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Meine geraubte Jugend
Es war so unfair. So entsetzlich unfair. Draußen knallte die Sonne herunter, das Thermometer hatte die 30-Grad-Marke längst geknackt. Meine Geschwister hüpften im Garten in den Pool, nur ich saß drinnen in der stickigen Küche. Es war Wochenende. Und in der Woche drauf stand die Französisch-Arbeit an, ohne intensives Büffeln mit Mama (diese hatte damals Französisch im Leistungskurs) ging nichts: Imparfait, Passé Composé und unregelmäßige Verben. Nicht zu vergessen die Vokabellektionen.
Das ist nur ein Beispiel, das exemplarisch widerspiegelt, wie ich den Großteil meiner Wochenenden und Nachmittage fünf Jahre meiner Schulzeit in Karlsruhe verbracht habe. Logisch: Es war nicht alles immer unaushaltbar. Doch es war vieles oft zeitraubend und anstrengend. Deshalb habe ich gewechselt. Genau so, wie das nach dem Willen der Freien Wähler in Bayern künftig auch möglich sein soll: Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 für alle Schulen. Laut einer Umfrage des INSA Instituts unterstützen über 70% der bayrischen Bevölkerung den Vorschlag der Freien Wähler.
Mein schulischer Einsatz hatte wohl wenig mit übertriebenem Ehrgeiz zu tun – es ging mir nicht um Einsen. Aber um Zweien. Und darum, nicht sitzen zu bleiben. Denn ich sah ja die Resultate der anderen: Ein Freund von mir war einen Tick zu schlecht in Französisch – und fiel durch. Jedes Jahr blieben etwa drei bis vier Schüler sitzen.
Ich hätte auch einfach auf die Realschule wechseln können, das stimmt. Aber: Zum einen war da der Ehrgeiz, es packen zu wollen. Ich war ja auch gar nicht schlecht. Zum andern wollte ich einfach nicht aus meinem sozialen Umfeld gerissen zu werden. Also biss ich mich durch, ich schlitterte ja nicht am Burnout vorbei, doch verpasste wohl viele, viele freie Nachmittage und Abende.
In der sechsten Klasse kam bei mir dann die zweite Fremdsprache dazu. Auf die hätten wir in der Grundschule schon vorbereitet werden sollen, doch meine damalige Grundschullehrerin machte lieber Sportunterricht. Ich bin ihr heute noch dankbar dafür. Der Stress kam noch früh genug.
Mit 15 Jahren, in der Mittelstufe, dachte ich dann mehrere Tage darüber nach, ob ich es mir zeitlich wirklich erlauben könne in die Theater-AG zu gehen. Es ging um drei Stunden pro Woche. Doch drei bis vier Mal hatte ich ja ohnehin Nachmittagsunterricht.
Manchmal saß ich in der neunten Klasse bis halb Sechs in der Schule. Das war der reguläre Stundenplan. Draußen war es bereits dunkel, da untersuchten wir noch die Wirkungsweise von Chloroplasten. Dann fuhr ich nach Hause, fing um halb Sieben mit den Hausaufgaben an.
Nach der zehnten Klasse war Schluss. Ich wollte nicht mehr. Natürlich hatte ich Angst, ob ich neue Freunde finden würde – ich wechselte dennoch auf das berufliche Gymnasium, sozialwissenschaftliche Richtung. So bin ich letztlich doch noch nach 13 Jahren von der Schule gegangen. In der 11. Klasse dort wurden den Realschülern die Grundlagen für die Oberstufe vermittelt, die mir aus der 10. Klasse bekannt waren. Es war mit einem Schlag erheblich ruhiger.
Sicher, nachgeworfen wurde einem dort nichts, faulenzen konnte ich nicht. Doch ich merkte, wie ich mit einem Schlag mehr Zeit hatte. Viel mehr Zeit. So viel, dass ich mich auch mal unter der Woche mit Leuten treffen konnte. Für mich fiel Stoff weg, ich hatte den Eindruck, dass man sich mehr Zeit nimmt. Lehrer konnten eher Rückfragen beantworten, es blieb mehr Raum um auch Themen zu bearbeiten, die nicht auf dem Lehrplan standen – aber deshalb nicht weniger erkenntnisreich waren.
Ich war der zweite Jahrgang, der das G8 erlebte. Und ich will hier gar nicht politisch diskutieren, ob eine gänzliche Abkehr vom G8 sinnvoll ist. Eines aber ist klar: So, wie es ist, ist es eine Zumutung. Sicher auch für die Lehrer, doch die Hauptleidtragenden sind die Schüler. Ich habe mich entschieden, dass ich es anders will, für mich war das richtig so. In Zukunft könnten alle jetzt diese Chance bekommen, sich zwischen G8 und G9 entscheiden zu können. Zumindest für die Wahlfreiheit sollte man votieren und abstimmen. Doch ganz gleich, wie das Volksbegehren der Freien Wähler ausgeht: Es zwingt die anderen Parteien sich mit dem Thema zu beschäftigen. Und das ist gut so.
Fünf Jahre habe ich diesen Irrsinn mitgemacht: Fünf Jahre kein Fußballverein, fünf Jahre kein Freibad, fünf Jahre kaum Zeit für anderes als die Schule. Der Wechsel vom G8 ins G9, es war die klügste Entscheidung meines Schullebens.
Text: tim-kummert - Foto: dpa