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"Arbeitslosengeld ist besser als Kellnern"

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Anne kaut auf ihrem Kugelschreiber. Sie überlegt lange, bevor sie den ersten Satz des Anschreibens probeweise auf Papier kritzelt. Anne schreibt Bewerbungen, wie andere Uniabsolventen auch. Was sie von den anderen unterscheidet: Die studierte Kulturwirtschaftlerin muss ihre Bewerbungen der Bremer Arbeitsgemeinschaft (ARGE) für Integration und Soziales vorlegen. Seit zwei Monaten ist Anne Hartz-IV-Empfängerin.

Von der Uni direkt in den Beruf – es klingt so schön und ist dann doch so schwierig. Als die Jobsuche länger als erwartet dauerte, stand Anne vor der Entscheidung: Kredit aufnehmen, erneut Geld bei den Eltern pumpen, sich mit Nebenjobs finanzieren – oder Hartz IV beantragen. Gut gefällt ihr der neue Status nicht, die 26-jährige will ihren echten Namen auch besser nicht im Internet lesen. Das blöde Gefühl, der Gesellschaft auf der Tasche zu liegen, kennt Anne trotzdem nicht: „Ich finde es gerechtfertigt, dass ich staatliche Hilfe in Anspruch nehme, da ich schließlich später auch in meinem sozialversicherungspflichtigen Job Steuern zahle,“ sagt sie. Dann überlegt sie kurz: „Für mich ist das Geld ein Vorgriff auf das, was ich später einmal in staatliche Kassen einzahle“. Klar ist: Hochschulabsolventen haben immer noch die besten Chancen auf dem Arbeitsmarkt, aber der Zeitraum zwischen Uniabschluss und erster Arbeitsstelle hat sich in vielen Fällen vergrößert. Inzwischen bekommt Anne den so genannten Regelsatz von 359 Euro, zusätzlich übernimmt die ARGE die Kosten der Krankenkasse und zahlt für sie in die Renten- und Sozialversicherung ein. Finanziell sei das kaum ein Unterschied zu ihrem Studentenbudget, sagt Anne: „Mit 600 Euro musste ich auch während des Studiums klarkommen, das ging für Miete, Krankenversicherung und Essen drauf.“ Und dann: „Klar, große Sprünge kann ich damit nicht machen.“ Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich mittlerweile bekritzelte Blätter mit Formulierungsideen, verschiedene Muster für Anschreiben, die Fotos für den Lebenslauf liegen daneben. „So intensiv hätte ich mich nicht auf die Bewerbungen konzentrieren können, wenn ich nebenbei noch Kellnern, Babysitten und Nachhilfe geben müsste.“ Genau das sind die Argumente, die auch Günther Stienecker vom so genannten Career Center der Bremer Universität nennt. Er empfiehlt seinen Studenten, ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld in jedem Fall zu prüfen: „Die Wartezeit nach dem Uniabschluss sollten Absolventen dazu nutzen, vernünftige Bewerbungen zu schreiben, zu recherchieren und das Internet nach Stellenanzeigen zu durchforsten." Rund 12000 Akademiker unter 30 Jahren erhalten in Deutschland Arbeitslosengeld. Eine sechsmonatige Übergangsphase von der Uni in den Beruf hält Günther Stienecker für normal. Dabei weiß er: „Vor allem mit geisteswissenschaftlichen Abschlüssen ist die Jobsuche meistens sehr zeitaufwändig.“ Esther hat nichts mit Kultur, nichts mit Medien, nichts mit Kunst studiert. Und trotzdem stand sie nach ihrem dualen BWL-Studium ohne Arbeit da: „Zwei Tage vor meiner Abschlussprüfung hat mein Ausbildungsbetrieb mir mitgeteilt, dass sie mich nicht übernehmen.“ Die 26-Jährige hat durch ihre Ausbildung Anspruch auf Arbeitslosengeld I, doch der Regelsatz von 60 Prozent des regulären Verdienstes belief sich bei ihr auf geringe 333 Euro. „Meine Hauptsorge war, wie ich die nächste Miete bezahle. Arbeitslos habe ich mich eigentlich gar nicht gefühlt, ich war mir sicher, dass ich in zwei Monaten irgendwie einen Job bekommen würde.“ Esther musste dann Hartz IV zur Aufstockung beantragen. Kein gutes Gefühl, sagt sie. Direkt nach ihrer Abschlussprüfung zog sie das erste Mal in der ARGE ihre Wartenummer vom Ticketspender: „Das hört sich vielleicht ein bisschen nach Prinzessin an, aber ich fand die Situation in dem Moment unfair. Ich hatte drei Jahre gearbeitet, nebenbei studiert und mir den Arsch aufgerissen, jetzt saß ich da und wartete Stunden, um auf eine Bewilligung der staatlichen Unterstützung zu hoffen.“ Wer in den Kreis der Hartz IV-Empfänger aufgenommen wird, hat am Ende des Monats aber nicht nur Geld vom Staat auf dem Konto, sondern auch Ziele und Auflagen zu erfüllen. Esther musste acht Bewerbungen schreiben und anschließend an einer Weiterbildung teilnehmen. Anne sollte der ARGE jeden Monat zwanzig Bewerbungen vorlegen. Ansonsten drohte die Kürzung ihres Arbeitslosengeldes. „Das war für mich die größte Zeitverschwendung,“ sagt Esther über die Weiterbildungsmaßnahmen. Eine Woche nahm sie am Training teil, das Thema: Soft Skills. „Da musste ich Powerpointpräsentationen mit Wikipedia-Definitionen von ‚Soft Skill’ anschauen, für die ich in der Uni glatt durchgefallen wäre. Gehalten wurde das Seminar von einem Mann, der uns wichtigtuerisch erklärte, dass das Gegenteil von Sympathie die Empathie sei.“ Eine fast noch größere Demütigung als das Ziehen der Wartemarken. Immerhin: Das Soft-Skill-Training war Esthers vorletzter Kontakt mit der ARGE. Im Dezember erhielt sie einen Brief vom Amt. Sie habe gar keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, stand darin. Schließlich wolle Esther berufsbegleitend ihr BWL-Diplom an der staatlichen Uni machen und somit sei das Amt für Ausbildungsförderung für sie zuständig. Komplizierte Sätze, neue Antragsformulare, altbekannter Horror. „Da hatte ich dann aber schon eine neue Stelle gefunden,“ sagt Esther. Alles noch mal gut gegangen. Seit drei Monaten arbeitet sie fest als Eventmanagerin. Anne ist optimistisch: Sie geht davon aus, dass sie in zwei drei Monaten eine Arbeitsstelle gefunden hat, die zu ihrem Studium und ihrem Profil passt: „Ich möchte ja arbeiten, etwas erwirtschaften. Nach dem Studium finanziell abhängig zu sein, ist ein blödes Gefühl“, erzählt sie, während sie Fotos auswählt, die sie auf die Bewerbung kleben möchte. „Der Status des Hartz IV Empfängers ist mir tatsächlich unangenehm, wahrscheinlich auch wegen der Darstellung in den Medien“, sagt Anne. „Ich hoffe jeden Tag, dass die Hartz-IV-Zeit bald vorbeigeht.“

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