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Das Alphabet der Live-Literatur (für München)
Applaus „Spoken Word“ ist die Genrebezeichnung für Texte, deren Bestimmung nicht die Veröffentlichung in Buchform, sondern die Präsentation vor Publikum ist. Auf Poetry-Slams wird per Applaus über den besten Auftritt des Abends abgestimmt. Bylanzky und Patzak An den Stimmen von Ko Bylanzky und Rayl Patzak kommt in München niemand vorbei, der Live-Literatur hören möchte. Die zwei Schulfreunde mit den schönsten Künstlernamen der Stadt moderieren und organisieren nicht nur seit vierzehn Jahren Europas größten Poetry-Slam im Substanz. Insgesamt 180 Live-Literatur Veranstaltungen im Jahr bestreiten die beiden als Gastgeber. Café Gap Eine Lesereihe unterscheidet sich von der Lesebühne dadurch, dass bei jeder Show andere Autoren die Bühne betreten. Eine der etabliertesten Lesereihen ist die speak&spin genannte Veranstaltung im Café Gap (Goethestraße 34). Organisator Daniel Jaakov Kühn sagt, er möchte sich von dem „Entertainment-Charakter“ vieler Poetry-Slams abgrenzen. Seine Bühne soll sich jeden zweiten Montag im Monat in eine Art Startrampe für junge Autoren verwandeln. Am Samstag feiert „Speak&Spin“ sein zehnjähriges Jubiläum. Damals Im Jahre 1995 holte der Radiojournalist Karl Bruckmaier den Poetry-Slam aus den USA nach München. Seine „Literaturslam“ genannte Veranstaltung scheiterte nach nur einem Jahr. Ko Bylanzky und Rayl Patzak übernahmen das Ruder. Zuerst schafften sie das Wasserglas auf der Bühne ab und verbannten Stühle und Tische aus dem Raum. Auf ihrem Slam lassen sie lokale Leser gegen die Großen des nationalen und internationalen Slam-Zirkus antreten. Bis zu 500 Zuschauer drängen seitdem jeden Monat ins Substanz (Ruppertstraße 28). Extreme Auftritte Was wären Live-Lesungen ohne Publikumsbeschimpfungen und Skandale? Daniel Jaakov Kühn erinnert sich noch an den Auftritt eines „Speak& Spin“-Lesers vor sieben Jahren. Der Mann nannte sich onREACT. Im hellen Trenchcoat stürmte er mit Plastik-Maschinengewehr bewaffnet auf die Bühne und schrie in die Menge: „Gebt mir euren Hass.“ Frauenquote Die ist auf Münchner Spoken-Word-Veranstaltungen auch nicht höher als überall sonst in der Republik, nämlich ziemlich niedrig. Nur 30 Prozent der Auftretenden sind weiblich. Geldverdienen „Es geht uns nicht ums Geld. Es geht ums Machen,“ sagt Daniel Jaakov Kühn. Bei fünf Euro Eintritt pro Person verdient er sich als „Speak&Spin“-Veranstalter keine goldene Nase. Vor allem wenn man bedenkt, dass die Autoren nicht vom Applaus allein leben, sondern immerhin rund 100 Euro pro Auftritt erhalten. Herzchirurgen „Verwunschene Herzchirurgen“ gehören neben „Wüstenautos, Stadionrock, Schweinkram, Welterklärungen und Entenhausen“ zu den Themenschwerpunkten der Lesebühne „Westend ist Kiez“. Jeden ersten Samstag im Monat treffen sich die Herren Felix Bonke, Volker Keidel, Sacha Storz, Alex Burkhard, Fabian Siegismus im Stragula (Bergmannstr. 66) und lesen Live-Geschichten. Einer von ihnen, Felix Bonke, ist im echten Leben tatsächlich Arzt. Igitt Besonders in den Anfangsjahren hörte man sie auf jeder Lesung: pornographische Texte. „Pimmel, Porno, Wichsen. Das sind eben die Realitäten des Lebens“, sagt Daniel Jaakov Kühn. Einer, der sie in allerAusführlichkeit ausbreitet ist der Münchner Tscheche Jaromir Konecny. Jaromir gewinnt damit Slams am laufenden Band und ist seit Jahren Rekord-Champion beim Slam im Substanz. Auch Buchverträge hat Jaromir mittlerweile. Sein neuestes Werk heißt: „Fifi poppt den Elch.“
Jenseits Ein Publikumsrenner ist die Show „Poetry! Dead or Alive“ im Volkstheater (Briennerstraße 50). Die vier erfolgreichsten Slamer des Jahres treten gegen Dichter aus dem Jenseits an, die von Schauspielern verkörpert werden. Die Idee dazu hatten Ko Bylanzky und Rayl Patzak vor sieben Jahren. Sie wurde längst von allen größeren Theatern dieses Landes kopiert. Am 29. Oktober findet das Original im Volkstheater statt. Kiezmeisterschaft Fünf Minuten Zeit für einen Text. Anschließend vergibt eine Publikumsjury Noten zwischen eins und zehn. Das ist das Konzept der Kiezmeisterschaft, ein sympathischer und recht familiärer Poetry-Slam im Stragula im Westend. Lyrik-Kabinett Die Reihe „Poetry in Motion“ im Lyrik-Kabinett (Amalienstr. 83) ist eine weitere Erfindung von Rayl Patzak. Dabei vertont er einmal im Monat den Vortrag der auftretenden Autoren live mit Musik. Mitmachen Deef Pirmasens ist der Blogger, der Helene Hegemann des Ideenklaus überführte. Weil er seitdem zu einem über Münchens Grenzen hinaus bekannten Web-Promi geworden ist, muss er die Reihe „Multimediale Lesung“ in der Niederlassung (Buttermelcherstraße 6) derzeit unterbrechen. Zu Themen wie „Träume, Triebe, Trash“ lud er junge Autoren ein und hinterlegte deren Vorträge mit Musik und Visuals. Die nächste multimediale Lesung soll im Dezember stattfinden. Autoren mit durchaus weihnachtskritischen Texten werden aktuell gesucht. Auch VJs können sich gerne bei deef(at)gmx.de melden. Nachwuchs Der „Spoken Word“ Nachwuchs wird an der Schauburg (Franz-Joseph-Straße 47) ausgebildet. Im November starten dort die kostenlosen Slam-Workshops für Schüler. Alte Hasen wie die Performance-Poetin Pauline Füg geben dort ihr Wissen über Ideensuche, Bühnenpräsenz und Lampenfieberbekämpfung an slaminteressierte Jugendliche weiter. Opferlamm Da sich der erste Leser auf der Bühne immer besonders schwer damit tut, die Gunst des noch nüchternen Publikums zu gewinnen, gibt es auf manchen Poetry Slams ein so genanntes Opferlamm. Bei dem Slam in Gröbenzell übernimmt diese Rolle Moderatorin Carmen Wegge, indem sie mit einem eigenen Text den Abend eröffnet. PR Vom urbanen Glanz einer Live-Literatur-Veranstaltung schneidet sich der Autohersteller BMW gerne etwas ab. Am 21. Oktober präsentiert er seinen Kunden einen „Wortspiel“ genannten Poetry-Slam in der BMW-Welt. Quatsch Manch Gedanke, den man auf Lesebühnen so hört, hätte das Hirn, aus dem er stammt, wohl besser nicht durch den Mund verlassen. In den USA, wo sie vor mehr als zwanzig Jahren den Poetry-Slam erfunden haben, gilt in solchen Fällen folgende Weisheit: „If you don’t unterstand the poem, feel it.“ Rum und Ehre Die 50 Euro Siegprämie, die der Sieger der Kiezmeisterschaft einsacken kann, sind die Ausnahme. Der Gewinner eines Poetry-Slams erhält meist nur Ruhm, Ehre und Alkohol. Beim Substanz-Slam eine Flasche „Ron Varadero“-Rum aus Kuba. Science Slam Zwölf Minuten Vortragszeit hatten die Teilnehmer bei Münchens erstem Science Slam im August, um die Inhalte ihrer aktuellen Forschungen dem Publikum auf populärwissenschaftliche Weise verständlich zu machen. Organisiert und eingeladen hatte das Max-Planck-Institut für Physik. „Physiker, werdet Dichter!“, sagt auch Münchens bekanntester dichtender Physiker Georg Eggers, alias Grög. „Wo denken Sie hin?“ heißt sein aktuelles Soloprogramm. Team PauL ist die Abkürzung von „Poesie aus Leidenschaft“ und der Name von Münchens erfolgreichstem Poetry-Slam Team. Christian „Bumillo“ Bumeder, Heiner Lange und Philipp Scharrenberg gewannen letztes Jahr den Team-Wettbewerb bei den Deutschen Slam Meisterschaften in Düsseldorf. Seitdem touren sie mit ihrem Sprech- und Worttheater durch ganz Deutschland und versuchen sich recht erfolgreich auf Kleinkunstbühnen zu etablieren. Umland Die Spoken Word Szene kriecht langsam, aber sicher aus ihrem großstädtischen Untergrund-Umfeld hinaus ins Münchner Umland. Seit ein paar Jahren gibt es in Gröbenzell, Freising, Gauting und ab November auch in Dachau einen monatlich stattfindenden Poetry-Slam. Vereinsheim Der Tatort unter den Münchner Live-Lesungen: Im Vereinsheim (Occamstraße 8) treffen sich jeden Sonntagabend die Autoren der Lesebühne „Schwabinger Schaumschläger“ und bringen die Geschichte der vergangenen Woche auf den Punkt. Jaromir Konecny ist eines ihrer Mitglieder. Wortküsse Ein Verlag, der sich „WortKuss“ nennt, klingt vielversprechend. Wie sich die von ihm seit Januar organisierten Lesungen so anhören, lässt sich das nächste Mal am 23. Oktober herausfinden, wenn es im Münchner Literaturkeller (Jägerwirtstr. 4) um das Thema „Erotik“ geht. Xochil Die Berliner Performance Poetin Xochil Schütz ist eine von 400 Lesern, die in den letzten zehn Jahren bei der „Speak&Spin“ Lesereihe im Café Gap aufgetreten sind. Ihre Texte sind nachzulesen in der Slam-Anthologie des Münchner Yedermann Verlags. Yedermann Verlag Der Yedermann Verlag wurde zeitgleich mit der Lesereihe „Speak&Spin“ gegründet. Verleger Oliver Brauer machte sich einen Namen als er 2001 als einer der ersten in Deutschland die schon erwähnte Slam-Anthologie veröffentlichte. Heute verlegt Yedermann allerdings kaum noch Spoken-Word Autoren. Die nämlich veröffentlichen ihre Werke ungern auf Papier, sondern lieber als Hörbuch. Zugabe Das Münchner Publikum gilt als leserfreundlich. Niemals würde es einen Autor mit Buh-Rufen von der Bühne jagen. Um als Zugabe mit den Worten des Schüttel-Poeten Lasse Samström zu sprechen, der am Samstag einer der auftretenden Gäste beim „Speak&Spin“-Jubiläum sein wird: „Die ohne Schimmer schone immer.“