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100.000 Affen, Kühe, Junkies und ein Ich

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Das Atmen fällt schwer, der Sand, die Hitze, die Abgase. Alles voll Tucktucks und Rikschas und Autos, am Straßenrand Stände, die schwarz gekochte, verstaubte Bananen verkaufen. Die Atemluft ist ein Dampf, gegen den sich die Lunge wehrt und der einen Pelz auf der Zunge hinterlässt. Wir sind in Indien, dort, wo sein krankes Herz schlägt. Wir sind in Kolkata, Kalkutta, Calcuta, Colcata – wie man will. 15 Millionen Einwohner. In der kleinsten Gasse essen, laufen, liegen, schlafen, streiten, schauen, hungern Menschen, so viele Menschen überall. Man nehme Bangkok, werfe hunderttausend Kühe, Affen und Pferde, Drogenjunkies, jede Menge dürre Rikschafahrer, englische Taxis, Straßenfriseure, mittelalterliche Brunnen, unendlich viele Bettler, Frauen in traditionellen Gewändern mit roten Punkten auf der Stirn und Abermillionen Inder dazu, stelle das ganze auf den Kopf und schüttele es ordentlich durch – dann bekommt man eine Ahnung von dieser Stadt. Wo du auch bist in Kalkutta, du bist nie allein, das Leben quillt aus jeder Nische, und in jedem Straßengraben liegt ein Schicksal, wie man es sich nicht vorstellen kann. Ein Hund, ein Mensch, ein Hund, ein Mensch, eine Kuh im Müll, ein Mensch im Dreck, alles liegt auf der Straße, als wären die braunen Gestalten einfach im Laufen umgefallen und sofort eingeschlafen. Sie liegen da, bis man dem Mensch einen Brocken hinschmeißt, oder dem Hund auf den Schwanz tritt. Unser Weg geht weiter, ob wir mit ihm nach Hause kommen wollen, fragt Pamaluaa. Den jungen Inder haben wir im Flugzeug von Bangkok kennen gelernt. Am Flughafen will er sich am Ausgang noch schnell eine Sim-Karte für sein Handy kaufen, aber dafür braucht man einen Ausweis, einen Vertrag, eine Adresse und was sonst noch alles – es klappt nicht, es wird laut. Schließlich bringen wir alles hinter uns, Jack, ich und Pamaluaa. Jack ist 23, kommt aus England, hat die letzten zwei Jahre in Bangkok gelebt und Englischunterricht gegeben, jetzt will er sechs Monate nach Darjeeling. Wir folgen Pamaluaa zu Fuß. Keine Ahnung wohin. Ein Rikschafahrer rollt die ganze Zeit neben uns her, Pamaluaa sagt ihm, dass wir seine Dienste nicht wollen, ist ihm aber egal. Wir laufen durch Gassen und an kaputten kleinen Häusern vorbei, wo Bauarbeiter ihre Arbeit liegen lassen und uns hinterher schauen. Schließlich fahren wir mit dem Tucktuck zur Metro. Pamaluaa, der Trickbetrüger, netter junger Mann, fängt unsichere Touristen ab, lädt sie zum Essen ein, streut ein Pülverchen ins Wasser, und am Ende ist alles Gepäck weg. So steht’s im Reiseführer. Ich entscheide gleich: Wir gehen mit. Schon sind wir auf dem Weg zu seinem Haus, ratternd und lärmend rast die Metro aus dem Zentrum hinaus, hin zu den Schauplätzen unseres persönlichen Indienfilms. An der Tür erschrecken wir die kleine Schwester, zwei Weiße sagen Hellllllo! Die ganze Familie wohnt in einem großen, einfachen, sauberen Haus. Ich dusche mit dem Wassereimer im Bad, wir reden mit der Cousine und dem Onkel und den ganzen Geschwistern, am Ende macht uns die Mama was zu essen. Es gibt kein Besteck, mit den Händen zu essen, ist gar nicht so einfach! Ich frage mich, ob das Wasser auf dem Tisch mir noch einmal Durchfall bereiten wird, aber es sieht in Ordnung aus, und das Essen schmeckt fantastisch, stark und kräftig nach Curry. Nach dem Essen nimmt uns Pamaluaa wieder mit, er will uns ein Viertel mit Hotels zeigen.

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Die Straßen sind vollvollvoll mit Ständen, Regalen, ausgebreiteten Decken mit Schuhen darauf, und MenschenMenschenMenschen, kaum Ausländer. Rikscha-Chauffeure sind unterwegs, barfuß im Sturmschritt. Am Rand steht ein einsamer Wasserbüffel und grast seelenruhig, auf einem Berg aus Müll. In der nächsten Straße kauern ein Dutzend dürre Gestalten am Boden, sie rammen sich gegenseitig Spritzen in die Adern. Auf dem Rückweg sind sie immer noch da, der eine liegt flach und hat sich nicht mehr gerührt. Etwas weiter rasiert ein kniender Kerl einen anderen mit Klinge und Schaum, daneben sitzt ein dicker Mann auf einem Hocker und lässt sich die Haare schneiden. Um die Brunnen eine Ansammlung von halbnackten Indern, die sich einseifen oder ihre Kleider waschen, zwei müssen die manuelle Pumpe rauf und runter drücken. Es sieht aus, als ob sie auf einem dieser komischen Schienenfahrzeuge stünden und pumpten, um endlich voranzukommen, doch sie bewegen sich keinen Zentimeter, und das Wasser ist manchmal braun. Wir finden ein Hotel, Ramaluaa kämpft und kämpft für uns, kämpft gegen alle, und am Ende bezahlen wir zehn Euro für zwei Nächte. Wir gehen Geld wechseln, Ramaluaa dampft und guckt so abwertend, wie er kann. Schließlich muss der arme Wechelstubenmann den Kurs im Internet vor Ramaluaas Augen überprüfen. Die Sonne geht unter, wir eilen zum Victorias Memorial. Der Weg ist weiter, als wir denken, schließlich durchqueren wir im Halbdunkeln einen großen Park, der eigentlich nicht mehr als eine Wiese ist. Kinder spielen Cricket und machen uns Hoffnung, dass es hier ungefährlich ist. Wir werden schon eine ganze Weile von zwei dürren Kerlen begleitet, der eine schreit den anderen erbarmungslos an, packt ihn am Kragen und schlägt ihm ab und zu auf den Kopf. Nebenher läuft ein Mädchen in seidenem, schneeweißem, goldbesticktem Gewand. Wir kommen an einem kleinen Tümpel vorbei, der Alte, freier Oberkörper und im Rock, pinkelt hinein, die Kinder schwimmen. Wir laufen weiter, ein seltsamer Dunst legt sich über die Wiese. Wir kommen an Kindern vorbei und an Verkäufern, es taucht ein grasendes Pferd aus dem Nebel auf und verschwindet wieder. Ein herrenloses Pferd, auf einer rechteckigen Wiese, mitten in Kalkutta. Vor dem großen Gebäude steht ein kleines Karussell, das ein alter Kerl mit kleinen bunten Plastikstühlen selber zusammengebaut hat und so schnell anschiebt, dass den Kindern schon vom Hinsehen übel wird. Daneben Affen an der Leine, kleine Süße. Überall warten silberne Kutschen, umschlungen mit Alufolie, auf romantische Pärchen, und die Kutscher schreien alle an, die nicht einsteigen wollen. Der Abend kommt, es kühlt ein wenig ab und wir machen uns auf die Suche nach etwas zu essen. Auf keinen Fall Straßenstände, auf jeden Fall vorher Hände waschen, keine Eiswürfel – klar, das sind die Regeln, aber es geht nicht! Wir bleiben gleich am ersten Essensstand stehen. Seit ich mit meinem Skateboard bei den Jungs vom Essensstand vorbeigegangen bin, johlen und winken sie uns. Sie haben probiert zu fahren, die meisten haben es nicht hinbekommen und sind gestürzt, morgen früh gebe ich ihnen Unterricht und bekomme dafür die süßen Gebäckröllchen umsonst. Normalerweise kosten sie zwei Rupien, drei Cent. Wir essen und kommen nach einer Stunde los, als wir den Jungs versprechen, morgen abend eine Runde Whiskey mit ihnen zu trinken. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sitzt eine dürre, dunkle Gestalt mit Bart. Die Rippen drücken sich aus der Brust heraus, verrückte Augen, ein elendes Bild. Der Mann nimmt unsere leeren Trinkflaschen und huscht hinüber zum Wasserkanister, den die Jungs vor dem Laden zum Abwaschen nutzen. Dort füllt er sie auf, bis er von einem der Kinder entdeckt und angefaucht wird und wieder hinüber auf die andere Straßenseite huscht. Er lebt von der Hoffnung, Essensreste von einem nicht leer gegessenen Teller in seine dreckige Essenstüte aus Plastik zu packen. Jack steckt ihm heimlich etwas zu, und ich kaufe ein Dutzend Gebäckstücke und winke einem anderen Bettler, einem Alten mit nur einem Arm rechts und einem Stummel links, uns zu folgen. Außer Sichtweite des Essensstandes nimmt er sich einige Stückchen und weicht uns nicht mehr von der Seite.


Wir laufen ziellos durch die Straßen, der Krüppel ist nett, kann sogar etwas Englisch und besteht darauf, uns zu führen. Wir folgen ihm, halten Ausschau nach mageren Gestalten, die meistens in einer dunklen Ecke auf einer Decke liegen und schlafen, um einige Gebäckstücke neben sie fallen zu lassen. Auf der Straße spielen die Kinder Cricket, ein Junge landet einen Volltreffer, haut den Ball knapp über unsere Köpfe, die Straße hinunter fast außer Sichtweite und alle jubeln in völliger Begeisterung. Es ist schon spät, der Markt ist leer. Rajhjun und seine Freunde spielen davor Fußball. Wir machen Teams, vier gegen vier, ohne Schuhe, Backsteine markieren das Tor. Es kommen immer mehr Zuschauer, und nachdem er partout nicht ins Tor will, erkläre ich den Sicherheitsmann des Platzes zum Referee. Da spielt er mit. Wir haben gewonnen, 2:0 gegen Jack und sein Team. Die Kinder erzählen, dass sie tagsüber in den Shops im Markt arbeiten, der eine verkauft Kleider, der andere Spielzeug, sie sind zwischen neun und zwölf Jahren alt. Dort schlafen sie auch, im Markt. Ich hoffe, ihre Geschäftchen sind weit genug von der riesigen Pissrinne weg. Wir haben Durst und die Kinder auch, sie führen uns um einige Ecken zu einer Wasserstelle, die einen pumpen, die anderen waschen sich und trinken. Wir sollen auch trinken, das Wasser sei in Ordnung. Wir trinken nicht. Die Kinder bestehen darauf, uns zu unserer Straße zurück zu begleiten. Der Abend endet für alle mit einer großen Cola und dem Versprechen, dass wir morgen um halb zehn wieder zum Markt kommen. Wo die Thailänder öffentliche Konflikte scheuen und Streit nie vor anderen austragen würden, beschimpfen sich die Inder leidenschaftlich gern. Aber irgendwie ist alles nur Fassade, das Schimpfen, das Vordrängeln, das Verhandeln. Es ist nur ein Spiel, sie lachen mit dir über Witze und über sich selbst, und sie nehmen es hin, wenn du nichts von ihrem Zeug kaufen willst, als wüssten sie selbst, was für ein Schund es ist. Es sind Marktverkäufer, und das sind sie nur an ihren Ständen. Ein netter Spruch zieht einen in ein lockeres Gespräch, das nicht selten in einer Einladung oder einer ernst gemeinten Unterhaltung mündet. Sobald man das Verkäufer-Kunde-, Einheimischer-Fremder-Verhältnis abgeschüttelt hat, kommt man ihnen nahe, den Jungs vom Fußball, den Kerlen im Restaurant, dem verkrüppelten Bettler, der uns durch die Straßen führt. Ein Dicker mit Hemd und Schnurrbart hat mich angesprochen, ich habe ihn gefragt, was er denn verkaufe, und er meint „everything“. Ich frage, ob er auch ein schönes, großes Flugzeug für mich habe? „Selbstverständlich“, antwortet er. „Auch ein rotes? Ich nehme es nur in knallrot!“ „Das Flugzeug ist weiß“, sagt er, „aber ich male es für dich an, knallrot!“ Der letzte Abend in Kalkutta. Ein Hotelbett mit zu kurzem Laken, eher braun als weiß. Das letzte Mindestmaß an Reinheit und Hygiene, die letzten Überbleibsel des europäischen Standards, den ich mir zu erhalten vorgenommen habe, ist verloren, ich kapituliere vor dem großartigen, grausamen Kalkutta; ich versuche, die dunkelsten Stellen des Lakens mit meinen alten, verdreckten, stinkenden T-Shirts abzudecken, in der Hoffnung, ohne Ausschläge, Wanzen oder Läuse in den nächsten Morgen zu kommen. Die Nase führt einen ständigen Kampf gegen das Gemeinschaftsklo vor der Tür, ich gehe, so spät und so müde ich kann, ins Bett, ertrage dafür sogar eine der grausamen Gitarrenrunden, wie sie unter Backpackern üblich sind. Jack haut sich ein Schlafmittel rein. Um fünf Uhr am Morgen stehe ich auf, gehe raus aus dem Muff, raus aus dem Dreck des Hotels und streife durch die Straßen. Ich wandere durch ein gigantisches Bett, ein hartes, dreckiges Bett aus Asphalt und Stein, in dem tausende Inder ruhig schlafen. Die Gehwege sind voll, auch an den Straßenrändern liegen sie. Auf dem Platz, auf dem wir gestern abend Fußball spielten, hat ein Massaker stattgefunden, hundert Leute liegen totgeschossen auf dem Boden. Nein, sie leben, sie schlafen nur, einer steht auf, dreht sich um und pinkelt auf den Bordstein. Das schlafende, mühsam erwachende Kalkutta erwischt mich wieder. Am Abend zuvor hatte ich gedacht, die Stadt habe mich in den ersten Tagen einfach nur überrumpelt, ich war übermüdet, als ich ankam, erschöpft und mitgenommen, ohne Schlaf. Eine verrückte Stadt wäre auf ein angeschlagenes Ich getroffen, das alles verstärkt wahrnahm, und das Chaos dieser Stadt wäre erst im Chaos meines Kopfes zu diesem Monster gewachsen, dachte ich mir. Ich war optimistisch, Kalkutta in den Griff zu bekommen, wenn der erste Schock nur vorüber sei, dann würde ich mich schon an alles gewöhnen, und ich könnte mich hier vielleicht sogar wohl fühlen, für einige Tage wenigstens, und sei es nur in der Rolle des Außerirdischen auf Entdeckungsreise in einer fremden Welt. Doch das erwachende Monster lacht mich aus, hetzt eine Horde kläffender Köter auf mich, einer nackt und ohne Fell. Ein Brathähnchen mit Tollwut, mitten ihm asphaltierten Riesenbett. Der Markt erwacht, ein Strom Fahrräder mit stinkenden, halb gerupften Hühnern auf der Lenkstange kommt aus einer schmalen Gasse. Die Händler verteilen ihre kreischende Ware am Straßenrand, bis eine Armee verschnürter Hühner das Viertel in eine elend stinkende Wolke hüllt. Der Gestank ist nicht auszuhalten, greift von allen Seiten an, stechend und beißend. Ich mache mich auf den Rückweg, und er hat den Geschmack einer Flucht. Die Taxifahrer pöbeln mir hinter her. An der Mauer vor dem Hotel liegt der Krüppel, der Bettler mit nur einem Arm und einem Stumpf, zusammengesunken, er schnarcht. Er ist ein Held. Sie alle sind Helden. Eine seltsame Müdigkeit überkommt mich, resignierend kehre ich ins Hotel zurück und bin froh um die Geborgenheit meines vergammelten Zimmers.

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