatte.
Ich wollte immer so sein wie er. Ich wollte aufs gleiche Gymnasium gehen, dieselben Bands hören, am liebsten hätte ich seine Klamotten angezogen. Bis zum meinem Abitur hat das ganz gut geklappt. Jetzt, vier Jahre später, könnte unser Leben kaum unterschiedlicher sein. Ich lebe in einem kleinen Vorort von München, er an einem Fluss in Kolumbien. Ich arbeite bei einer Zeitung und studiere, er betreibt ein kleines Hostel für Rucksacktouristen und hat Mangobäume im Garten.
Auch als ich älter wurde, war Matthias der Mensch, mit dem ich am liebsten über mein Leben gesprochen habe. Wie es gerade ist und wie es einmal sein wird. Heute leben wir auf zwei Kontinenten, in zwei verschiedenen Zeitzonen. Das macht es viel schwieriger, intensiven Kontakt zu halten. Seitdem er nach Kolumbien gezogen ist, haben wir uns einmal gesehen. Weil er mit seinem Rucksackhotel nicht viel Geld verdient, dass er in Flüge stecken kann, und weil ich in den Semesterferien arbeite, um mir mein Studium zu finanzieren.
Ich kenne sein Leben in Kolumbien nur aus knappen Erzählungen und Bildern. Ich kann mir seinen Alltag vorstellen. Wie sein Alltag wirklich ist und wie es ihm geht in diesem Leben, das auf Bildern so traumhaft aussieht, weiß ich nicht. Deshalb habe ich ihm einen Brief geschrieben (nächste Seite).
Hallo großer Bruder,
wahrscheinlich liegst du gerade in der Hängematte auf der Veranda. Und schaust in den Garten, durch den wir schon einmal mit der Webcam spaziert sind. Mit den vielen Schmetterlingen, mit den Orangen, den Blumen und den Mangos.
Alles was ich von deinem Leben weiß, kenne ich von Bildern. Deinen Alltag kann ich mir nur ausmalen. Ich weiß, wie das kleine Holzhaus aussieht, in dem du heute Morgen aufgewacht bist. Bestimmt war es schön, neben deiner Freundin Claudia im Bett zu liegen. Sie macht dich glücklich, das höre ich, wenn du von ihr erzählst. Aber wahrscheinlich fröstelst du morgens immer ein bisschen, denn zwischen den Holzstämmen deiner Hauswand sind ganz schöne Lücken. Da pfeift es bestimmt herein.
Du hast nie viel Wert auf Klamotten gelegt. Vielleicht schnappst du dir diesen weiten Wollpulli, den du so liebst, und stapfst durch den Garten zum Gästehaus. Frühstück machen. Putzen. Mittagessen kochen. Putzen. Mit Claudia in der Hängematte liegen.
Wie sieht der Himmel über dir aus? Ist er oft blau in Kolumbien? Strahlend blau? Ewiger Frühling, so beschreibst du es. Nie heiße Sommertage, an denen die Hosen an den Beinen kleben. Nie richtige Kälte. Deswegen kannst du ja so oft Mangos ernten. Und in dem Fluss schwimmen gehen, der sich an deinem Haus entlang schlängelt.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, so nah mit den Gästen zusammenzuwohnen. Mit all den Menschen, die Holzohrringe und Ethnorucksäcke tragen und dich immer wieder auf ihren Bildern verlinken. Stört es dich, dass sie sich immer wieder in dein Leben drängen? Eine Woche bleiben, mit dir Zeit verbringen wollen, danach wieder verschwinden? Allerdings warst Du immer hungrig auf Abwechslung. Viel hungriger als ich.
Vielleicht ist das der Grund, warum unsere Leben heute so unterschiedlich sind. Ich weiß noch, wie du mitten in der Nacht angerufen hast, mir gesagt hast, dass du in Kolumbien bleiben wirst. Nicht nach Hause fliegen wirst, wie es eigentlich geplant war. Ich habe dich nie stärker bewundert. Du warst wieder mein großer Bruder. Der in die Welt hinausgeht, immer zuversichtlich ist. Der Mensch, für den Zukunft nicht wie bei mir auch mit vielen Ängsten verbunden ist, sondern vor allem mit der Chance auf Glück.
In dieser Nacht habe ich aber zum ersten Mal gespürt, dass ich dir nicht mehr folgen kann. Nicht mehr folgen möchte. Ich liebe meine Wurzeln zu sehr. Nicht einen Ort, sondern Menschen und Gefühle, die ich schon jetzt in meinem Leben habe. Nie habe ich das deutlicher gefühlt als bei dem Telefonat: Weil du eine meiner Wurzeln warst, die in diesem Moment abgeschnitten wurde. Manchmal spüre ich jeden Kilometer zwischen uns. Du bist glücklich in Kolumbien. Und darauf kommt es an. Aber bestimmt ist es schwer, mit so viel Unsicherheit zu leben. Ohne Wurzeln. Oft auch mit wenig Geld. Macht es dir Angst, dein Leben in Deutschland für Claudia und Mangos aufgegeben zu haben?
Du fehlst. Aber das weißt du.
Deine kleine Schwester.
Auf der nächsten Seite liest du den Antwortbrief.
Hallo kleine Schwester,
ich liege in der Hängematte. Mit Blick auf grüne Täler, den Fluss und meine zwei Hunde. Sorgen habe ich trotzdem. Gerade sind ein paar Gäste da, mit denen ich nicht nah zusammenwohnen möchte. Die sind sich in ihrer Art immer ähnlich: bekifft, auf der Suche nach anderen Sachen und müffelig. Dann wird es viel zu eng hier. Schließlich sitzen sie nachmittags im Gartenstuhl neben meiner Hängematte. Wollen mit Claudia und mir reden, mit uns zu Abend essen. In einem kleinen Haus in der kolumbianischen Einöde kann man sich schlecht ausweichen.
Aber sie zahlen ihre paar Euro und ich brauche das Geld. Manchmal kommen genügend Gäste, manchmal so wenige, dass Claudia und ich kaum genügend Geld für die Miete und das Essen verdienen. Obwohl ich mich für einen sehr entspannten Menschen gehalten habe, merke ich: Ein bisschen Sicherheit muss man sich erkaufen, um glücklich sein zu können. Sonst verrennen sich die Gedanken.
Fehlende Sicherheit ist auch der Preis, so weit entfernt von seinen Wurzeln zu leben. Am meisten vermisse ich es, mit euch am Esstisch zu sitzen und euch von meinem Tag zu erzählen. Mir fehlt die Normalität. Manchmal wünschte ich mir, dass ich all meinen Freiheitsdrang eintauschen könnte. Er kostet mich so viel. Aber vor vier Jahren habe ich gespürt, dass ich nicht anders kann. Mir wurde Deutschland zu klein, die Menschen zu engstirnig. Die Zeit prasselte an mir vorbei, die Wochen, die Monate. Das Fernweh war immer da. Dann kam ich nach Kolumbien und habe es endlich nicht mehr gespürt. Ich passe hierher. In die Gemächlichkeit, in meinen Garten mit den Mangobäumen. Es ist das Tempo, das mir gut tut. Hier bin sogar ich den anderen Menschen oft zu schnell oder zu unruhig, wenn ich morgens ins Nachbarhaus schlappe, putze und koche.
Kolumbien mit all seinen Orangen, Mangos und Flüssen müsste näher an Deutschland liegen. Damit ich nicht mehr so viel verpasse von eurem Leben. Ich würde dir gerade gerne einen Schokopfannkuchen braten. Aber das weißt du.
Dein großer Bruder
Text: dorothea-wagner - Foto: ginger / photocase.com