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Generationenkolumne: Jüdisches Leben in Deutschland
In dieser Kolumne geht es darum, wie unterschiedliche Generationen aufs Leben schauen. In der zweiten Folge spricht eine jüdische Familie über ihre Verbindung zum Judentum, über die Erinnerung an die Shoah, Antisemitismus und ihre größten Vorbilder.
In dieser Kolumne geht es um ein Thema, das eine Familie verbindet. Drei Generationen – drei Perspektiven. Eine Kolumne über rote Fäden. Leon, seine Mutter Alisa und Alisas Mutter Orna sind jüdisch und alle Teil des Projekts „Meet a Jew“, über das sie in Schulen Fragen zum Judentum beantworten. Auch im Gespräch mit jetzt erzählen sie über ihre Religion und was diese für sie bedeutet.
Es antworten:
Orna Marhöfer: 69, kam im Alter von drei Jahren nach Deutschland, nachdem ihre Eltern während des Zweiten Weltkriegs in das heutige Israel geflüchtet waren. Lebt heute in Mannheim, ist ehemalige Vorständin der jüdischen Gemeinde und arbeitete bis zu ihrer Berentung als Sozialpädagogin. Sie fühlt sich sehr verwurzelt mit ihrem jüdischen Glauben.
Alisa Marhöfer: 39, lebt mit ihrer Familie in Mannheim und arbeitet als Sozialpädagogin im Jugendamt. Sie lebt nicht traditionell jüdisch, doch sie beschreibt die jüdische Gemeinde als einen Ort, an dem sie sein kann, wie sie ist.
Leon Marhöfer: 15, ist viel in der Jugendarbeit der jüdischen Gemeinde aktiv. Der soziale und freundschaftliche Umgang dort ist für ihn ein wichtiger Teil seines Lebens.
Inwieweit hat dein Glaube deine Kindheit geprägt?
Orna Marhöfer: Ich war schon immer eng mit dem Judentum verbunden. Ich bin in Tel Aviv geboren, da meine Eltern im Zweiten Weltkrieg rechtzeitig in das heutige Israel flüchten konnten. Mein Vater wollte nach dem Krieg zurück nach Deutschland, so bin ich in Kaiserslautern aufgewachsen. In den 60er Jahren gab es hier keine multikulturelle Gesellschaft. Als jüdisches Kind war man eher exotisch. Umso mehr war die jüdische Gemeinde immer Heimat und Gemeinschaft für meine Familie und mich.
Alisa Marhöfer: Auf jeden Fall stark. Meine Großeltern und Eltern haben noch traditioneller gelebt als ich. Am Freitagabend haben wir immer gemeinsam Shabbat gefeiert. Da meine Großeltern den Holocaust überlebt haben, war auch dieses Thema in meiner Kindheit immer präsent. Meine Oma stammt aus Polen. Sie konnte im Krieg rechtzeitig flüchten, doch ihr Vater und andere Angehörige wurden ermordet. Sie hat nie mit mir darüber gesprochen, doch die Shoah war ein ungebetener Gast, der mit am Tisch saß.
Leon Marhöfer: Mein Glaube hat meine Kindheit sehr positiv geprägt. Ich bin über die jüdische Gemeinde immer auf Machanot, also auf jüdischen Feriencamps. Das macht mir viel Spaß. Ich glaube, Aktivitäten wie diese haben mich auch sehr sozial gemacht und meine Fähigkeiten mit Menschen gestärkt.
Wie unterscheidet sich dein jüdisches Leben von dem der anderen Generationen?
Orna Marhöfer: In meinen jungen Jahren war das jüdische Leben in Deutschland im Aufbau. Menschen, die aus den Konzentrationslagern zurückkamen, haben sich unter großen Schwierigkeiten ein neues Leben hier geschaffen. Das Angebot der jüdischen Institutionen war noch nicht so gut entwickelt. Heute gibt es deutlich mehr gemeinsame Aktivitäten, die zum Beispiel mein Enkelsohn viel wahrnimmt.
Alisa Marhöfer: Das ist eine spannende Frage. Ich habe zwei Schwestern, die ihre Religion traditioneller leben als ich, obwohl sie aus meiner Generation kommen. Mein Sohn wiederum hat von sich aus begonnen, sich sehr für seine Religion zu interessieren. Ich glaube, es ist also immer von der Persönlichkeit abhängig, wie das Judentum gelebt wird.
Leon Marhöfer: Ich glaube, es wird für die jüngeren Generationen immer schwieriger, streng religiös zu leben. In unserer Leistungsgesellschaft ist es nicht leicht, die Zeiten zum Beten einzuhalten. Strenge Juden dürfen an Shabbat auch keine Handys benutzen. Das ist ja heute fast unmöglich. Manche Freund:innen versuchen es, doch sie müssen vor und nach Shabbat schnell Snaps versenden, aus Sorge, sie könnten ihr Social Media vernachlässigen.
Welche Rolle spielt das Gedenken an die Shoah in deinem Leben?
Orna Marhöfer: Eine sehr, sehr große Rolle. Ich habe es für mich immer als überaus großen Auftrag empfunden, den unzähligen Opfer dieses Völkermordes zu gedenken und mit jungen Menschen ins Gespräch zu gehen. Ich war immer der Meinung: Wäre ich nur ein paar Jahre älter, hätte mich der Krieg genauso betroffen.
Alisa Marhöfer: Für mich ist es sehr wichtig, nicht zu vergessen und immer zu erinnern. Wir Jüd:innen können nicht anders, als uns zu erinnern. Es ist ein Privileg, sich frei dazu entscheiden zu können. Ich fände es schön, wenn noch mehr nichtjüdische Menschen dieses Privileg nutzen würden.
Leon Marhöfer: Ich denke, man sollte niemals vergessen. Es passieren auch heute genug schlimme Dinge auf der Welt. In Iran zum Beispiel, oder in China, wo die Uiguren verfolgt werden. Man sollte immer schauen, was man selbst tun kann, damit so etwas wie die Shoah nie wieder passiert.
Hast du in deinem persönlichen Leben Antisemitismus erfahren?
Orna Marhöfer: Leider haben antisemitische Handlungen und auch gewaltvolle Übergriffe massiv zugenommen. Ich bin natürlich Alltagsantisemitismus ausgesetzt, doch ich wurde noch nie körperlich angegriffen. Ich antworte auf diese Frage aber immer: Das, was täglich an antisemitischen Übergriffen passiert, betrifft mich auch persönlich.
Alisa Marhöfer: Je älter ich werde, desto subtiler erlebe ich Antisemitismus. Besonders zum Thema Geld höre ich öfter unangenehme Kommentare. Einmal hat jemand in einem Gespräch über Steuern zu mir gesagt: „Aber du musst doch eh keine Steuern zahlen.“ So blöd kann man doch nicht sein, natürlich muss auch ich Steuern zahlen.
Leon Marhöfer: Meist sind es Kommentare, die nicht böse gemeint sind, doch es gibt auch positiven Antisemitismus. Einmal hat zum Beispiel jemand gesagt: „Ah, da ist mein Lieblingsjude.“ Das war mir sehr unangenehm. Vor allem, weil der Kommentar aus einer Gruppe heraus kam. Ich wusste nicht, wer es war, und konnte daher nicht persönlich mit der Person darüber sprechen und sie darüber aufklären, wieso das unangemessen ist. Aufklärung ist mir hier sehr wichtig.
Was war dein erster Gedanke, als du vom Anschlag in Halle gehört hast?
Orna Marhöfer: Eine schreckliche Bedrohung und eine furchtbar menschenverachtende Tat. Meine Gedanken waren bei den unschuldigen Opfern. Es verfolgt mich bis heute, was passiert wäre, wenn der Attentäter in die Synagoge hineingekommen wäre.
Alisa Marhöfer: Ich erinnere mich sehr gut. Wir waren alle zu Jom Kippur in der Synagoge und nach dem Gottesdienst stand viel mehr Polizei vor der Tür als sonst. Zuhause habe ich dann erfahren, dass es einen Anschlag gab. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich hatte so viele Gefühle und Gedanken. Zum Beispiel, ob meine Söhne in Zukunft sicher in Deutschland leben können. Ich mache mir oft Sorgen um meine Söhne.
Leon Marhöfer: Ich hatte danach ein bisschen Angst, in die Synagoge zu gehen. Das klingt jetzt vielleicht übertrieben, aber ich habe im Gottesdienst immer überlegt, wo ich mich verstecken würde, wenn ein Attentat passieren würde.
Hast du mal darüber nachgedacht, auszuwandern?
Orna Marhöfer: Bisher habe ich noch nicht an Auswandern gedacht, aber ich kann auch nicht sagen, dass es ewig so bleiben wird. Die Welt ist im Umbruch, autokratische Systeme gewinnen an Bedeutung und manchmal frage ich mich, wie lange Demokratien stabil bleiben und ihre Minderheiten schützen können.
Alisa Marhöfer: Schon, aber ich frage mich wohin. Sollte es einmal nötig sein, wäre wohl Israel meine erste Wahl. Meine Schwester lebt dort und ähnlich wie die Gemeinde hier, ist Israel für mich ein geschützter Ort. Gleichzeitig ist es mir fremd. Ich bin in Deutschland geboren und verwurzelt.
Leon Marhöfer: Jeden Tag. Doch nicht wegen Antisemitismus, sondern weil es hier kalt ist. Winter finde ich hier ganz schlimm.
Hast du ein jüdisches Vorbild?
Orna Marhöfer: Für mich gibt es nur ein Vorbild: Meine Großmutter väterlicherseits. Diese Frau hat vor dem Krieg Hitlers „Mein Kampf“ gelesen und inmitten der wohlsituierten Verhältnisse, aus denen sie kam, gesagt: „Wenn jemand so ein Buch schreibt, dann kann nichts Gutes für uns kommen.“ Mein Opa wollte Deutschland nicht verlassen. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg und dachte, uns könne nichts passieren. Meine Oma war eine starke Person. Wegen ihr ist die Familie rechtzeitig geflüchtet.
Alisa Marhöfer: Ich schätze Michel Friedmann sehr. Er spricht Klartext und setzt sich stets für Juden und Jüd:innen in Deutschland ein. Auch seine Bücher finde ich sehr bewegend und treffend.
Leon Marhöfer: Meine Religionslehrerin. Sie unterscheidet immer zwischen ihrer Antwort und der Antwort des Judentums. Sie geht auch auf Themen ein, die im Judentum neu behandelt werden müssen. Zum Beispiel auf das Thema LGBTQ. Sie kann sich auch eingestehen, wenn sie etwas nicht weiß und gendert immer, da blüht mein Herz auf. Sie ist einfach eine sehr woke Frau.
Was bedeutet deine Religion für dich in einem Wort?
Orna Marhöfer: Heimat.
Alisa Marhöfer: Lebensfreude.
Leon Marhöfer: Freundschaft.