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Auf den Andamanen ist das Glück auch nicht besser
Als ich meine Plastik-Flipflops das erste Mal auf den feinkörnigen, cremeweißen Sand von Havelock Island setze, will ich sofort barfuss laufen. Im Paradies, denke ich, trägt man keine Schuhe, eigentlich auch keine Kleidung. Ich will nackt sein, wie Adam. Ich will Äpfel essen und Mangos und Kokosnüsse. Doch die Fähranlegestelle grenzt an eine belebte Hüttenansammlung, man könnte sie Dorf nennen. Rikschafahrer und Straßenverkäuferinnen fänden es sicherlich befremdlich, wenn ich mich vor ihnen nackt im Sand suhlte. Ich halte mich zurück. Aber eine Koskusnuss und einen Plastikbeutel voll Mangos kaufe ich mir dennoch an einem der Straßenständchen. Havelock Island ist eine der wenigen für Touristen zugänglichen Inseln der Andamanen, jener Gruppe von 204 Inseln im Golf von Bengalen, die politisch zu Indien gehören, geographisch jedoch weitaus näher an Thailand und Sumatra liegen. Die Nikobaren, einige Kilometer weiter südlich, sind gänzlich dem Tourismus verschlossen. Auf manchen Inseln leben isolierte indigene Völker wie die Sentinelesen, die eine eigene uralte Sprache sprechen und den Hilfshelikopter nach dem Tsunami mit einem Pfeilhagel vertrieben. Unbewohnte Inseln, einzigartige Tier- und Pflanzenarten vervollständigen das Bild der isolierten Idylle. Die britischen Kolonialherren nutzten einige der Inseln bis 1952 als Strafkolonien. Im Dunkel massiver Kerker saßen Langzeithäftlinge, häufig indische Freiheitskämpfer. Wer inhaftiert war, sah das Tageslicht nie wieder. Hier wohnt das Glück. Die kräftige Sonne und der salzige, seichte Wind am Beach 3 fühlen sich überhaupt nicht nach Kerker an. Ich öffne und schließe meine Augen immer wieder. Wie soll ich ihnen glauben? Die Flut lässt mit sanften Wellenschlägen das kristallklare Wasser langsam auf mich zutreiben. Es soll mich verschlingen, denke ich und schäle glückstrunken eine Mango. Alle Zutaten des westlichen Klischees vom Tropenparadies glänzen um die Wette:
Eine überquellende, wild-wuchernde Vegetation mit windschiefen Palmenhainen, leuchtenden Blüten, aufragenden Mammutbäumen und verwunschenen Mangroven. Ungestört tummelt sich die Tierwelt. Kleine Krebse lassen sich im Seitwärtsgang vom Wind über den Strand tragen. Die Korallenriffe strotzen vor bunten Fischschwärmen. Ein gelber Schmetterling landet zögerlich auf meinem Bein. Ich bin froh, dass keine Delfine um unsere Fähre getollt sind, ich hätte geweint. Und zu all dem auch noch die warme Luft - leicht feucht und Salzgeschmack. Das klingt alles mächtig nach kitschigem Klischee, nach Reisebüroposter. Eine Atmosphäre ehrlicher Ursprünglichkeit lässt jedoch alle Einwände verblassen wie die bunten Lackierungen der Fischerboote. Hier ist nichts gemacht. Ich meine, die Schöpfung riechen zu können. Ich befinde: Hier wohnt das Glück.
In Dosen wohnt das Glück
Nachdem ich diese Schwälle der Rührung überstanden habe, gehe ich eine schmale Straße in Richtung Village 5. Der Boden scheint fruchtbar feucht für Brotfrüchte und Bananen, Kürbisse und Kokosnüsse. Geflutete Reisfelder, dahinter Mangobäume mit buschigen Kronen, dann Regenwald. Kühe und Hunde kommen mir entgegen. An einem schmuddeligen Stand im Dorf trinke ich eine Cola.
Der Saftverkäufer in gefälschtem Quiksilver T-Shirt bedient mich grinsend, aber mit verspannten Zügen in seinem baumrindenbraunen Gesicht. Hinter der Theke sehe ich ein verblichenes Poster von einer schrecklich kitschigen Berglandschaft mit rosa Himmel, kleinen Bächen und einem Häuschen im alpinen Stil, vielleicht schweizerisch. Die Cola ist alt und hat kaum Kohlensäure. Auf die Frage, was das Poster abbilde, legt der Verkäufer den Kopf schief und erklärt, das sei Europa, dort sei es wundervoll, ob das nicht mein Heimatland sei? Ich stimme zu, Europa, meine Heimat. Auf der Rückfahrt schenkt mir mein Rikschafahrer zwei Dosen des österreichischen Energydrinks Red Bull. Er verkaufe mir gerne mehr davon, ich solle probieren: „Healthy! Good! Makes happy!“
In Deutschland wohnt das Glück
Abends sitze ich im Eldorado Beach Resort und trinke Kingfisher-Bier mit den wenigen Touristen der Insel. Eddie und Gregory, zwei Russland-Israelis mit verdrogtem, kindlichem Lächeln, umarmen mich mehrfach valiumselig. Adam, polnischer Clubbesitzer aus Posen, Ex-Journalist und Reiseführer, gibt rauchend und zurückgelehnt Reisetipps. Er gibt sich als Kenner. Die Deutschen Markus und Heiko, die in Bangalore Airbus 380-Handbücher basteln lassen, berichten Skurriles vom Arbeiten mit Indern. Raphael, der DJ im Hawaiihemd schnurrt in weichem Hessisch. Ich bin glücklich, ein wenig müde und sage wenig. Bis sich plötzlich Babu vor mich setzt.
Er ist halbwegs betrunken, schlürft aus meinem Bier und beginnt mir zu erzählen. Babu weiß, dass Touristen die Andamanen lieben. Er liebt sie nicht. Einst war er Fremdenführer auf dem indischen Festland, in seiner Heimatstadt Mamallapuram. Als der Tsunami seine Hütte wegspülte und sein Chef ihn feuerte, ging er auf die Andamanen. Hier ist es weniger indisch. Hier ist trotzdem kein guter Ort für ihn, denn er arbeitet von sechs bis 22 Uhr, hat keinen Urlaub, kein Wochenende und selbst wenn er nach Feierabend beim Biertrinken erwischt wird, bestraft ihn sein Vorgesetzter.
Babu ist der „new boy“ in seinem Resort und hat daher keine Rechte. Er wird von den Kollegen gemobbt, weil er gut Englisch spricht und mehr Trinkgeld kassiert. Babu mag weder Inder noch Indien noch die Andamanen. Lieber käme er nach Deutschland, er bekommt aber kein Visum von den korrupten indischen Beamten, solange er nicht einen Haufen Rupies auf die Botschaftstheke legt. Wie die meisten Inder hat er keinen Pass. Zur Zeit versucht er eine Deutsche zu finden, zum Heiraten.
Als ich aufrichtiges Mitleid zeige, komme ich mir blöd vor, europäisch, kolonialherrisch, naiv. Nachdem ich ihm eine Dose Red Bull geschenkt habe, erzähle ich ihm vom nass-kühlen Herbst in Berlin, von Grau und von unfreundlichen, nörgelnden Menschen. Babu ist das egal. Er schwärmt von Sozialhilfe, von deutscher Gerechtigkeit und deutschen Frauen. In Deutschland, sagt Babu schließlich, seien Menschen glücklich. Babu schwankt in Richtung Toilettenhütte. Ich sehe ihn nicht wieder. Nachts träume ich wirr.
Glück hat keine Adresse.
Text: julian-heun - Illustration: Katharina Bitzl