- • Startseite
- • Politik
-
•
Wie sich Massenproteste auf der Welt unterscheiden
Hongkong, Indonesien, Chile, Iran, Irak, Ägypten, Fridays For Future. Weltweit scheint es derzeit so viele Massenproteste zu geben, wie schon lange nicht mehr. Doch ist die Welt gerade tatsächlich in Aufruhr, oder ist die aktuelle Situation eine normale Entwicklung?
Jannis Grimm forscht am Institut für Protest- und Bewegungsforschung zu neuen sozialen Bewegungen im Nahen Osten und Nordafrika. Zuvor promovierte er an der Freien Universität Berlin zu Protest und Repression in Ägypten und der Türkei.
jetzt: Jannis Grimm, gibt es derzeit wirklich ungewöhnlich viele Massenproteste, oder wirkt das auf uns nur so?
Jannis Grimm: In Deutschland gibt es derzeit tatsächlich so viele Proteste, wie man es seit einer Weile nicht gesehen hat. Auch die Kontinuität dieser Proteste ist etwas Neues, so wie bei Fridays For Future, Hambacher Forst, Pegida oder Extinction Rebellion. Ob es global mehr Proteste gibt, als in den letzten Jahren, ist eher fraglich. Definitiv ist es aber so, dass es zur Zeit deutlich mehr Aufmerksamkeit für Proteste gibt.
Woran liegt das?
Zurzeit wird auf der Welt viel zu Themen demonstriert, die den Menschen in Deutschland eher am Herzen liegen oder zu denen Sie in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit einen größeren Bezug herstellen können. Deswegen wird mehr darüber berichtet.
Jannis Grimm erforscht seit Jahren Massendemos.
Welche Massenproteste der vergangenen Jahre wurden weniger beachtet?
Die in Brasilien. Da gab es Massenproteste, die Jair Bolsonaro überhaupt erst ermöglicht hatten, Präsident zu werden. Vor kurzem gabt es in Ägypten Proteste, über die berichtet wurde – vor drei Jahren gab es dort Proteste mit größerem Ausmaß, die seltener in die deutschen Nachrichten kamen. Heute reihen sich die Proteste in das Narrativ einer neuen globalen Welle ein. Es gibt eine Tendenz, diese Proteste als Symptome ein und derselben Ursache zu sehen. Aber zwischen den Protesten in Algerien und Indonesien gibt es wenig, was sich gegenseitig bedingt. Es gibt sicherlich den Effekt, dass sich innerhalb einzelner Weltregionen soziale Bewegungen gegenseitig befördern – etwa im Nahen Osten und in Nordafrika. Doch eine globale Ansteckung gibt es aktuell nur bei den Klimaprotesten.
„Es gibt das Gefühl, dass die Politik es nicht mehr schafft, Probleme zu lösen“
Gibt es nichts, was politische Bewegungen international verbindet?
Wenn man eine Gemeinsamkeit zwischen den Protesten finden will, ist es ein Gefühl. Es findet sich leider bei rechten Protesten in Deutschland genauso wieder wie im Irak, im Libanon, in den USA und in Indonesien. Das Gefühl: Das politische System ist nicht mehr in der Lage, unsere Bedürfnisse wirksam zu erfüllen.
Was heißt das?
Da geht es nicht um ein konkretes Problem, das gelöst werden soll, sondern da wird an der Effizienz der Regierung gezweifelt. Es gibt das Gefühl, dass die Politik es nicht mehr schafft, Probleme zu lösen. Das ist ein neuer Tenor.
Aber beeinflussen sich Proteste nicht gegenseitig – auf fast allen Demos sieht man beispielsweise das Schild „I’m so angry, I even made a sign!“
Gerade durch die Sozialen Medien findet eine Kommunikation statt, durch die man sich Muster abgucken kann: Wie organisiert man einen Protest? Wie geht man mit Tränengas und Pfefferspray um? Wie wäscht man sich am besten die Augen aus? Welche Schilder sind besonders motivierend? Oft werden Slogans von anderen Protesten aufgegriffen, um eine Referenz zu schaffen und seinen Protest in einen globalen Rahmen zu bringen.
„Das sind Schüler, die sagen sie gehen freitags nicht mehr zur Schule. Das irritiert, das ist etwas ganz Neues“
Welche Mittel sind beim Protestieren besonders zielführend?
Oft hilft Gewaltfreiheit, aber das ist nicht immer so. Es gibt sowohl gewaltsame als auch gewaltfreie Bewegungen, die extrem erfolgreich waren. Das hängt immer davon ab, was in einer Gesellschaft als legitimer Ausdruck politischer Meinung gilt.
Heißt das, dass Proteste in der EU anders sind, als in Asien und in der arabischen Welt?
Es gibt eine stärkere Homogenität bei Protesten in Gegenden, die sich kulturell ähneln. Nicht im Sinne einer deutschen oder europäischen Kultur, sondern einer politischen Kultur. In einer Demokratie gibt es bestimmte Wege, über die man seinen politische Dissens ausdrücken kann. Es gibt einen Konsens darüber, was okay ist und was nicht.
Was ist denn in einer Demokratie nicht akzeptiert?
Das Radikale. Es muss nicht unbedingt Gewalt sein, es kann auch etwas Neues sein, was Unterbrechung und Disruption erzeugt und erstmal irritiert. Extinction-Rebellion-Proteste sind ein gutes Beispiel dafür, aber eben auch Fridays for Future. Das sind Schüler, die sagen sie gehen freitags nicht mehr zur Schule. Das irritiert, das ist etwas ganz Neues.
Was ist bei Protesten in einer Diktatur oder in einem Sicherheitsstaat anders?
Es wird eher zu Gewalt gegriffen. Steinewerfen, starke Blockaden, Autos in Brand setzen – das ist in einer aufgeheizten Protestsituation deutlich legitimierter, wo Leute im Alltag Gewalt gewohnt sind. Wo Gewalt ein normales Mittel zu Durchsetzung ist.
Was sind die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Protest?
Das ist die Suche nach dem heiligen Gral. So unterschiedlich die Bewegungen und Massenproteste sind, so unterschiedlich sind auch die Erfolgschancen. Es gibt eine Grundkonstante: Proteste sind erfolgreich, wenn sie große Massen mobilisieren und mit einer gewissen Regelmäßigkeit Aufmerksamkeit erzeugen. Aber diese Aufmerksamkeit muss sich in irgendeine Form von Organisation niederschlagen. Ansonsten ist der einzige Erfolg, dass man Menschen mobilisiert hat.
Ist das nicht auch schon ein Erfolg? Hat das keinen Einfluss?
Doch, die Leute sprechen über das Anliegen und es spielt in den Gedanken der Menschen eine Rolle. Das ist aber noch lange nicht der gewünschte Effekt. Dadurch entsteht kein Gesetz.
Wie kommt es dazu, dass ein Protest zu einem Gesetz wird?
Auf der Welt hat es noch keine Massenbewegung geschafft, ihre Ziele in irgendeiner Form im politischen System zu verankern, ohne dafür Kompromisse einzugehen. Es ist immer wichtig, verschiedene Stimme mit ins Boot zu holen, die in einem anderen Umfeld als Multiplikatoren wirken. Historisch gesehen waren die sozialen Bewegungen am erfolgreichsten, die sowohl „innen“ Leute sitzen hatten, die Zugänge zu politischen Entscheidungsträgern hatten, als auch „außen“ Leute, die Druck aufbauen konnten.
Was heißt das für eine Protestbewegung wie Fridays For Future?
Sehr, sehr viele Menschen würden eine restriktivere Klimapolitik befürworten, aber sind nicht bei Fridays for Future dabei. Weil sie arbeiten müssen, weil sie keinen Zugang haben, weil in ihren Städten so etwas nicht organisiert wird, weil sie zu alt sind. Aber sie unterstützen die Ziele und die Gruppe. Und das ist auch nötig, damit der Protest im System ankommt, zum Beispiel durch Wahlentscheidungen oder durch Engagement in Parteien.