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Beim Idiotentest

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Die Stimmung in der Runde ist ziemlich genau das Gegenteil von feucht und fröhlich. Wir sind zu siebt. Außer mir sind noch vier Männer und zwei Frauen hier, die Alterspanne reicht von 22 bis 62 Jahren. Wir müssen über unseren Umgang mit dem Alkohol reden. Das gehört zur Vorbereitung auf die medizinisch-psychologische Untersuchung, kurz MPU, umgangssprachlich auch Idiotentest genannt.

Das eigene Trinkverhalten kritisch zu reflektieren, ist ziemlich peinlich. Man wird mit Wahrheiten konfrontiert, die man sonst lieber ausblendet. Eine davon lautet, das nur die wenigsten hier getrunken haben, weil es ihnen gut schmeckte. Stattdessen haben wir Ängste, Ärger und Frust kompensiert. Die anderen sind hier, weil sie betrunken Auto gefahren sind. Ich hingegen saß alkoholisiert auf dem Sattel meines Fahrrads.  

Fast 100 000 MPUs wurden laut Bundesanstalt für Straßenwesen vergangenes Jahr angeordnet. In rund 56 Prozent der Fälle war Trunkenheit im Straßenverkehr der Auslöser. Wie viele davon betrunkene Radfahrer waren, zeigt die Statistik nicht. Doch im gleichen Jahr war diese Gruppe bei jedem vierten schweren Unfall beteiligt, bei dem Alkohol im Spiel war und eine Person zu Schaden kam. Sogar der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC), Lobbyorganisation der Fahrradfreunde, hat deshalb erst vor kurzem gefordert, die Grenze von 1,6 Promille zu senken und betrunkene Radler schon ab 1,1 Promille mit Bußgeldern zu bestrafen.  



Warum ich mich der MPU stellen muss, ist eine blöde Geschichte. Eigentlich war mir klar, dass mein Rad besser nach Hause geschoben hätte. Ich hatte die ganze Nacht mit Freunden gefeiert und reichlich getrunken. Anlässe gab es damals genug: Jemand hatte Geburtstag. Das Semester war zu Ende. Meine Freundin hatte mich knapp eine Woche zuvor verlassen. Als ich mich auf den Heimweg machte, war es bereits hell und ich konnte kaum geradeaus schauen. Weil ich nur noch in mein Bett wollte, bin ich trotzdem auf mein Rad gestiegen. Hätte ich geahnt, dass mich diese Entscheidung knapp 1600 Euro kosten würde, hätte ich mir das wohl anders überlegt.  

Nachdem in ein paar Meter Schlangenlinien gefahren bin, muss ich ein Schlagloch übersehen haben. So genau weiß ich das nicht mehr, nur noch, dass ich mich wenig später auf dem Asphalt wieder gefunden habe. Die Polizeistreife an der Ecke hatte ich nicht gesehen, die Beamten mich dagegen schon. Zunächst ließen sie mich ins Röhrchen pusten (Ergebnis: 0,8 Promille). Dann fuhren sie mich auf das nächste Revier, denn die Atemalkoholkonzentration war ihnen nicht aussagekräftig genug. Das Ergebnis der Blutprobe landete zehn Tage später schriftlich in meinem Briefkasten: 1,9 Promille. Rechtlich gesehen war ich absolut fahruntüchtig. Da ich dennoch aufs Fahrrad gestiegen war, hatte ich eine Straftat begangen. 1,6 Promille ist die Grenze, nach deren Überschreitung man nicht mehr Fahrrad fahren darf.  

Wenig später wurde mir der Strafbefehl zugestellt, rund 500 Euro inklusive der Kosten für Blutprobe und Verwaltung. Dann passierte zwei Jahre lang nichts, bis ich eines morgens mit meinem Auto in eine Radarfalle geriet. Nun fiel der Führerscheinstelle die Trunkenheitsfahrt auf dem Rad wieder ein: Binnen drei Monaten hatte ich ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, ansonsten würde mir die Fahrerlaubnis entzogen. Als betrunkener Radfahrer kam ich damit noch relativ glimpflich weg, denn im Gegensatz zu Autofahrern durfte ich meinen Führerschein bis zum Ablauf der Frist behalten.  

Guter Rat ist sprichwörtlich teuer: Für mein persönliches MPU Vorbereitungsgespräch bezahlte ich 90 Euro. Nur rund 45 Prozent aller Untersuchungskandidaten erhielten ein positives Gutachten, hatte ich zuvor im Netz gelesen. Bei denjenigen, die sich auf die MPU gründlich vorbereiteten, steige die Erfolgsaussicht hingegen auf mehr als 90 Prozent. Gutachter begrüßten Vorbereitung, denn dadurch setzten sich Testkandidaten mit ihrem Trinkverhalten auseinander. Und genau darum geht es bei der MPU, nicht um sonderbare Fangfragen, wie viele landläufige Gerüchte zu erzählen wissen.  

Mein Berater beruhigte mich zunächst: Da ich zum ersten Mal mit Alkohol am Lenker auffällig geworden sei, werde der Gutachter nicht von einer Abhängigkeit ausgehen sondern „nur“ von einer erheblichen Gewöhnung ans Trinken. Darauf folge, dass ich nun ein halbes Jahr kontrollierten Alkoholkonsum nachzuweisen habe. Kontrolliert Trinken, das entspreche maximal zwei Bier an einem Abend in der Woche. Doch den Nachweis über sechs Monate zu erbringen, war nicht einfach. Meine MPU sollte ja bereits in drei Monaten abgeschlossen sein. Mit Hilfe einer Haarprobe konnte sich meinen Konsum in den vergangenen drei Monate überprüfen. Kostenpunkt: 140 Euro. Bis zur MPU musste ich dann noch drei mal beim Hausarzt für jeweils 12,50 Euro Leberwerte nehmen lassen. Außerdem empfahl mir mein Berater noch einen Vorbereitungskurs für knapp 480 Euro.  

Da sitzen wir nun, sieben MPU Kandidaten und eine Verkehrspsychologin um einen runden Tisch herum. Mit geht es ähnlich, wie den meisten hier. Bislang habe ich mein Trinkverhalten nur selten kritisch in Frage gestellt. Im Gegensatz zum Rauchen oder illegalen Drogen wurde Trinken in meinem Umfeld kaum problematisiert. Trinken auf Partys? Normal. Cocktails? Lecker. Auch mal drei Cocktails trinken und danach mit Bier weitermachen? Nichts worauf man jetzt besonders stolz wäre, aber solange man sich keine peinlichen Ausfälle leistet, eigentlich kein Problem. Während meiner Jugend auf dem Land hatte ich bei Sportverein und Freiwilliger Feuerwehr gelernt: Trinken schmeckt und viel Trinken können zeigt, dass einen nichts so schnell umhaut.  

Diese Perspektive verändert sich nun von Sitzung zu Sitzung. Habe ich nicht auch getrunken, um Schüchternheit zu überwinden oder um über Liebeskummer hinweg zu kommen? Das ist Alkoholmissbrauch, sagt die Psychologin. Wer trinkt, um persönliche Defizite zu überwinden, kann schnell abhängig werden. Als akzeptabler Grund zu Trinken gilt eigentlich nur, mal mit einem Glas Sekt mit anderen Leuten auf etwas anzustoßen. Wie realistisch das ist, sei an dieser Stelle dahin gestellt.  

Ich lerne, wie schnell die fast zwei Promille in mein Blut gelangt sind: Etwa dreieinhalb Liter Bier und zwei kleine Wodka Schnäpse muss ich an besagtem Abend intus gehabt haben. Wer kein Alkoholproblem habe, käme aber nie auf die Idee, sich derart zu vergiften, sagt die Psychologin. Gemeinsam arbeiten wir in der Gruppe unsere Alkoholgeschichten und persönlichen Probleme auf. Am Ende entwickeln wir Strategien, wie wir unser Leben so verändern können, dass Alkoholmissbrauch unattraktiv wird für uns.  

So gewappnet stelle ich mich schließlich der Begutachtung. Sie kostet noch einmal 430 Euro. Dem Gutachter präsentiere ich meine neu gewonnen Erkenntnisse und überzeuge ihn damit. Insgesamt habe ich für die betrunkene Fahrradfahrt und ihre Folgen über 1600 Euro bezahlt. Mein Trinkverhalten ist seitdem wieder meine Privatsache. Das Gutachten hat einen prognostischen Charakter von drei Jahren. Solange meint der Gutachter jetzt garantieren zu können, dass ich nicht betrunken ein Fahrzeug führen werde. Die Führerscheinstelle wird die Akte noch zehn Jahre behalten. Falle ich ein weiteres Mal mit Alkoholeinfluss im Straßenverkehr auf, egal ob im Auto, auf dem Fahrrad oder zu Fuß, werden die Konsequenzen deutlich schmerzhafter werden. Dann wäre mein Führerschein für mindestens ein Jahr weg und ich müsste in dieser Zeit eine komplette Abstinenz vom Trinken nachweisen, um jemals wieder ein Auto fahren zu dürfen. Außerdem wäre das Gutachten dann mindestens doppelt so teuer.

Text: andre-pfeifer - Bild: photocase.com/codswollop

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