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Brauchen LGBTQ immer noch ein Coming-out?
Liebe Queers,
die deutsche Tageszeitung mit den vier Großbuchstaben hatte vor Jahren mal eine Plakatwerbung, deren Claim es war, dass diese Zeitung Wahrheiten aussprechen würde, die sonst niemand ausspricht. Auf den Plakaten, die überall an den Bushaltestellen hingen, standen dann Sätze, die aus Sicht der Zeitung mutig waren. Unter denen war auch der Satz „Papa, ich bin schwul“.
Das Outing wurde also als etwas sehr Mutiges dargestellt. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass wir weiter sind. Serien wie „Sex Education“ oder „Euphoria“ werden endlos gestreamt und zeigen queere Personen, deren Haupteigenschaft als Charakter es nicht mehr nur ist, queer zu sein. Trotzdem wurde das Outing von queeren Personen in unserer Kultur lange als ein großer, gesellschaftlich notwendiger Moment erzählt. Mit einem Knall, mit einem Krisengespräch am elterlichen Esstisch, mit einer familiären Zusammenkunft, bei der die queere Person ihre sexuelle Präferenz oder ihr Gender unter großem Tam-Tam verkündet – und dann hofft, dass das alle gut aufnehmen. Ist das noch immer so? Wie sehr fühlt ihr euch 2020 noch verpflichtet, euch zu outen?
Die Gesellschaft erwartet von euch, dass ihr den Menschen erzählt, auf wen ihr steht
Ein Outing ist ja immer noch eine Befreiung, oder? Sexuelle Identität gehört zu einem wie der eigene Körper und es tut sicher gut, offen dazu zu stehen. Aber eigentlich sollte man doch – in einer idealen Welt – niemandem eine Antwort schuldig sein, wenn es um die eigene Sexualität geht. Doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass queere Menschen durch das Outing von dieser Maxime ausgeschlossen sind, oder nicht? Die Gesellschaft erwartet von euch, dass ihr den Menschen erzählt, auf wen ihr steht und das kommt mir unfair vor. Wir Hetero-Männer müssen uns ja auch nicht hinstellen und sagen: Ja, ich stehe auf Frauen.
Wünscht ihr euch eine Welt ohne Outing? Für mich, aus meiner in diesem Fall privilegierten Sicht als Hetero, klingt das zumindest nach einer Idealvorstellung. Oder ist das zu einfach gedacht? Braucht ihr ein Outing, um zu euch selbst zu stehen? Erzählt mal, wir sind gespannt.
Eure Heteros
Die Antwort:
Liebe Nicht-Queers,
es ist erst zwei Jahre her, dass ich zum ersten Mal jemandem erzählt habe, dass ich mich in Frauen verliebe. Nach mehreren Gläsern Wein, nachts um vier, auf dem Sofa in der Küche unserer WG. Ich konnte meinen Mitbewohner nicht ansehen dabei. Aber endlich habe ich über meine Sexualität gesprochen und es hat sich richtig angefühlt. Ich habe mir das Datum gemerkt, es ist mir wichtig. Aber es ist auch viel Wichtiges davor passiert, und danach.
Ihr habt Recht, wir sind weiter als vor zehn, fünfzig oder hundert Jahren. Gleichgeschlechtliche Paare können heiraten, CDU-Politiker offen schwul sein und queere Charaktere vielschichtig. Im Supermarkt bei mir um die Ecke klebt ein Regenbogensticker unten an der Tür. Trotzdem: Wir queeren Menschen brauchen immer noch ein Coming-out, wenn wir so leben und lieben wollen, wie es für uns passt. Und das ist immer noch schwierig.
Bevor wir uns als queer outen, müssen wir aber erst einmal verstehen, dass wir es sind
Für „Coming-out“ gibt es kein deutsches Wort. Während der Stonewall-Aufstände 1969 in New York, als sich queere Menschen gegen die brutalen Übergriffe der Polizei wehrten, wurde „Coming out of the closet“ geprägt; „aus dem Versteck im Schrank herauskommen“. „Coming-out“ ging in die Sprache der queeren Subkultur ein und wurde in andere Sprachen übernommen. „Outing“ oder „outen“ hatte zunächst eine andere Bedeutung: Aktivisten, die gegen Aids kämpften, machten in den 1990er Jahren die Namen anderer, prominenter Schwuler öffentlich, gegen deren Willen – sie outeten sie. „Coming-out“ bezeichnete also den selbstständigen Prozess, „Outing“ oder „outen“ das, was man mit anderen Menschen macht. Heute werden die Begriffe aber oft durcheinander verwendet. Und nicht nur in Bezug auf Queerness: Menschen können sich selbst als Sportmuffel oder als Bayern-Fans outen, als alles Mögliche, was in ihrem Umfeld verpönt ist. Ein bisschen befremdlich ist das schon: als wäre Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit etwas, das man gesteht wie die peinliche Liebe zu einem arroganten Fußballverein.
Bevor wir uns als queer outen, müssen wir aber erst einmal verstehen, dass wir es sind. Ich komme aus einer kleinen Stadt, niemand dort war offen homosexuell. Oder bisexuell. Oder trans. In den Mädchenzeitschriften, die ich las, wurde heterosexueller Sex erklärt und was Jungen cool finden. Ich war nicht cool, ging nicht gern feiern, aber ganz gern in die Schule. Also dachte ich: Klar, dass das mit den Jungs bei mir später kommt. Ich wartete ungeduldig, schließlich wurde ich immer öfter gefragt: Stehst du auf den? Hast du einen Freund? Aber ich habe nur Mädchen bemerkt. Mädchen, die irgendwie schöner waren als alle anderen Mädchen. Die ich einfach ansehen musste. Neben denen ich mich so ungeschickt gefühlt habe. Ich dachte: Schönheit und Sexyness verbinden wir in unserer Gesellschaft eben mit Frauen. Mit fünfzehn habe ich in mein Tagebuch geschrieben, wie toll ein eigentlich ganz normaler Schultag war – weil eine Freundin mich auf dem Flur angelächelt hat. Und ein paar Seiten weiter, dass ich noch nie verliebt war. Wir sind gut im Leugnen.
Wenn der Mitbewohner weiß, dass man lesbisch ist, wissen es die Eltern noch nicht. Die Oma. Der Typ in der Bar.
Ich kann nicht sagen, wann ich gemerkt habe, dass ich lesbisch bin. Den Verdacht, dass ich etwas fühle, was andere nicht fühlen, was andere vielleicht abstoßend finden – no homo und so – hatte ich bald. Aber ich konnte das Gefühl nicht benennen; konnte nicht sehen, dass andere es auch kennen. Ich dachte, niemand darf je davon erfahren. Irgendwann während des Studiums wurde aus dem einsamen Verdacht eine befreiende Möglichkeit. Und aus der Möglichkeit fast vollständige Gewissheit. Und daraus das Gespräch auf dem Sofa in der Küche unserer WG. Das erste äußere Coming-out nach meinem inneren; das für viele entscheidende.
Aber wenn der Mitbewohner weiß, dass man lesbisch ist, wissen es die Eltern noch nicht. Die Oma. Der Typ in der Bar. Menschen gelten als cis-hetero bis zum Beweis des Gegenteils, also müssen wir uns wieder und wieder outen. Das ist manchmal lustig, zum Beispiel, wenn die Frauenärztin erst nach Minuten begreift, warum ich mit Kondomen wenig anfangen kann, und ich dann zur Abwechslung mal nicht die am peinlichsten berührte Person im Behandlungszimmer bin. Aber meistens – eigentlich – ist es schlimm. Weil uns signalisiert wird, dass wir nicht normal sind. Weil wir die Einzigen sind, die verkünden müssen, welchem Geschlecht wir uns zugehörig fühlen und wen wir lieben. Was ein Grund ist, warum manche immer noch nicht wissen, dass ich lesbisch bin: Ich weigere mich, das Tam-Tam zu veranstalten, das ihr angesprochen habt.
Und weil ich immer noch nervös werde kurz bevor ich richtigstellen muss, dass ich nicht hetero bin. Ich habe kaum Angst vor Anfeindungen oder Gewalt. Ich weiß, das ist ein Privileg als queere Person; es sollte keines sein. Wovor ich Angst habe, sind Menschen, die sagen, sie müssten das erst einmal verarbeiten. Die mir vorwerfen, ich hätte es zu lange verheimlicht. Menschen, die behaupten, natürlich sei es in Ordnung – und die sich dennoch Sorgen machen, wenn ihre Kinder in der Schule von Leuten wie mir hören.
Trotzdem ist es schön, out zu sein. Natürlich wäre es schöner gewesen, wenn ich mit fünfzehn schon ganz selbstverständlich hätte lesbisch sein können. Natürlich wäre es schöner, ich könnte es jetzt. Denn ja, wir sind weiter. Aber noch immer wird kaum ein Zeitungsartikel mit zwei Frauen oder zwei Männern bebildert, wenn es um „ganz normale“ Beziehungen geht. Noch immer ist kein aktiver deutscher Profifußballer offen schwul, und noch immer muss ich mir überlegen, ob es klug ist, diesen Text unter meinem Namen zu veröffentlichen. Noch immer müssen trans Menschen den Behörden beweisen, wer sie sind. Und die Partei, die propagiert, dass eine Familie aus Vater, Mutter, Kind besteht, ist mittlerweile die drittgrößte im Bundestag.
Alles Liebe
eure Queers