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Das Netzphantom
Der Mann ist so um die dreißig, vielleicht auch älter, mit dunklen Haaren und Halbglatze. Er hat große Ohren, eine auffallend schmale Oberlippe und dicke Augenbrauen, die über der Nase zusammenwachsen. Sein Bild geistert seit ein paar Tagen durchs Internet, durch Twitterfeeds und Blogposts.
Es ist ein Bild mit einer grusligen Geschichte: Im Januar 2006 hat die Patientin eines bekannten New Yorker Therapeuten den Mann gemalt und erklärt, er begegne ihr immer wieder in ihren Träumen und gebe ihr nützliche Ratschläge für ihr Leben – ohne, dass sie ihn jemals wirklich getroffen habe. Der Psychologe stellt fest, dass noch weitere Patienten regelmäßig von dem Unbekannten träumen, obwohl sie ihn nicht kennen. Er verschickt die Zeichnung an Kollegen in aller Welt – mit einem schier unfassbaren Ergebnis: Überall, von Los Angeles über Teheran und Peking bis nach Berlin, ist das Phantom schon in Träumen aufgetaucht. So steht es zumindest auf der Website, die den Internet-Hype noch verstärkt. Dort wird jeder, der ebenfalls von dem geheimnisvollen Fremden träumt oder ihn gar kennt, dazu aufgerufen, eine E-Mail zu schicken oder sich eine Art Wanted-Plakat in der jeweiligen Landessprache herunterzuladen und zu verteilen. Außerdem werden verschiedene psychologische Theorien vorgestellt, auf denen das Traumphänomen basieren könnte. So besagt die „Archetype Theory“, dass das Gesicht des Mannes im Unterbewusstsein eines jeden Menschen verankert sei und in Stresssituationen hervortrete. Die „Dream Imitation Theory“ geht davon aus, dass Leute beginnen, von dem Mann zu träumen, weil sie gelesen haben, dass andere es tun. Welche dieser Theorien zutreffen könnte, wird nun weltweit im Netz diskutiert. Zumindest für die „Dream Imitation Theory“ finden sich inzwischen schon zahlreiche Anhänger – tatsächlich scheinen viele jetzt von dem Netzphantom bis in ihre Träume verfolgt zu werden. Andere User hingegen sind hellwach. Sie fanden bereits heraus, dass die Domain thisman.org von Andrea Natella registriert wurde, einem Italiener, der Kreativdirektor der Werbeagentur guerrigliamarketing.it ist und sich vor allem mit Jugendkulturen und neuen Kommunikationsmedien beschäftigt. Seine Firma hat bereits mehrere virale Marketing-Aktionen durchgeführt. Dass This Man nicht wirklich existiert, sondern nur ein weiterer Coup des Italieners ist, ist also inzwischen klar. Trotzdem geistert die Geschichte munter weiter durchs World Wide Web. Noch weiß niemand, ob thisman.org bloß ein ungewöhnliches Psychologieexperiment ist oder tatsächlich etwas bewerben soll. So lange freuen sich die Blogger und Twitterer einfach, dass sie ihren Abonnenten damit einen kalten Schauer über den Rücken jagen können. Nicht umsonst ist bald wieder Halloween.