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Wie bilde ich mir eine politische Meinung?

Illustration: Janina Schmidt

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Als ich 14 war, trafen meine Klassenkameraden und ich uns regelmäßig bei mir zu Hause im Wohnzimmer zu Philosophierrunden. Ich organisierte Chips, backte einen Hefezopf und zupfte die Tagesdecke auf dem empfindlichen Sofa besonders kleinlich zurecht. Schon damals, als es um die uneindeutigen Themen ging, die man in der Pubertät langsam entdeckt – den Sinn des Lebens zum Beispiel – gab es Personen, die eine klare Meinung hatten. Da gab es kein „vielleicht“ oder „eher“, da war alles ein „das ist“ und ein „sicher“.

Ich fand das ziemlich beeindruckend. Und auch jetzt, fast zehn Jahre später, wo wir uns den beeinflussbareren Problemen unserer Welt – sprich: der Politik – zugewandt haben, lausche ich immer noch ehrfürchtig denen, die scheinbar genau wissen, wovon sie reden. Die sich schon sicher sind, wen sie im September wählen, und wissen, mit welchen Mitteln man in diesem Land Chancengleichheit schaffen kann oder was die richtige außenpolitische Taktik im Umgang mit Erdogan ist.

Mich schüchtert das immer ein bisschen ein. Ich fühle mich wie ein kleines Papierboot auf stürmischer See: Die Aussage von Partei A wirft mich zur einen, die Aussage von Partei B zur anderen Seite. Bis ich ziemlich orientierungslos, durchweicht und verzweifelt bin, weil sich all diese kleinen Meinungsschnipsel nicht zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen lassen, und deshalb in Diskussionen meist schweige.

Wie also finde ich eine politische Meinung? Wie erkenne ich überhaupt, dass ich mein Ziel erreicht habe und meine Meinung fertig ausgereift ist? Und nicht zuletzt: Wie schaffe ich es, meine Meinung zu verteidigen, wenn ich sie gefunden habe?

Schritt eins: Der Unterschied zwischen Meinung und der Fähigkeit, ein Urteil zu fällen

Die Bundeszentrale für politische Bildung ist dafür zuständig, dem Bürger politische Sachverhalte näherzubringen, dafür zu sorgen, dass er sie versteht und im besten Fall mitwirken möchte. Sie ist zum Beispiel für den beliebten Wahl-O-Mat verantwortlich. Den habe ich tatsächlich nicht selten genutzt, um einen Überblick darüber zu bekommen, welche Partei für mich denn überhaupt in Frage kommt. Doch kann eine Maschine wirklich wissen, was ich denke?

Professor Dr. Ingo Juchler ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung und Leiter des Lehrstuhls für politische Bildung an der Universität Potsdam. Am Telefon schickt er erst einmal voraus, dass es einen Unterschied zwischen einer politischen Meinung und der Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung gebe: „Eine Meinung hat man zu allem. Sie fußt meist auf unsicherem Wissen, ist oberflächlich, abhängig von den eigenen Interessen, den eigenen Gefühlen, dem Weltbild. Natürlich braucht man diesen Mechanismus auch, zum Beispiel, um sich schnell ein Bild von etwas machen zu können. Wenn man in einer Demokratie mitbestimmen will, muss man aber mehr haben als eine bloße Meinung.“

 

Immerhin: Eine Meinung scheine ich von Haus aus mitzubringen. Noch ein Detail in Juchlers Aussage macht mir Mut: Er spricht von einer „Fähigkeit“. Das klingt nach etwas, das man lernen kann. Für das man aber auch Übung braucht und das Anstrengung bedeutet.

 

„Die Fähigkeit zur politischen Urteilsbildung setzt im Gegensatz zur Meinung Reflexion voraus. Wer sie besitzen will, muss über  den Tellerrand schauen“, erklärt Juchler. „Bei Kant nennt man das eine ‚erweiterte Denkungsart’. Das bedeutet einfach, dass man von sich selbst absieht und die Interessen und Meinungen anderer in das eigene Urteil miteinbezieht. Dadurch ist das Urteil nicht mehr bloß subjektiv.“ Ganz objektiv könne es aber natürlich auch nie sein. Klar, wir sind auch bloß Marionetten unseres eigenen Geistes. Über den Tellerrand sehen können wir nur so weit, wie die Fäden es zulassen.

 

Juchler hat sogar praktische Anwendungstipps für mich: „Lesen Sie Medien, die Sie sonst nicht lesen würden, die nicht Ihre eigene Meinung widerspiegeln.“ Das klingt machbar. Im Alltag passiert es tatsächlich nie, dass ich eine Nachrichtenseite außer den einschlägigen, eher linken Qualitätsmedien aufrufe. Dadurch bleibe ich natürlich immer in meiner viel verfluchten Filterblase. Allein ein Blick in die BILD würde helfen, zu verstehen, wie die Welt außerhalb meines Studentenkosmos tickt.

 

Juchlers zweiter Vorschlag ist ein inneres Zwiegespräch: „Stellen Sie sich vor, was jemand anderes zu einem Thema sagen könnte, ein Flüchtling etwa zur aktuellen Flüchtlingspolitik. Was ist seine Perspektive? Wie findet der das wohl? Durch diese Methoden verliert der erste Impuls, der häufig von Vorurteilen geprägt ist, an Kraft.“ Wie eine automatische Bremse also, die voreilige Schlüsse verhindert.

 

Schritt zwei: Die Haltbarkeit einer politischen Meinung

 

Ich hole noch eine zweite Meinung bei Prof. Dr. Julia von Blumenthal ein, einer Kollegin von Juchler im Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung. Außerdem lehrt sie Innenpolitik der Bundesrepublik an der Uni Berlin. Auch sie rät mir, möglichst viele, möglichst unterschiedliche Medien – gedruckt und online – zu lesen. „Außerdem sollte man Gegenargumente sammeln, um die eigene Meinung auf den Prüfstand zu stellen. Echte Argumente sind logische Begründungen. Die kann man auf Plausibilität überprüfen“, fügt von Blumenthal hinzu.

 

Eine politische Meinung, wie ich sie mir vorstelle, so solide und robust wie ein altes Herrenhaus, gebe es sowieso nicht. „Die politische Meinung sollte im Gegensatz zum Wertekodex nichts Festes sein. Man kann sich nur sicher sein, dass man sich irren kann“, sagt von Blumenthal.

 

Die politische Meinung muss man sich also eher als Zelt denken, das man abbauen und an einen anderen Ort verlegen kann, wenn die äußeren Umstände sich verändern. Dieses Weiterziehen solle dann weder von außen, noch von einem selbst als „Umfallen“ angesehen werden. Das setzt aber voraus, dass man seine Meinung kontinuierlich überprüft und auf dem neuesten Stand bleibt. Sonst verpasst man möglicherweise eine Veränderung und vertritt einen Standpunkt, den man mit mehr Hintergrundinformationen vielleicht gar nicht mehr unterstützen würde.

 

Und wann ist meine politische Meinung reif, sich mit der Realität zu messen? „Man sollte die schärfsten Gegenargumente kennen und entkräften können. Dann kann man sich in eine politische Diskussion wagen“, sagt von Blumenthal. Dass das eine Menge Arbeit ist, da sind sich Juchler und von Blumenthal einig. Egal, ob man es „Meinung“ oder „Urteilsfähigkeit“ nennt – fertig ist beides nie. Sondern immer im Fluss. Ein ewiger Kampf vor der eigentlichen Schlacht, die darin besteht, diese Meinung nun auch noch verständlich über die Lippen zu kriegen.

 

Denn das ist schließlich das Ziel: Nicht mehr stumm daneben zu sitzen und anderen dabei zuzuhören, wie sie Blödsinn erzählen, ohne dass man sich selbst traut, etwas beizutragen.

 

Schritt drei: Die eigene Meinung vertreten

 

Tobias Tigges ist zweiter Vorsitzender des Debating Club Heidelberg. Am Telefon frage ich ihn darüber aus, wie ich authentisch rüberkomme.„Um jemanden zu überzeugen, muss ich dem Gegenüber erst einmal zeigen, dass ich seine Position verstehe“, führt Tobias aus. „Anschließend schafft man Gemeinsamkeiten, zeigt, dass man das gleiche Ziel hat und argumentiert schließlich, warum man dieses Ziel mit der eigenen Haltung eher erreicht als mit der des anderen.“ Das allein bedarf schon ziemlich großer Denkleistung. Immerhin muss ich mir genau überlegen, wo sich meine Welt und die meines Debattengegners überschneiden und wie ich unser gemeinsames Ziel definieren kann. Dem Gegenüber aufmerksam zuzuhören ist hier also die Grundlage.

 

Mein nächstes Problem in so mancher angetrunkener Männerrunde: Ernst genommen zu werden. Das könne man vor allem auf inhaltlicher Ebene erreichen, meint Tobias: „Mein Gegenüber muss merken, dass ich mich mit dem Kern des Problems beschäftigt habe. Das macht man, indem man etwa einen Vergleich zieht, der genau zur Grundproblematik passt.“ Ansonsten: Bloß nicht aufgesetzte Mimik und Gestik verwenden, sondern lieber natürlich bleiben. Wenn man eine ruhige Person mit geringer Körpergröße ist, dann sollte man das akzeptieren und nicht versuchen, größer oder lauter zu wirken.

Und wie gehe ich mit dem Typus um, der seine Meinung gerne lautstark verkündet, ohne den geringsten Zweifel zuzulassen? Tobias meint, es würde helfen, sich genau umgekehrt zu verhalten: „Leiser werden. Nicht dem anderen das Wort abschneiden, sondern sauber und ruhig seine Argumente widerlegen.“ Jemand, der im Grunde wirklich keine Ahnung hat, werde sich außerdem selbst entlarven. Dem könne man nachhelfen, indem man mehrmals genau nachfragt. Die Devise lautet auch hier wieder: Gut zuhören, um auf den anderen eingehen und ihn im Zweifel auseinandernehmen zu können. Auf eine freundliche Art und Weise natürlich.

 

Ich fasse zusammen: Eine politische Meinung findet man, indem man sehr viel und ausdauernd liest. Und zwar alles, querbeet und entgegen dem eigenen Meinungsspektrum. Bis man den Kern des Problems verstanden hat und die Argumente der Gegenseite erklären kann. Dann ist man bereit für die Konfrontation innerhalb einer Diskussion. Auf deren Teilnehmer man genauso sensibel eingehen muss wie vorher auf die ungeliebten Medien. Es bedarf also sehr viel Empathie. Und Geduld. Und Einsatz.

 

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