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Zwillinge, wärt ihr lieber Einlinge?

Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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Liebe eineiige Zwillinge,

als ich klein war, wollte ich einer von euch sein. Vom einzigen eineiigen Zwillingspaar in unserer Kleinstadt bleibt mir ein Bild genau in Erinnerung: Beide zusammen auf einem Mofa, beide mit Neunzigerjahre-Mittelscheitel und dunkelgrünen Pullis, wie sie lachend an mir vorbeifuhren. Ich beneidete sie um diese vom Schicksal gewollte Verbindung zwischen ihnen. Ich nahm sie wahr wie einen einzigen Menschen, den es zweimal gab und für den dadurch alles einfacher wurde – doppelt so stark, doppelt so klug, nie alleine. Außerdem stellte ich mir vor, dass eine exakte Kopie von mir auch eine Art Rückversicherung wäre, dass ich okay bin. Und dass dadurch der Druck, der auf mir als einzigartigem Wesen lastete, auf jemand anderen mitverteilt werden könnte. Zwillinge: nur Pros, keine Cons.

Je älter ich wurde, desto mehr verinnerlichte ich aber diesen neoliberalen Individualismus-Kult unserer Gesellschaft, in dem die Einzigartigkeit, der Unique Selling Point, das höchste Gut ist. Und irgendwann bemitleidete ich eineiige Zwillinge tatsächlich eher. Das Bild der beiden coolen Zwillings-Buddies auf dem Mofa wurde ersetzt durch das der creepy Zwillings-Mädchen aus The Shining: seelenlose Zombies, die nie erfahren würden, was es bedeutet, wirklich einmalig zu sein, die unbestrittene Hauptfigur ihrer Geschichte.

Natürlich ist beides Quark. Die Vorstellung von eineiigen Zwillingen als identische Kopien ist zwar ein interessantes Narrativ, hat aber angesichts von Faktoren wie Epigenetik und Umwelteinflüssen kaum Bestand. Natürlich seid auch ihr Individuen, seht euch häufig als Erwachsene gar nicht mehr so ähnlich, lebt unterschiedliche Leben – aber am Ende gibt es eben doch immer einen Menschen, der euch unwahrscheinlich ähnlich ist. 

Wie ist das so, sich von klein auf selbst von außen zu sehen? Fühlt ihr euch auserwählt oder verflucht? Erlebt ihr mit eurem Zwilling ein Ausmaß an Vertrautheit, das uns nie zugänglich sein wird? Oder gibt es Momente, in denen ihr euch eher wie eine Art Programmierfehler vorkommt? Hat euch euer Zwilling-Sein besonders wettbewerbsorientiert gemacht oder besonders kooperativ? Könnt ihr besser teilen? Oder sind eineiige Zwillinge einfach eine ulkige Laune der Natur, deren Bedeutung völlig überschätzt wird? Wärt ihr lieber Einlinge? Und: Was sind eigentlich so unsere dümmsten Reaktionen auf euer gemeinsames Auftreten als Zwillinge?

Eure Einlinge   

Die Antwort:

Liebe Einlinge,

wir haben eure Blicke bemerkt. Wir haben gespürt, dass ihr früher immer mit uns tauschen wolltet, weil Zwilling sein einfach cool und anders und faszinierend für euch war. Aber wir dachten auch: Ob ihnen wirklich klar ist, was das bedeutet? 

Offenbar glaubt ihr, wir sähen in unserem Zwilling quasi ein zweites Ich. Dabei sehen wir nur unsere Schwester. Oder unseren Bruder. Je nachdem. Für niemanden ist klarer, wer wer ist, als für die Zwillinge selbst. Wir wissen, aus wessen Augen wir heraus- und in wessen Augen wir hineinschauen. 

Also nein. Wir kommen uns nicht vor wie ein Programmierfehler. Eher wie zwei ganz normale Menschen, die das gleiche DNS-Set und in gewisser Weise dasselbe Schicksal teilen. Und das, so denkt ihr es euch ja auch, hat Vor- und Nachteile. Und die variieren von Zwillingspaar zu Zwillingspaar.

Die erste Sprache, die meine Schwester und ich lernten, war eine, die nur wir verstanden

Ich kann mir aber kein (eineiiges) Zwillingspaar vorstellen, das keine intensive Beziehung zueinander hat. Die erste Sprache, die meine Schwester und ich lernten, war eine Sprache, die nur wir verstanden – erst dann kam Deutsch. Als Kinder teilten wir uns beim fernsehen einen Sessel, lagen dort eng verschlungen, bis wir mit zehn langsam zu groß wurden und unsere Beine und Arme zu den Seiten herunterhingen. Als Erwachsene leben wir zwar an unterschiedlichen Orten, besuchen uns aber regelmäßig, weil es anders eben gar nicht auszuhalten wäre.

Wenn du schon im Bauch deiner Mutter zu zweit statt alleine bist, wenn du schon dort miteinander kuschelst, die Körperteile des anderen im Gesicht hast (soll ja vorkommen), dann hast du wahrscheinlich keine andere Wahl, als mit diesem Menschen verbunden zu sein.

Ich glaube trotzdem, dass sich alle Zwillinge früher oder später Gedanken darüber machen, ob es nicht einfacher gewesen wäre, alleine auf die Welt gekommen zu sein. Als Kind hat man nie seine Ruhe, jedes bisschen Zeit mit sich selbst muss man sich erkämpfen, fast alles muss man teilen: Essen, Spielzeug, Zeit mit der Familie. Und dann auch noch den Geburtstag! Das führt oft genug zu Neid und harten Kämpfen.

Die Menschen um uns herum nannten uns als Kinder immer „Die Zwillinge“

Lange wurden meine Schwester und ich hauptsächlich als Team wahrgenommen. Die Menschen um uns herum nannten uns als Kinder immer „Die Zwillinge“. Wo sind die Zwillinge? Haben die Zwillinge schon gegessen? Warum streiten die Zwillinge? Ich wünschte, sie hätten uns öfter bei unseren Namen genannt. Einfach, um uns als einzelne Menschen anzuerkennen.

Das ist nämlich das Schwierigste am Zwilling sein: Man selbst weiß, dass man ein Individuum ist. Aber alle anderen wollen erstmal davon überzeugt werden. 

Die Frage kam mantraartig: „Wer ist wer?“ Wir erklärten, woran man uns erkennen konnte: Meine Lücke zwischen den Vorderzähnen, ihre dunkle Sommersprosse auf der Nase. Aber ständig haben die anderen vergessen, welches Merkmal nun zu wem gehört. Vielleicht war ihnen die Unterscheidung einfach nicht wichtig genug. Umso wichtiger wurde sie uns. Denn natürlich merkten wir, dass wir am Ende doch ständig im Vergleich miteinander standen.

In der Vorpubertät fingen wir an, die Unterschiede stärker herauszuarbeiten. Wir schnitten uns die Haare unterschiedlich, zogen uns verschieden an, teilten sogar unsere Interessen, Eigenschaften und Stärken untereinander auf. War die eine gut in Mathe, verlor die andere den Ehrgeiz. Wir sahen uns gezwungen, die „Disziplinen“ zwischen uns aufzuteilen, obwohl wir uns doch so ähnlich waren. Das hat uns vermutlich eher zurückgeworfen als weitergebracht. Aber irgendwie war es eben auch Teil eines notwendigen Abnabelungsprozesses. Nicht, dass der Prozess dann einwandfrei funktioniert hätte. Ständig knallte es, wenn es darum ging, wem welche Hose zustand und in wen von beiden der gemeinsame Schwarm nun verknallt wäre. 

Will sagen: Zwilling sein ist nicht leicht. Denn man hat tatsächlich ständig jemanden um sich, mit dem man sich direkt vergleichen kann und muss. Hatte ich eine gute Note, wurde meine Schwester umso härter für eine schlechte kritisiert. Sprach meine Schwester im Ausland fließend Spanisch, verurteilten mich Außenstehende für meine paar Brocken. Wir sind beide sehr ehrgeizig – ich glaube, das hat mit den ständigen Vergleichen zu tun.

Es ist wunderbar, wenn die Leute um einen herum einen zweifelsfrei zuordnen können

Was es für mich und meine Schwester übrigens leichter gemacht hat: An unterschiedlichen Orten zu wohnen und unterschiedliche Freundeskreise aufzubauen. Zwar gibt es da auch Trennungsschmerz. Aber vor allem ist es wunderbar, wenn die Menschen um einen herum einen zweifelsfrei zuordnen können. Wenn sie erst später die Zwillingsschwester kennenlernen und sagen: „Ihr seid euch schon ähnlich – aber auch nicht soo ähnlich.“ Und tatsächlich hat die Epigenetik da viel getan: Mittlerweile kann man uns optisch leicht unterscheiden, anders als noch in unserer Kindheit.

Auf die ständigen Vergleiche kann man übrigens auch anders reagieren als wir. Ich beobachte beispielsweise mit Faszination die Lesotwins, Leonie und Sophie Klassen. Auch den beiden Twinfluencerinnen wurde der Vergleich irgendwann zu viel. Seither kaufen sie jedes Kleidungsstück in zweifacher Ausführung, sie fügen sich dem typischen Zwillings-Narrativ. Ich gebe zu, ich grusele mich vor dem Konzept – für sie scheint es aber zu funktionieren. 

Am Ende kann man wohl fragen, wen man will: die Zwillinge auf dem Mofa, meine Schwester und mich, die Leso- oder die Olsentwins. Ich behaupte: Niemand von uns wäre lieber ohne den eigenen Zwilling. Denn das hieße, die engste Vertraute abzugeben, den Partner in Crime. Und das machen Zwillinge nicht. Nicht mal für einen Geburtstag, den man nur für sich alleine hat.

Und um eure letzte Frage nicht zu vergessen: Die dümmste Reaktion auf unser gemeinsames Auftreten kommt in der Regel von Männern. Ihr könnt euch die Frage, die sie stellen, selbst denken. Und die Antwort lautet: Nein, du Perverser.

 

Eure Zwillinge ;)

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