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Provinzkolumne, Teil 8: Florian Illies und Sirenen am Samstag
Erst wenn alles scheißegal ist, macht das Leben wieder Spaß, singt Sven Regener mit seiner markanten Sven-Regener-Stimme in „Delmenhorst“ – dem Lied, nicht der Stadt, obwohl die ganze Sache natürlich letztlich auf diese zurückfällt. Außerdem kommen vor: der Bremer Ortsteil Huchting, der sich in Kirchhuchting, Mittelshuchting, Sodenmatt und Grolland untergliedern lässt, und die Ochtum, ein Nebenflüsschen der Weser. Alles in allem ist „Delmenhorst“ (das Lied jetzt, obwohl, die Gänsefüßchen könnte man eigentlich auch weglassen) also ein nettes Provinz-Panoptikum.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Lars, der jetzt in Hamburg wohnt, ist mit seinem Lebenshilfe-Ansatz in Regeners Fußstapfen getreten. Sein Rat: Ich solle mich damit abfinden – mit der Stille, den hochgeklappten Bürgersteigen, den glotzenden Nachbarn, der hässlichen Innenstadt. Ändern könnte ich daran ohnehin nichts. Und weil ich weder eine bessere Idee habe noch Lust. vor mir selbst zuzugeben, dass die Provinz mich kleingekriegt hat, probiere ich das jetzt einfach mal aus. Ich meine: Auch meine Existenz weit jenseits der Peripherie hat zwei Seiten – und im Vergleich zu all den rasenmähenden Provinzbewohnern mit ihren braun gefliesten Terrassen, die 14-tägig ihre Biotonnen vor den Gartenzaun stellen und sie danach mit dem Gartenschlauch dekontaminieren und danach fein säuberlich mit Zeitungspapier auslegen, bevor sie die nächste Bananenschale hineinwerfen – im Vergleich dazu bin selbst ich mit meinem Morgens-Laufen-und-dann-zwölf-Stunden-Tag relativ Punk.
Ganz abgesehen davon, dass ich unterm Strich relativ pflegeleicht bin und weder eine ausgefeilte Infrastruktur an Freudenhäusern brauche noch zu den Leuten gehöre, die im Taucheranzug durch Neubaugebiete laufen müssen, um sexuell auf ihre Kosten zu kommen. So gesehen habe ich’s gut. Wie es meine Nachbarn damit halten, weiß ich nicht. Und das darf bitte auch so bleiben.
Außerdem beginne ich langsam, mich echt auszukennen hier. Letzte Woche Samstag etwa, während ich mit meiner Hamburger Mitbewohnerin Lena telefonierte, wurde meine Schilderung des nicht existenten Nachtlebens vom Losbrechen der Apokalypse unterbrochen. Muss zumindest so geklungen haben. Für Lena. „Was ist das denn, um Himmels Willen?“, fragte sie erschrocken. „Was?“, fragte ich erstaunt zurück. Draußen heulte es regelmäßig. „Ach so, das. Lass dich nicht stören, am ersten Samstag im Monat werden hier die Sirenen getestet. Ist gleich vorbei.“ Was ich mache, wenn hier am ersten Samstag im Monat mal echt ein Flugzeug abstürzt oder der Atomkrieg ausbricht, muss ich mir noch überlegen.
Und klar: Der umgekehrte Weg, raus aus der Provinz und rein in die Großstadt, ist auch nicht so ganz ohne. „Menschen, die aus derselben ländlichen Gegend kommen“, schreibt der „Generation Golf“-Erfinder Florian Illies in seinem Buch „Ortsgespräch“, „verbindet ein sichtbares gemeinsames Merkmal. Nein, es ist nicht der Schnurrbart. Sondern das Autokennzeichen.“ Wer einen Wagen mit dem Kennzeichen VB steuere, der werde jenseits der Stadtgrenzen von Fulda oder Frankfurt sein Leben lang als „Vogelsberger Bauer“ verspottet. Das Spannende daran ist weniger der Umstand, dass der Vogelsberg – vermutlich die einzige Sache neben den Lößablagerungen im Alpenvorland, die ich noch aus dem Erdkunde-Unterricht weiß – aus einer merkwürdigen Gesteinsart namens Basalt besteht und der einzige Schildvulkan Deutschlands ist. Spannend daran ist, ich zitiere weiter, die Funktion dieses Spotts als „eine Art Ur-Erlebnis. Erst durch diesen Spott, den sie allein wegen ihrer offenkundigen Herkunft vom Lande ertragen müssen, werden sich viele überhaupt bewusst, wie gnadenlos die große Stadt Menschen aus der Provinz jegliche Zurechnungsfähigkeit erst einmal abspricht.“ Die Zahl der Menschen, die aus der Provinz in die Stadt abwanden, übersteigt die Zahl derer, die in umgekehrter Richtung ziehen übrigens bei weitem:
Der oben zitierte Florian Illies stammt aus Schlitz bei Fulda (rund 10.000 Einwohner). Frank-Walter Steinmeier (um mal ein paar halbwegs prominente Kandidaten aufzuzählen) stammt aus Brakelsiek (etwa 1000). Udo Walz aus Waiblingen (53.000). Edmund Stoiber aus Oberaudorf (knapp 5000). Erwin Huber aus Reisbach (7500). Günter Beckstein aus Hersbruck (12.000). Dieter Bohlen aus Berne (7000), Daniel Küblböck aus Hutthurm (5900). Harald Schmidt aus Neu-Ulm (52.000). Sarah Connor aus , ha, Delmenhorst (77.000 ). Elke Heidenreich aus Korbach (24.000). Genug? Da geht noch was: Jürgen Klinsmann stammt aus Göppingen (57.000), Bastian Schweinsteiger aus Kolbermoor (18.000), Michael Ballack aus Görlitz (57.000). Und die in Hamburg geborene Angela Merkel, die damals noch Kasner hieß, wurde ein paar Wochen nach ihrer Geburt von ihren Eltern in das 350-Seelen-Dorf Quitzow umgezogen. „Der Landmensch zieht in kleinen Schritten“, steht in der Erzählung „Der Kampf der Mähdrescher“ von Ina Bruchlos“, „und misst die Entfernung in Hektar, die Zeit am Stand der Sonne und in unseren Höhlen malten wir mit bloßen Händen das zu erjagende Vieh.“ Der umgekehrte Weg kann dann ja nicht so schwer sein.
Text: alexander-just - Illustration: Katharina Bitzl