Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Bitte möglichst billig

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Dieser Text wird zur Zeit auf "Ihre SZ" diskutiert. Zum Mitdiskutieren geht's hier entlang. Zwölf Monate sind eine lange Zeit. Zu lange, um sie einfach zu verlieren. Möglicherweise passiert Max, Mitte 20, genau das. Im Sommer erhielt der Wirtschaftsingenieurstudent eine Zusage für ein Praktikum und die Betreuung seiner Abschlussarbeit in einem Volkswagen-Standort in Deutschland: Ein Jahr lang erst im Praktikum das Unternehmen kennenlernen, anschließend die Abschlussarbeit mit Praxisbezug schreiben, so ist das im Ingenieursstudium üblich. Der Autokonzern VW ist ein Traumarbeitgeber für Ingenieure. Das gilt auch für Max. Als er im Herbst sein Praktikum begann, war er zuversichtlich: VW ist ein Name, der sich gut im Lebenslauf macht. Wer fast ein Jahr im Konzern verbracht hat, hat gute Chancen, irgendwann fest einzusteigen.
Die Freude hielt nicht einmal einen Tag.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



An seinem ersten Arbeitstag habe ihm die Personalreferentin erklärt, sagt Max, dass er – trotz der mündlichen Vereinbarung – seine Abschlussarbeit nicht mehr bei VW schreiben könne. „Sofern die Anfertigung der Arbeit im Konzern als freiwillig für einen Studenten gewertet wird, ist diese mit dem Mindestlohn zu vergüten“, wurde ihm gesagt. Indirekt bedeutet das: Diesen Mindestlohn will man Bacheloranden und Masteranden lieber nicht zahlen. Max bekommt aktuell 723 Euro im Monat, bei 35 Arbeitsstunden in der Woche. Mit dem Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde müsste er etwa 1200 Euro verdienen.  Max heißt in Wirklichkeit anders. Wie alle Praktikanten, die in diesem Text vorkommen, möchte er seinen Namen nicht in den Medien lesen. Er würde sonst vielleicht nie wieder irgendwo einen Job bekommen. Wer öffentlich macht, dass ein Unternehmen, das mit „hoher Wertschätzung“ der wissenschaftlichen Arbeit von Bacheloranden und Masteranden, einem „hervorragenden Umfeld“ für Abschlussarbeiten sowie intensiver fachlicher und persönlicher Betreuung wirbt, ihm „wegen des Mindestlohns“ eine zugesagte Abschlussarbeit verweigert, der outet sich schon vor Beginn seiner Karriere als illoyal und macht sich keine Freunde. Nicht bei VW. Nicht in der Branche. Vermutlich nirgendwo in der Arbeitswelt. Es fällt schwer zu glauben, dass es einem Unternehmen wie VW tatsächlich um die Differenz zwischen 723 und etwa 1200 Euro geht – bei weltweit mehr als 500.000 Mitarbeitern (PDF) und knapp 200 Milliarden Euro Jahresumsatz. Es sieht aus, als würde der Widerstand gegen das ungeliebte Mindestlohngesetz auf Kosten der Studenten ausgetragen. Bislang wurden Bacheloranden und Masteranden, die drei bis fünf Monate in Unternehmen ihre Abschlussarbeiten schreiben und vorher dort ein Praktikum absolviert haben, wie Praktikanten bezahlt – also in der Regel nicht mit dem Mindestlohn. Ab dem 1. Januar 2015 steht diesen Praktikanten der Mindestlohn zu. Von der Regelung ausgeschlossen sind nur Pflichtpraktika im Studium oder in der Ausbildung sowie freiwillige Praktika von höchstens drei Monaten während Ausbildung oder Studium. Nach dem Studienabschluss oder bei längeren Praktika steht der Mindestlohn allen zu – außer, man erlernt noch einmal einen neuen Beruf. Max‘ Abschlussarbeit muss nicht notwendigerweise in einem Unternehmen geschrieben werden, so steht es in der Studienordnung. In vielen Studiengängen gilt jedoch die ungeschriebene Regel, diese wirtschaftsnah in einem Unternehmen anzufertigen: Für Ingenieure zum Beispiel ist diese Zeit nach der theoretischen Ausbildung an der Uni eine wichtige Chance, das Gelernte in der Praxis anzuwenden. Auf die Bitte der Personalabteilung fragte Max bei seiner Uni nach einer Bestätigung, dass die Erstellung der Abschlussarbeit zwingend in einem Unternehmen erfolgen müsse, weil man auf diese Weise den Mindestlohn umgehen könne. „Das wurde abgelehnt mit der Begründung, dass ein solcher Beschluss in der Studienordnung festgeschrieben sein müsste, und dass dies gegen das freie individuelle Studieren verstoßen würde“, sagt Max. Es klingt wie ein Vorwurf. Dabei sind die Unis nicht verantwortlich dafür, dass Max‘ und viele weitere Abschlussarbeiten in Gefahr sind. 

„Ich war seit meiner Einstellung jede Woche einmal in der Personalabteilung von VW um nachzufragen“, sagt Max am Telefon. „Ich muss abwarten, was passiert“. Nach mehreren Nachfragen erklärte ein Sprecher von VW, dass man sich nicht zu Einzelfällen äußere. VW beschäftigt Hunderte Praktikanten, Max weiß von etwa zwanzig, die ebenfalls nicht wissen, ob sie ihre Abschlussarbeiten wie vereinbart im Unternehmen schreiben können.

Sollte das Unternehmen die Praktikumsverträge wirklich auflösen und die Zusagen für die Abschlussarbeiten zurücknehmen, hätte das für Max gravierende Konsequenzen. Er müsste sich ein neues Thema für seine Abschlussarbeit und eine neue Stelle bei einem anderen Unternehmen suchen. Ein halbes Jahr hat die Suche dieses Mal gedauert. Wenn er eine Stelle findet, müsste er vermutlich auch dort wieder ein mehrmonatiges Praktikum ableisten, bevor er überhaupt mit der Abschlussarbeit anfangen könnte. Dadurch könnte er also ein ganzes Jahr verlieren und dadurch die Regelstudienzeit überschreiten. Er bekäme kein Bafög mehr und müsste im Lebenslauf rechtfertigen, warum er ein Jahr länger gebraucht hat als andere Bewerber. „Wenn ein Personalchef zwei Bewerbungen vor sich liegen hat und ein Bewerber hat die Regelstudienzeit überschritten - wen wird er wohl einstellen?“, fragt Max. Es klingt bitter. Auch einen Mietvertrag hat er unterschrieben, der bis Sommer 2015 läuft. 

Ähnliche Probleme bei Daimler 

Probleme mit dem Mindestlohn gibt es nicht nur bei VW. Nach Schätzungen der IG Metall dürften deutschlandweit Tausende Abschlussarbeiten in Gefahr sein. In Bremen beim Autohersteller Daimler gab es bis vor einer Woche ähnliche Probleme: Dort hatte von etwa 150 Praktikanten, die dort arbeiten, etwa jeder Dritte die Zusage, dort die Abschlussarbeit schreiben zu können. Unter ihnen ist der Wirtschaftsingenieursstudent Christian, Mitte 20. Ihm wurde die Abschlussarbeit – mündlich, wie das bei Daimler und anderen Firmen üblich ist – zugesagt. Im Sommer begann er sein Praktikum. Kurz darauf hörte er von seinem Bekannten Max, dass „wegen des Mindestlohns“ die Abschlussarbeiten der Praktikanten bei VW in Gefahr seien. Das Gerücht ließ Christian nicht los. Er fragte seinen Vorgesetzten. Der konnte ihm nichts dazu sagen. Er informierte sich über das Mindestlohngesetz, das auch ihm die 8,50 Euro Stundenlohn zubilligt. Schließlich ging er zum Betriebsrat und bekam sogar eine Mail vom 4. August 2014 weitergeleitet (die jetzt.de vorliegt), in der die Führungsebene bei Daimler über die unklare Zukunft von Praktikanten nach der Einführung des Mindestlohns im Januar 2015 informiert wurde. Die Mail in der Länge einer DIN A4-Seite wurde – so die Betriebsrätin Cora Schwittling – im Tagesgeschäft von den Zuständigen wohl übersehen, sodass die Praktikanten nicht beziehungsweise nicht rechtzeitig informiert wurden.  Heute sitzt Christian in einem Konferenzsaal im Gewerkschaftshaus, gegenüber vom Bremer Hauptbahnhof. Er hat die Betriebsrätin Cora Schwittling und zwei Vertreter der Gewerkschaft IG Metall mitgebracht. „Wir haben erst durch Christian von der Problematik erfahren“, sagt Cora Schwittling. „Die Mail vom August hat wohl keiner gelesen, oder wenigstens wahr- oder ernstgenommen. Wir haben am Standort offiziell keinen Praktikantenzuständigen mehr, der Praktikantenprozess wird über das Recruiting-Center in Berlin gesteuert. Hier fühlte sich keiner verantwortlich.“ Christian hatte wochenlang keine Gewissheit, wie es weitergehen sollte. „Ich hatte null Motivation mehr, etwas für den Konzern zu tun“, sagt er und starrt dabei auf den Konferenztisch. Cora Schwittling sieht ihn an und nickt nach jedem Wort. Mehrmals in der Woche fragte Christian im Betriebsrat nach. Sein Betreuer im Konzern schlug ihm schließlich vor, seine Abschlussarbeit als theoretische Arbeit an der Uni zu verfassen, doch dort gibt es nicht genügend Betreuer, um das allen Studenten zu ermöglichen. „Wir Praktikanten leisten auch sehr viel fürs Tagesgeschäft“, sagt Christian. Cora Schwittling nickt wieder. Als er das Problem beim Betriebsrat vortrug, fragte ein Kollege sogar: „Wie sollen wir die Arbeit ab 2015 schaffen, wenn keine Praktikanten mehr da sind?“ Christian erzählte beim Praktikantenstammtisch, der sich ein Mal die Woche trifft, von der Situation und fragte bei den Praktikanten an den anderen Standorten nach. Die Betriebsrätin Cora Schwittling, die sich ehrenamtlich bei der IG Metall engagiert, trug die Situation an die Gewerkschaft weiter, die daraufhin Vertreter zu Daimler schickte. „Wir forderten und fordern ganz klar, dass die Praktikantinnen und Praktikanten ihre zugesicherten Abschlussarbeiten im Unternehmen erstellen können und die Praktikantenverträge an die neuen gesetzlichen Regelungen angepasst werden“, sagt Jan Wilde, Jugendsekretär der IG Metall Bremen. Er befürchtet, dass die Unternehmen die Schuld, dass Studenten ihre Abschlussarbeiten nicht mehr schreiben können, auf den Mindestlohn schieben. Die Studenten würden sogar auf den Mindestlohn verzichten. Das wäre aber nicht richtig. Und ab 2015 sogar gesetzeswidrig. „Bei längeren freiwilligen Praktika gehen wir als Gewerkschaft davon aus, dass es sich nicht um den eigentlichen Zweck eines Praktikums handelt, nämlich etwas zu lernen, sondern darum, Gelerntes anzuwenden. Da sind Praktikanten in die betrieblichen Abläufe eingebunden, da wird eine Arbeitsleistung erbracht“, sagt Wildes Kollegin Stefanie Gebhardt, Gewerkschaftssekretärin bei der IG Metall Bremen. „Und da ist es nur fair, das auch entsprechend zu vergüten. Alles andere ist für uns nicht tolerierbar.“

Es sieht danach aus, als würden die großen Konzerne ein Zeichen gegen das Mindestlohngesetz setzen wollen: Sie sind auf qualifizierten Nachwuchs angewiesen, doch der soll möglichst billig sein. „Das ist ein Boykott eines Ausbildungssystems auf dem Rücken der Schwächsten: der Studierenden“, sagt Jan Wilde. Bei Daimler gab es vergangene Woche einen Durchbruch. Die Forderungen der IG Metall wurden akzeptiert, am Dienstag konnte ein entsprechender erster Vertrag unterzeichnet werden, der den Studierenden den Mindestlohn garantieren soll. „Nach einer kurzen Übergangsphase, in der wir die Situation geprüft haben, bieten wir weiterhin - auch nach dem Mindestlohngesetz ab 1. Januar 2015 - alle Varianten von Pflichtpraktika, freiwilligen Praktika sowie Abschlussarbeiten an“, schrieb die Unternehmenssprecherin für den Bereich Human Resources von Daimler in einer schriftlichen Stellungnahme. Die Zukunft von Max bei VW ist dagegen noch unsicher. In dieser Woche hat er erneut einen Termin in der Personalabteilung. Christians Beispiel gibt ihm Hoffnung. Es zeigt, dass es der richtige Weg ist, den Mindestlohn einzufordern. Und nicht, den Unternehmen zu helfen, ihn zu umgehen.


Update (02.12.2014, 17:30 Uhr):

Am Dienstagabend meldete sich ein Sprecher von VW mit einer zweiten Stellungnahme bei jetzt.de, in der er schreibt: "Selbstverständlich werden wir das Mindestlohngesetz umsetzen und nicht nur im Fall von Abschlussarbeiten Mindestlohn zahlen, sondern auch für Pflichtpraktika und freiwillige Praktika." 

Text: kathrin-hollmer - Illustration: Daniela Rudolf

  • teilen
  • schließen