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Provinzkolumne, die letzte: Utz-Utz-Utz
Und dann passiert doch noch was, das mich überrascht hat an meiner Stadt, absolut überrascht, endlich mal. (Obwohl ich niemanden kenne, der es hingekriegt hätte, im Überraschungsmoment nicht absolut, sondern nur relativ überrascht zu sein, zumindest nicht wirklich, entweder du bist überrascht oder du bist es nicht. Aber sei’s drum.) Eine relative Überraschung wäre – wenn es sie gäbe – wahrscheinlich mein plötzliches Eingeständnis: Eigentlich ja doch alles cool hier (wobei das, nachdem ich jetzt neun Folgen lang nur gemotzt habe, vielleicht auch einfach unglaubwürdig wäre). Stimmt ja auch gar nicht, ist nur ein Beispiel, ich finde es nach wie vor ziemlich bescheiden hier. Eine andere relative Überraschung wäre es gewesen, wenn ich mich nach ein, zwei Wochen in diese Bäckereifachverkäuferin verliebt und sie deshalb ihren Mann, den Bäckermeister verlassen hätte, um fortan auf meinem Sofa zu sitzen und Wasabi-Erdnüsse zu futtern, was natürlich auch nicht stimmt. Oder wenn Lars, der Radiomoderator, nach zwei, drei Monaten die Segel streicht und zu seinem Provinzsender zurückkehrt, weil er den stierenden Blick ins Nichts nicht erträgt, den die Leute in Großstadt-S-Bahnen aufsetzen (das wäre tatsächlich eine ziemliche Überraschung, ob es passiert, wird sich zeigen).
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Meine Überraschung gab es tatsächlich. Die Zeit ihres Eintretens: vergangene Woche Freitag, punkt 14 Uhr. Ich saß am Schreibtisch und beantwortete E-Mails, das Fenster war geöffnet, die darunterliegende Straße war wie immer nur spärlich befahren. Und während ich da so saß und tippte, tönte es von der Straße herauf: UTZ-UTZ-UTZ-UTZ, nicht gerade leise, UTZ-UTZ-UTZ-UTZ, mit etwa 90 Beats pro Minute, konstant, UTZ-UTZ-UTZ-UTZ. „Ah, das Stadtfest“, sagte der mir heute ausnahmsweise gegenüber sitzende Praktikant, und ich wischte meine spontane Erklärung beiseite, die hauptsächlich aus dem Wort „Dorfjugend“ bestand, was nicht abfällig gemeint ist, aber doch oft allerhand erklärt. Stadtfest. Aha. Sie können also doch feiern. Oder sie versuchen es zumindest.
Mein Plan für das Wochenende sah – zum ersten Mal – einen Besuch in Hamburg vor. Nichts großes, nur mal wieder Hallo sagen. „Stadtfest?“, richtete ich das Wort fragend an mehrere Kollegen, um die Lage zu sondieren. Allgemeines Kopfschütteln. „Kannste vergessen“, „Später regnet es sowieso“, „Doofe Musik“, „Öh, bloß nicht“ – alles klar.
Draußen machte es weiter UTZ-UTZ-UTZ-UTZ, ich machte auch weiter, und irgendwann war Feierabend.
Mein Gepäck – minimal angesichts der geplanten zwei Tage Großstadt – hatte ich der Einfachheit halber in einem kleinen Trolley verstaut, der zwar dem genauen Gegenteil von stylisch entsprach, allerdings hätte das Spektrum an möglichen Alternativen nur Rucksäcke beinhaltet, und … na eben. Dieser Trolley stand jetzt hinter mir, damit ich direkt in Richtung Bahnhof durchstarten könnte. Das konnte ich jetzt. Also los. UTZ-UTZ-UTZ-UTZ machte es unentwegt, und ich begann mich zu wundern, dass sich tatsächlich niemand beschwert.
In die längliche, insgesamt aber trotzdem nicht wirklich große Fußgängerzone hatte man zwei vergleichsweise gewaltige Bühnen hineingestellt: eine von jenem Radiosender, in dessen Frühprogramm früher Lars die Verkehrsmeldungen rezitierte, die andere am entgegengesetzten Ende ohne Sponsor, dafür aber mit vier Bier-Ständen im Einzugsgebiet. Auf der Bühne spielten gerade die Gewinner eines von der Stadtverwaltung ausgelobten Bandcontests – den hatten die beiden Werbeblättchen breitgetreten, die samstags und mittwochs ungebeten die Briefkästen verstopfen (Schilder mit „Keine Werbung bitte“ sind wirkungslos). Gewonnen hatte – das las ich auf der Titelseite eines dieser Blättchen, während ich es wegwarf – eine Band mit dem originellen Namen Geschmacksverstärker, die leider trotzdem Metallica-Songs coverten und, als ich mich gerade in der Mitte der Fußgängerzone befand, eine selbstgeschriebene Nummer performten, die stilistisch eher in Richtung Trash-Metal tendierte, mit textlicher Anlehnung an irgendwas zwischen Scooter und Rammstein. Fans waren keine da.
Das UTZ-UTZ-UTZ-UTZ dröhnte von der gegenüberliegenden Bühne her. Auf dieser turnte ein Moderator in weißem Sakko und rosa T-Shirt herum und plärrte Unverständliches. Zwischen dem WRROOOOAAM von links und dem UTZ-UTZ-UTZ-UTZ von rechts saßen mit stoischer Miene ein paar Rentner und tranken Bier. Von oben begann es zu tröpfeln. Die Kollegen hatten recht: Öh, bloß nicht. Aber: Sie versuchen es wenigstens.
Mein Zug war leicht verspätet, eine Viertelstunde offiziell, die laut meinem Handy gut 20 Minuten dauerte, „Dreckskaff“, murmelte der einzige Mensch, der außer mir am Bahnhof stand. Das UTZ-UTZ-UTZ war hier nur noch gedämpft zu hören, völlig verstummte es aber nur, wenn einer dieser unzähligen Güterzüge durch den Bahnhof rumpelte. „Drecksbahn“, murmelte der Mann neben mir. Spannender Typ.
Dann kam der Zug, der schimpfende Mann und ich stiegen ein, der Zug fuhr los. Raus aus dem Bahnhof, raus aus der Stadt, weg von dem UTZ-UTZ-UTZ-UTZ.
Stundenlang fuhr ich durch Gegend. Alles war sehr grün, auch die Flüsse, irgendwann schlief ich ein, und nach ein paar Stunden war ich da. Angekommen. In Hamburg, einer Großstadt, in der die Fußgängerampeln zwei rote Männchen haben. Ich stieg aus, wurde erwartet, hörte ein „Schön, dich zu sehen“, sagte etwas mit ähnlichem Inhalt und meinte es ernst.
Später erfuhr ich den Grund für die Zugverspätung: Im Bahnhof Sternschanze ist eine Weiche kaputt, Züge müssen umgeleitet werden und bringen den Fahrplan in ganz Deutschland durcheinander. Soll da mal noch einer sagen, man würde in der Provinz nicht doch was von Großstadt merken.
Text: alexander-just - Illustration: Katharina Bitzl