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Ab in den Müll
Marktforscher behaupten, Würstchen mit Kartoffelsalat seien der Deutschen liebstes Weihnachtsgericht. Ich bin da anspruchsvoller. Ich werde gebackenen Blumenkohl mit einer Soße aus reifen Tomaten und Lauchzwiebeln als Hauptgang anbieten, ich werde Rosenkohl zu einer Cremesuppe pürieren, einen Wintersalat mit Sprossen, Kresse, Pilzen, Radieschen und dreifarbiger Paprika servieren und als Dessert einen Khaki-Mandarinen-Salat an Maronen-Schokosoße. Ein Festtagsschmaus – der allerdings komplett aus Supermarktmüll besteht.
Je früher der Abend, desto größer die Hemmschwelle. Ich stehe im Hinterhof eines türkischen Supermarkts und tue alles, nur nicht das, weshalb ich eigentlich gekommen bin: im Müllcontainer wühlen. Ich laufe auf und ab, simuliere Telefonate. Ich stehe am Fahrradständer und klimpere mit meinem Schlüsselbund. Jetzt rächt sich die fehlende Mülltaucher-Expertise, denke ich mir. Meine Vorbereitung beschränkte sich auf ein wenig Surfen im Netz. Zum Glück hat mein Handy eine Taschenlampe. Jetzt aber traue ich mich nicht mal den Mülleimer zu öffnen um hineinzuleuchten. Da sind die vielen hell erleuchteten Fenster zum Hof. Und vor allem ist da der Supermarktmitarbeiter, der Ware in den Hinterhof räumt. Ich trolle mich und stelle mich darauf ein, dass das vielleicht nicht der letzte Rückschlag des Abends war. Ich nehme die Bahn nach Hause und hole erstmal mein Rad. So kann ich die Orte des Misserfolgs zumindest schnell wieder verlassen.
Kurz darauf am Hintereingang zur Filiale einer großen Supermarktkette. Ein großer grüner Container sieht vielversprechend aus. Allerdings steht auf dem Parkplatz davor ein Auto mit zwei Typen drin. Ich fühle mich beobachtet und stelle mich hinter einen Baum und mache einen auf SMS-Schreiber (in Wirklichkeit lösche ich alte). Zwischendurch beobachte ich den Container und linse zu dem Auto. Plötzlich steigt der eine aus und läuft auf mich zu. Südländischer Typ, Lederjacke, zusammengekniffene Augen. Noch ehe er mich erreicht hat, ruft er: „Bist du ein Scheißbulle oder was?“ Er wiederholt seine Frage, der Tonfall wird aggressiver. Viel mehr als „nein“ und „keine Sorge“ bringe ich nicht heraus. Er geht direkt über zu einer Tirade über die Deutschen, „die größten Zinker der Welt“, die jeden sofort an die Polizei verpfeifen würden. Als dann auch noch sein Kollege, Typ „Bulldoge in Jogginghosen“, um mich herumzuschleichen beginnt, mache ich ein paar schnelle Schritte zur Seite, schnappe mein Rad und flüchte.
Nächster Versuch: eine Tiefgarage hinter einer anderen Filiale derselben Supermarktkette, einen Stadtteil weiter. Tiefgaragen sind manchmal eine Abkürzung ins Mülltaucherparadies, habe ich mir sagen lassen. Also gehe ich rein - und nach einer Minute enttäuscht am anderen Ende wieder raus. Kein Container. Egal, ich habe ja noch mehr Tricks, die mir Leute erzählt haben, die angeblich Leute kennen, die auch schon mal... Einer geht so: Einfach auf gut Glück an einem Wohnhaus klingeln, rein in den Hausflur und dann in den Hinterhof. Nach ein paar erfolglosen Versuchen gelingt mir das tatsächlich. Allerdings hat die Tür zum Hof keine Klinke. Nächstes Haus. Es raschelt in der Sprechanlage: „Jaaaa?“ – „Ich muss in den zweiten Stock, ich bin da zu Gast.“ – „Aber wenn da niemand aufmacht stehen Sie doch vor der verschlossenen Tür“ sagt die Frau trocken und hat Recht. Ich verschwinde und wechsle beschämt den Stadtteil.
Der Hausmüll hinter einem Discounter gibt nichts her. Dafür sieht der hinter einer Bäckerei zwei Blocks weiter vielversprechend aus – die Metalltonne ist aber ziemlich tief und hat nur eine enge Öffnung. Gut, dass direkt daneben eine Gardinenstange liegt. So lassen sich einige Tüten aus der Tonne angeln. Darin: neun Brötchen, teilweise mit Schoko und Rosinen, alle in Plastik verpackt. Ein Brot liegt einfach so im Müll, ohne Tüte. Ich ramme die Stange in den Laib und kann ihn nach oben befördern. Abgesehen von einer feuchten Stelle und dem Loch ist das Brot super, wie ich beim Frühstück am nächsten Tag feststellen werde.
Ein besonders lukrativer Müllbeutel liegt noch im Container, ist aber zu schwer für die Gardinenstange. Ich klettere auf den Container, die Lampe zwischen die Zähne geklemmt, lege mich bäuchlings hin, stecke die Hände in die Öffnung, robbe hinterher, bis ich mir das Objekt der Begierde greifen kann. Mit einem Rucksack voller Backwaren und einer völlig besudelten und verklebten Jacke radle ich davon.
Jetzt bin ich in Mülltaucher-Laune. Als ich gegen 23 Uhr ein unverschlossenes Müllhäuschen hinter einem Discounter entdecke, gibt’s kein Zögern mehr. Ich klemme die Lampe zwischen die Zähne und mache erstmal Inventur. Schnell ist klar: In den Tonnen, teilweise beschriftet mit den Worten „Kategorie 3. Nicht für den menschlichen Verzehr geeignet“, befindet sich kiloweise genießbares Obst und Gemüse. Vielleicht liegt es an der Euphorie nach dem Fund, vielleicht bin ich inzwischen abgehärtet, jedenfalls nehme ich keinen Müllgeruch mehr wahr. Die Jacke ist eh schon versaut und auch sonst stört nichts meine Wühlarbeiten. Für ein paar besonders gute Fundstücke muss ich mich nach vorn lehnen, was meine Bauchmuskeln nur wenige Sekunden aushalten. Da mein Rucksack längst voll ist, packe ich einen Großteil der Fundstücke in Plastiktüten, die praktischerweise ebenfalls im Supermarktmüll zu finden sind. Die Tragfähigkeit der Tüten und die Statik meines Fahrrads nehmen mir die Entscheidung ab, wie viel ich mitnehmen kann. So lasse ich mehrere Dutzend Bananen, ein paar Blumenkohlköpfe und sogar reife, exotische Khakis in den Tonnen zurück. Dennoch beschleicht mich, als ich mit dem Rad von dannen schaukle, das Gefühl, eine der Mülltaucher-Grundregeln missachtet zu haben: Nimm nur soviel, wie du brauchst.
Trotzdem nehme ich für den Rückweg eine andere Route und mache mich bei einer anderen Bäckerei über den Hausmüll her. Dabei fällt mir noch ein Tipp ein: Interessant ist nur, was schwer ist, denn Lebensmittel haben Gewicht. Bei einer besonders schweren Plastiktüte will ich’s wissen, stochere mit einem Stock durch allerlei Reis- und Nudelreste, bis ich schließlich auf zwei reife rote Paprika – beide mit je einer Mini-Macke – und einen halben Laib geschnittenes Brot in einer Plastiktüte stoße.
Meine allerletzte Station: noch ein Supermarkt. Die Rückseite, also die Müllseite weist zu einem ruhigen Parkplatz. Einige Menschen gehen noch mit ihren Hunden Gassi. Eine Tonne ist verschlossen, eine andere geöffnet. Es ist ein größeres Modell, nur ein paar Zentimeter tief gefüllt. Aber es sieht vielversprechend aus. Ich springe hinein, Gassigeher hin oder her. Zehn Minuten hocke ich in der Tonne und stöbere. Ein Gassigänger kommt vorbei und schenkt mir einen Schokoweihnachtsmann, den er wohl neben einer anderen Tonne gefunden hat. Ich hätte Glück, sagt er, dass der verrückte Russe noch nicht alles abgegrast habe. Der würde mindestens viermal am Tag kommen und Essbares suchen. Ich bedanke mich, wünsche einen geruhsamen Abend und stecke noch ein paar Lebensmittel ein, ehe ich auf dem Fahrrad nach Hause balanciere. Essenmachen.
Text: wendelin-sandkuehler - Foto: giftgruen/photocase.com