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"Das Ziel ist die Wiese"

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Es ist ein bisschen wie der zweite Mauerfall. „Der Zaun muss weg, der Zaun muss weg“ skandiert die Menge und rüttelt am Maschendraht, der den stillgelegten Flughafen Tempelhof in Berlin umzäunt. Pinke Fahnen wehen, Demonstranten in neonfarbenen Klamotten tanzen demonstrativ vor den Polizisten, die schwarz Vermummten schauen grimmig über die Ränder ihrer Masken. Es ist der Samstag des vergangenen Wochenendes, 18 Uhr, der Höhepunkt des Versuchs mehrerer Gruppierungen, Tempelhof zu besetzen. Hanfschwaden und Luftblasen liegen in der Luft, aber auch Adrenalin. Als Clowns verkleidete Demonstranten peitschen mit Trommeln die Stimmung an. Dann ist es plötzlich still. Eine Ruhe, gespannt wie eine Gitarrensaite. Würde einer "Los" schreien, würde sie reissen. Dann würden sie alle rennen. Clowns, schwarze Kapuzenpullis, Studenten, Technodruffis und Eltern mit Kindern gegen die blauen, grünen und schwarzen Polizeieinheiten. Doch niemand ruft. Die Trommeln setzen ein, jemand bewirft einen Polizisten mit Konfetti, ein anderer ruft: „Wir wollen nicht warten, auf den Gemüsegarten“ und „Eins, zwei, drei - gebt die Wiese frei“. Die Menge stimmt dankbar ein. Der kritische Moment ist überstanden. Das Warten vor dem Zaun geht in die nächste Runde. Etwa 5000 Berliner sind am Wochenende zum stillgelegten Flughafen Tempelhof gekommen. Das abgesperrte Gelände soll symbolisch besetzt werden – aus Protest gegen die Stadtpolitik und die Bebauungspläne. Und, wie so oft in Berlin: einfach aus Protest. Tempelhof ist eine der größten Wiesen Europas. Seit der Schließung im Herbst 2008 liegt die etwa 500 Fußballfelder große Fläche brach. Der Berliner Senat will das Gelände in einen Wohnkomplex verwandeln, mit Eigentumswohnungen und Flächen für „Kreativwirtschaft“. Viele Berliner würden dort aber lieber eine Grünfläche sehen, die sie nach ihrem Willen gestalten können. Einen konkreten Gegenentwurf gibt es zwar noch nicht, nur lose Ideen wie Grill- und Bauwagenplätze oder ein „interkultureller Garten“. Vielmehr treibt die Berliner die Angst auf die Straßen, dass die Bebauung das Viertel aufwertet und die Mieten steigen lässt. Die Gentrifizierung, die schon im Prenzlauer Berg, Teilen von Friedrichshain und Kreuzberg angekommen ist, würde dann auch Neukölln befallen – eine der letzten Berliner Bastionen, wo Künstler, Studenten und Ureinwohner recht zentral aber dennoch vergleichsweise billig wohnen können.

Guerilla Gardening: Viele Demonstranten protestierten mit Pflanzen in der Hand und warfen Blumensamen über den Zaun. Für den Fall einer erfolgreichen Besetzung sollte ein symbolischer Garten im ehemaligen Flughafengelände der erste Schritt zu einer neuen Nutzung sein. Die Menge, die um das Gelände zusammengekommen ist, besteht aber nicht nur aus Neuköllnern. Es sind vor allem junge Menschen da, eine Mischung aus bunten Partydemonstranten und Spaßprotestgruppen wie der "Hedonistischen Internationalen" und der Clownsarmee, aber auch schwarz Bekleideten, die auf Stress aus sind. Auf der Hasenheide neben dem Gelände herrscht eher Afterhour- als Gewaltstimmung. Seichter Elektro fließt aus den Boxen, ein Paar tanzen, ein Paar spielen Volleyball und Indiaka. Soziologiestudent Andy, 22, liegt auf einer Picknickdecke im Gras. Er trägt das offizielle schwarz-grüne T-Shirt mit der Aufschrift „Have you ever squatted an Airport?“ Einen Kapuzenpulli hat er auch dabei, für alle Fälle. Gern würde er sich an der Besetzung beteiligen, hat aber „keinen Bock, verprügelt zu werden.“ 1800 Polizisten bewachen an diesem Tag das Gelände, auch Spezialkräfte sind dabei, Wasserwerfer, Hubschrauber. Einheiten aus anderen Bundesländern wurden angefordert. Und sie sind nervös. Als am Vormittag ein Dutzend Clowns mit Möhren und Geodreiecken am Zaun sägten, wurden sie eingekesselt und unsanft in Polizeiwägen getragen. Andys Mutter Christine, 52, findet das „unverhältnismäßig“. Sie kennt Tempelhof noch aus Zeiten, in denen dort Schafe grasten und ist heute mitgekommen, weil sie möchte, dass Tempelhof die „grüne Lunge“ Berlins bleibt. Und weil das Wetter schön ist. „Lasst die jungen Leute doch ein bisschen Protest machen“, sagt sie. „Ist ja bloß ein leeres Gelände. Was sollen sie da schon tun?“

Demonstrantennachwuchs. Und in der Tat: Auch wenn die Stimmung manchmal überzukippen droht, bleibt das Gros der Protestaktionen friedlich. „Das Ziel ist die Wiese, nicht die Polizei“, lautet die offizielle Devise und die meisten scheinen sich daran zu halten. Festnahmen und gebrochene Nasen gibt es trotzdem. Ein paar Mal hageln auch Steine auf die Einsatzkräfte und einmal zieht ein Polizist seine Dienstwaffe. „Aber Randalierer gibt es immer“, sagt Frank, 25, einer der Veranstalter. „Wir haben sie nicht eingeladen. Die schaden uns mehr, als sie etwas bewegen.“ Der Besetzungsversuch sollte möglichst friedlich ablaufen und wurde auch öffentlich angemeldet - nicht wie sonst heimlich in der Szene geplant. „Hätte uns die Stadt auf das Gelände gelassen, wir hätten da einen symbolischen Garten gepflanzt und wären wieder gegangen.“ So musste aber eine aufwendige Aktion her, eine „der durchdachtesten der letzten zehn Jahre“ - mit Newsticker, Pressearbeit und offiziellen T-Shirts. Gelohnt habe es sich, sagt Frank. Egal, ob man es aufs Gelände schaffe. „Wir haben die Menschen auf unserer Seite.“

Die Clownsverkleidung wird bei Demonstranten immer populärer: Einer wird festgenommen und in den Mannschaftswagen getragen. Gegen 22 Uhr gehen die meisten nach Hause. Die Polizei bleibt. Die Massenbesetzung wird als gescheitert erklärt. Um 03.14 Uhr in der Nacht im Newsticker eine Meldung ein: „Na endlich, zwei Menschen und 1 Bier haben Tempelhof besetzt! Mehr Bier und Menschen benötigt!“

Text: wlada-kolosowa - Fotos: Christian Mutter

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