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Korpsgeist bei der Polizei: Was kann man dagegen tun?
Ewald Igelmund ist ein hochgewachsener Mann mit gemütlichem Gang und gemütlicher Stimme. Er spricht langsam und ruhig. An einem frühen Montagmorgen steht der Polizeihauptkommissar vor knapp einem Dutzend Polizeischüler*innen, die uniformiert und mit Blick zur Kreidetafel an kleinen Tischen sitzen. Gelblich diffuses Licht strahlt aus den weißgrauen Deckenfliesen und spiegelt sich in dem grauen Linoleum-Boden. Es ist eine Atmosphäre, wie sie auf dem gesamten Gelände der Spandauer Polizeiakademie am westlichen Ende Berlins herrscht: eher kühl und nüchtern. In einem der modernen Gebäudewürfel sitzt die Klasse F19-L1. Diese Abkürzung steht für die Klasse 1 der sogenannten „Lebensdienstälteren Anwärter“, also die 30- bis 39-Jährigen, die 2019 mit der Ausbildung begonnen haben. An jenem Morgen werden sie von Ewald Igelmund im Fach Politische Bildung unterrichtet.
Begriffe wie „Rasse“, „Ethnie“, „Erbgut“ und „Antisemitismus“ werden in den nächsten 45 Minuten fallen. Denn Igelmund hat eine Beamer-Präsentation vorbereitet, mit der er im Schnelldurchlauf durch die Geschichte des Rassismus führen wird, angefangen bei der biologischen Systematik des Homo Sapiens über Darwins „Rassentheorie“ bis hin zum Judenhass der NSDAP.
Es ist kein Zufall, dass sich Igelmund gerade jetzt dieses Thema ausgesucht hat – in einer Zeit, die fast schon eine Zäsur für die Institution Polizei markiert. Hinter Igelmund und seinen Kolleg*innen liegen Wochen und Monate, in denen die grausamen Bilder von der tödlichen Festnahme von George Floyd um die Welt gegangen sind. In denen Tausende durch die Straßen zogen, um gegen rassistische Polizeigewalt zu demonstrieren. Wochen, die auch auf die deutsche Polizei ein Schlaglicht geworfen haben – denn auch hierzulande ist das Selbstverständnis der Staatsbehörde und ihr Umgang mit dem Gewaltmonopol ein Dauer-Streitthema, das nun wieder heftiger diskutiert wird.
„Ablehnung stärkt den Zusammenhalt in der Gruppe”
Weil auch in Deutschland brutale Polizeigewalt Realität ist, wie immer wieder Videoaufnahmen von Einsätzen beweisen. Weil immer wieder rechtsextreme Netzwerke aufgedeckt werden, die wie in Hessen ihre Zugänge zu Polizei-Computern nutzen, um rechtsextreme Drohschreiben an Journalist*innen und Prominente zu verschicken. Oder die sich – um das jüngste Beispiel zu nennen – in Chat-Gruppen rassistische Sprüche und Bilder hin- und herschicken. Oder der jetzt vom ARD-Magazin Monitor aufgedeckte Chat Berliner Polizisten, der offenbar voll von rassistischen Äußerungen und Hass auf Andersdenkende ist.
Andersherum kommt es auch immer wieder zu Gewalt gegen Polizeibeamt*innen. Die Klasse F19-L1 erinnert sich an das Wochenende, als unter dem Widerstand einiger linker Demonstrant*innen die Neuköllner Kiezkneipe Syndikat geräumt wurde, wobei die Berliner Polizei einem Gerichtsvollzieher zu Hilfe kam. Rund 500 Personen riefen anschließend zu einer Spontandemonstration auf dem Richardplatz auf, wo es zu Stein- und Flaschenwürfen kam. Ein Kollege soll laut Aussagen der Berliner Polizei gezielt angegriffen und schwer verletzt worden sein.
„Wie geht man als Polizist*in damit um?“, fragt Igelmund in die Klasse. Ein Schüler meldet sich: „Das ist nicht die breite Masse der Gesellschaft“, sagt er über die Randalierenden. „Das muss man als Polizist einordnen können.“ Und doch sei ihm bewusst, dass das nicht einfach sei: „Ich kann mir schon vorstellen, dass das bei dem ein oder anderen Kollegen irgendwann zu einem Scheuklappendenken führt.“ Bei manchen Beamt*innen würden sich sicherlich Vorurteile gegenüber bestimmten politischen Gruppen einstellen, wenn sie solche Ereignisse immer wieder erlebten, vermutet der junge Mann. „Dabei sollte man differenzieren können“, ergänzt eine Schülerin. „Zwischen links und linksextrem zum Beispiel“.
Genau diese Problematik sieht auch Christian Klann, ebenfalls Lehrer für Politische Bildung, der sich nach dem Unterricht für ein Gespräch bereitgestellt hat. Die zunehmende Antipathie einiger Teile der Gesellschaft gegenüber der Polizei beschäftigt den Beamten. „Wenn Polizisten immer häufiger Ablehnung erfahren oder gar unter Generalverdacht gestellt werden, dann stärkt das den Zusammenhalt in der Gruppe. Und dann wiederum kann es passieren, dass sich die Polizei immer mehr von der Gesellschaft abschottet.“ Es sind die ersten Anzeichen für die Ausbreitung einer sogenannten „Cop Culture“, eines übertriebenen Korpsgeistes innerhalb der Gruppe, die Klann beschreibt. Eine Kultur, die letztlich auch dazu führen kann, dass Missstände innerhalb der Polizei verschwiegen werden. Aus Angst vor den Kolleg*innen.
„Entweder ist man zugehörig oder man entfernt sich“
Welche Auswirkungen es haben kann, wenn sie sich tatsächlich entwickelt, die „Cop Culture“, die „negative Subkultur“ innerhalb des Beamtenkreises, das hat Günter Schicht schon mehrmals erlebt. Bis in die 1990er Jahre hat der Berliner bei der Kripo gearbeitet, vorher bei der Schutzpolizei. Inzwischen hat sich der ausgebildete Kriminalist als Berater und Dozent selbstständig gemacht, unterrichtet selbst angehende Polizeischüler*innen und forscht sozialwissenschaftlich zu Themen wie Racial Profiling, Polizeikultur und der Bedeutung von Zugehörigkeitsgefühlen zwischen Beamt*innen.
„Es gibt kein zwischendrin“, sagt der ehemalige Polizist. „Entweder ist man zugehörig oder man entfernt sich. Aber dann wird man von der Gruppe ausgeschlossen.“ Die Geschichte einer ehemaligen Schülerin habe genau das erst kürzlich wieder bestätigt: Bei einer Festnahme sei einer ihrer Kollegen gewalttätig geworden, habe dem bereits gefesselten Festgenommen in die Seite getreten. Alles spielte sich so schnell ab, dass die junge Kollegin keine Chance hatte dazwischen zu gehen, berichtet Schicht. Der Fall ist am Ende bis vors Gericht gegangen“. Denn die Beamtin hat ihren Kollegen angezeigt – nicht ohne Folgen: Die Hälfte der Belegschaft habe sich gegen sie gewandt, sie eines „unkollegialen“ Verhaltens bezichtigt. „Man scheißt keine Kollegen an“ – solche und andere Sätze habe sie zu hören bekommen. „Vor allem die jüngeren Beamten haben aber zu ihr gehalten“, so Schicht.
„Sie hat sauber agiert“, findet Schicht. Was der ehemalige Polizeibeamte von sich selbst nicht immer behaupten konnte. Aus seiner Dienstzeit hat er allerlei Geschichten parat, in denen er sich selbst gegen seine Beamtenkollegen hätte stellen müssen – und untätig geblieben ist. Während einer Observation zum Beispiel, als ein Kollege in seinem Beisein gestohlen hat. Oder damals bei der Kripo, als er diesen einen Kollegen hatte, der sich regelmäßig damit gebrüstet hat, die Leute bei seinen Vernehmungen zu schlagen. „Perfiderweise hat er extra darauf geachtet, dass seine Schläge zwar schmerzen, aber keine Spuren hinterlassen, damit ihm nichts nachgewiesen werden kann“, erinnert sich Schicht. In beiden Fällen hat er geschwiegen. Bis heute bereut er das.
„Stellt man sich gegen einen Kollegen, dann geht man unter Umständen große Risiken ein, aus der Gruppe herausgemobbt zu werden. Und damit das nicht passiert, wirft man plötzlich die eigenen Prinzipien über Bord“, erklärt der Kriminalist. Aber wie durchbricht man diesen Kreislauf? „Dafür braucht es viel Selbstbewusstsein und Mut“, sagt er.
„Wenn man zu lange nichts sagt, wird man ein Teil davon“
Mut, den vor allem zu Beginn der Ausbildung nicht jeder hat, meint Christian Klann. Der Berliner ist seit 25 Jahren bei der Polizei beschäftigt, hat in verschiedenen Stabsbereichen und Abschnitten gearbeitet. „Als Dienstanfänger mit Anfang 20 fällt es schwer, sich gegen die Altgedienten zu stellen und etwas zu beanstanden“, sagt der Fortbilder und erinnert sich an seine eigene Ausbildung: In einen Kreis aus alteingesessenen Kolleg*innen in einer Einsatzgewerkschaft zu kommen und als „der Neue“ deren Verhalten oder Methoden anzukreiden, komme nicht gut an. Trotzdem rate er seinen Schüler*innen immer genau dazu. Wenn sich Kolleg*innen fragwürdig über Einsätze oder andere Beamte äußern zum Beispiel. Oder wenn jemand bei einer Festnahme überhart reagiert. Denn: „Wenn man zu lange nichts sagt, wird man ein Teil davon.“
Das zu verhindern, sei aber auch Aufgabe der Ausbilder, meint Klann. Gleich zu Beginn würden bei vielen jungen Polizist*innen Ideale zerstört – weil meist weder die Dealer im Görlitzer Park noch die Demonstrierenden in der Innenstadt wollten, dass man ihnen helfe, sagt er. Das zu erkennen, hinterlasse Spuren. Vielen seiner eigenen Ausbilder damals hätte die Sensibilität gefehlt, um auch mal zu merken, dass sich ein junger Beamter oder eine junge Beamtin allein gelassen fühlt oder jemanden zum Reden braucht. Tatsächlich aber müsse man den Schüler*innen immer wieder klarmachen, dass sie gewisse Vorkommnisse nicht persönlich nehmen und in sich hineinfressen dürfen.
Es gibt einen Unterschied zwischen positivem und negativem Korpsgeist
Ewald Igelmund liegt viel daran, den Unterschied zwischen einem positiven und einem negativen Korpsgeist klarzustellen. Einen ‚Esprit de Korps‘ finde er gar nicht schlecht, so der Polizeihauptkommissar. Einen positiven „Geist“, der in der Truppe herrscht und der den Beamten das Gefühl gibt, respektiert und Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Dieser Korpsgeist könne aber auch ins Negative umschwenken. „Das Risiko gibt es natürlich“, so Igelmund. „Und deswegen sollte man da immer einen Blick drauf haben.“ Solche Auswüchse könne Igelmund derzeit aber nirgendwo in der Spandauer Polizei beobachten: „Die Fluktuation in der Belegschaft ist auch viel zu hoch, dass sich ein übertriebener Korpsgeist entwickeln könnte.“ Wie es in anderen Bundesländern oder bei der Bundespolizei aussieht, dazu könne er keine Auskunft geben, so Igelmund.
Vor allem aber brauche es gute Vorgesetzte, die mit einer toleranten und liberalen Einstellung durch die Welt gehen. Die zeitgemäße Werte vertreten, statt an archaischen Denkmustern und einer Kultur festzuhalten, die auf Autoritäts- und Hegemonieansprüchen basiert, wie es der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr einmal in einer Studie beschrieben hat. Ausbilder, die selbst differenziert auf gesellschaftliche Ereignisse blicken und ihren Schüler*innen genau das beibringen, statt pauschalisierend gegen ethnische Minderheiten oder „die linken Zecken von der Rigaer Straße“ zu hetzen. „Das ist die Aufgabe von Politischer Bildung“, sagt Schicht.
Gerade im Mittleren Dienst aber, zu dem auch an der Polizeiakademie in Spandau ausgebildet wird, würden manche Lehrkräfte noch „wie damals“ ticken, in einem gestrigen Polizeiverständnis leben, das sie aus ihrer eigenen Zeit als Polizisten mitgenommen haben. Ein Polizeiverständnis, das nach dem Gesetz des Stärkeren funktioniert und vor allem konservative Werte vertritt, in der alte Rollenbilder und ein patriarchaler Führungsstil herrschen.
Schicht sagt, die Jüngeren würden sich immer häufiger selbst hinterfragen
Dass jene Denkmuster von Vorgestern nach wie vor existieren, will auch Christian Klann nicht ausschließen: „Wir haben hier Kollegen, die eine gänzlich andere Ausbildung genossen haben“, sagt er auf die Frage danach. Im Bereich Politische Bildung sei das aber nicht der Fall. Letztlich sei es auch eine Generationenfrage, meint Günter Schicht: „Das ist ein evolutionärer Prozess und der ist bereits im Gang.“ Die Jüngeren unter den Beamt*innen würden sich immer häufiger selbst hinterfragen und selbst kritisch auf die Polizeibehörde blicken. Etwas, das vor ein paar Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre.
Die neue Generation, das sind Polizist*innen wie sie: die Klasse F19-L1. Mehrere Praktikumseinsätze bei verschiedenen Dienststellen liegen noch vor ihnen. Einige werden vielleicht in einem Abschnitt eingesetzt, andere einer Hundertschaft zugeordnet werden. Wem werden sie dort begegnen, auf welche Einstellungen werden sie treffen? Und wie werden sie am Ende tatsächlich reagieren, wenn sie vor der Frage stehen: Dazu gehören oder ausgeschlossen werden?
Ein junger Mann in der ersten Reihe meint die Antwort schon jetzt zu kennen: „Ich würde es auf keinen Fall tolerieren, wenn jemand gegen das Gesetz verstößt“, sagt er bestimmt. „Man sollte gradlinig genug sein, da nicht mitzuziehen und Teil dieses Teufelskreises zu werden.“ Angst, sich gegen die Gruppe zu stellen, hätte er nicht. „Ich würde solche Sachen immer wieder ans Tageslicht bringen.“ Ein zustimmendes Raunen geht durch den Klassenraum. Dann murmelt ein anderer Schüler in der letzten Reihe noch etwas: „Das Bild von der Polizei ist schon so schlecht, das muss man nicht noch schlechter machen.“