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Wie eine schwangere Geflüchtete in Deutschland traumatisiert wurde
Als Dana Anfang Juli im Kreißsaal der Frauenklinik Nürnberg Süd zur Welt kommt, legt der Arzt sie ihrer Mutter auf die Brust. Ava sieht nicht hin. „Tut sie weg“, sagt sie. Sie weint. Sie kann ihre Tochter an diesem Tag nicht einmal halten. Es ist, als habe sie die Angst der letzten Wochen geboren. Dass die Angst nur zweieinhalb Kilo wiegt und schreit und dass ihr Mann danebensteht und ruft „Es ist alles kaputt“, hilft Ava nicht. In Avas Patientenbrief vom Klinikum Nürnberg Süd heißt es: Posttraumatische Belastungsstörung nach Polizeieinsatz.
Im vergangenen Herbst flieht Ava mit ihrem Mann aus Zentralasien, da ist Ava 24. Ihr Mann Ehmad, 26, Sympathisant einer regimekritischen Partei, war wegen seiner politischen Einstellung bereits einmal inhaftiert worden. Nach seiner Freilassung rieten Freunde dem Ehepaar, ihr Heimatland zu verlassen. Deswegen flohen sie über Russland und Litauen bis nach Deutschland. Sollten sie zurückkehren, erklärt Ava in einer Anhörung zu ihrem Asylantrag im Oktober 2017 in Deutschland, befürchtet sie, dass ihr Mann wieder inhaftiert werden würde. Sie berichtet von geheimdienstlicher Verfolgung. Seit Oktober leben die beiden in Nürnberg in einer Flüchtlingsunterkunft in einem eigenen Zimmer. Wenn Ava von der Unterkunft spricht, sagt sie „zu Hause.“
„Dass in Deutschland eine schwangere Frau so behandelt wird, hat alles in mir erschüttert“, sagt Ehmad
Ava wird schwanger. Ehmad und sie freuen sich auf das Kind, sie glauben, sich integrieren zu können in Deutschland. Ava hat in ihrer Heimat Geografie unterrichtet, Ehmad sein Informatik-Studium abgeschlossen. Im April 2018 erhalten sie einen Ablehnungsbescheid ihres Asylantrages. Sie werden zur Ausreise nach Litauen verpflichtet, der Staat, in dem sie zuerst in der EU registriert wurden. Aber Avas Schwangerschaft ist nicht unkompliziert, immer wieder muss sie stationär in die Frauenklinik. Ihre Anwältin versichert Ava und Ehmad nach Rücksprache mit der zentralen Ausländerbehörde (ZAB), dass sie bis zum Ende des Mutterschutzes in Deutschland bleiben könnten. Denn auch für Geflüchtete gilt ein Mutterschutz. Er setzt sechs Wochen vor dem Geburtstermin ein und endet acht Wochen nach der Geburt des Kindes.
„Wir haben uns deswegen sicher gefühlt“, sagt Ehmad, als er in dem hellen Klinikzimmer sitzt, eine Woche, bevor seine Tochter geboren wird. Nicht wegen der Abschiebung seien sie so fassungslos, sagt er. „Wir wussten ja, dass wir nach dem Mutterschutz ausreisen müssen. Aber dass in Deutschland eine Frau, noch dazu eine Schwangere, so behandelt wird, hat alles in mir erschüttert.“
Ava: Die Nacht, als die Polizei kam, war die Nacht vor meinem Geburtstag. Ich war in der 34. Woche schwanger. Ich wachte auf, weil ich Geräusche hörte. Ich stand auf und blickte aus dem Fenster, im Hof sah ich das Polizeiauto. Ich habe mir nichts dabei gedacht, die Polizei geht bei uns ein und aus. Uns wurde ja ausdrücklich versichert, wir könnten bis zum Ende des Mutterschutzes in Deutschland bleiben. Da habe ich mich wieder hingelegt.
Die Wochen vor dieser Nacht waren anstrengend für Ava. Sie war drei Wochen in der Frauenklinik geblieben, wegen erneuten Komplikationen in der Schwangerschaft. Der Muttermund begann bereits, sich aufzuweichen. Es sollte verhindert werden, dass das Kind zu früh kommt. „Ich sollte viel liegen und mich schonen“, sagt Ava.
Ich war alleine im Zimmer, mein Mann war bei einer befreundeten Familie ein paar Stockwerke darüber. Das ist so üblich im Ramadan, dass die Familien bis spät in die Nacht zusammensitzen. Plötzlich wurde die Tür zu unserem Zimmer gewaltsam aufgestoßen. Vier Polizisten, zwei Männer und zwei Frauen, standen vor meinem Bett. Sie sagten laut etwas auf Deutsch, ich wusste nicht, was sie wollen. Erst, als sie mir eine Tasche vor die Füße warfen, kapierte ich, was los ist. Ich sollte abgeschoben werden.
Das problematische an Traumatisierungen ist, dass sie zu anhaltenden Folgen bis in die nächste Generation führen können – auch wenn das Ereignis längst vorbei ist. Susanne Simen, die bereichsleitende Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Nürnberg, sagt: „Im Schock kommt es nicht darauf an, wie etwas konkret abläuft, sondern was für Empfindungen ausgelöst werden.“ Wenn es, wie in Avas Fall, zwei Schilderungen gebe, müsse das nicht bedeuten, dass eine oder einer nicht die Wahrheit sage.
Das Polizeipräsidium Mittelfranken veröffentlichte wenige Wochen nach dem Ereignis eine Stellungnahme. Darin heißt es: Die beiden abgelehnten Asylbewerber, Ava und ihr Mann, seien der Aufforderung der freiwilligen Ausreise nicht nachgekommen. Sie sollten in Gewahrsam genommen werden und zum Flughafen nach Frankfurt transportiert werden. Es seien keinerlei gesundheitliche Beschwerden oder Verletzungen am Körper der Frau festgestellt worden, wegen der Schwangerschaft sei ein Arzt mit dabei gewesen. In der Stellungnahme heißt es weiter, die Beamten hätten die Ehefrau bei der Absuche nach ihrem Mann durch das Gebäude begleitet, die Suche sei jedoch ohne Erfolg geblieben. Sie habe sich kooperativ und friedlich verhalten und sei in ihrer Heimatsprache Russisch belehrt worden.
Ava durchlebt den Vorfall immer wieder
Ich rief: „Ich bin schwanger.“ Ich zeigte der Polizei meine Atteste aus dem Klinikum, aus dem ich erst vor einer Woche entlassen worden war. Ich rief: „Mein Mann ist oben, können Sie meinen Mann holen?“ Jemand hielt mir ein Telefon ans Ohr. Am anderen Ende der Leitung sprach eine Frau Russisch. Ich verstehe ein paar Brocken Russisch, aber meine Muttersprache ist Persisch. Ich habe zu der Frau am Telefon gesagt: „Mein Mann, mein Mann ist oben. Können die ihn holen?“ Die Frau sagte: „Ja, deinen Mann werden wir auch noch holen.“
Als sie Ava eine Woche später im Krankenhaus trifft, erkennt Susanne Simen deutlich die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung: die Schlaflosigkeit aus Angst, die Schreckhaftigkeit, die starke Anspannung. „Sie wurde permanent von Bildern dessen, was sie erlebt hatte, überflutet“, sagt Simen. Eine weitere Sorge der Oberärztin: „Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung haben die Patienten oft außer der Angst nur noch ein Gefühl des Betäubtseins und sind emotional abgestumpft. Wir erleben oft, dass eine solche Traumatisierung am Ende der Schwangerschaft dazu führt, dass die Mutter eine schwere postnatale Depression und eine Bindungsstörung zu ihrem Kind entwickelt. Dieser Zusammenhang kann auch wissenschaftlich belegt werden.“
Sie haben mich aus dem Bett gezerrt und Schränke aufgetreten, vielleicht, weil sie dachten, mein Mann verstecke sich darin. Ich wurde aus dem Haus gezogen und in ein vergittertes Polizeiauto geworfen. Als sei ich eine Schwerverbrecherin. Die Frauen fassten mich auf dem Weg zum Auto genauso hart an wie die Männer. Dass eine Frau eine andere Frau so erbarmungslos behandeln kann, das hätte ich nie vorher geglaubt. Sie haben ein paar Mal auf unserem Gang nach meinem Mann gerufen, aber er war ja auf einem anderen Stockwerk. Sie haben irgendetwas mit Film und Hollywood zu mir gesagt. Ich glaube, sie meinten, ich sei eine Schauspielerin, weil mein Mann gar nicht im Haus sei. Dann fuhren wir los.
Die Trennung von ihrem Mann, ohne zu wissen, ob sie ihn wiedersehen würde, sei für Ava besonders problematisch gewesen, sagt Susanne Simen. „Selbst wenn die Polizei sagt, es seien keine Zwangsmittel eingesetzt worden, kann die Frau den Vorfall trotzdem als sehr traumatisierend erlebt haben. Unsere Patientin ist aus einem Zustand, in dem sie sich sicher gefühlt hat – aus dem Schlaf – ohne Vorwarnung herausgerissen worden.“
„Es war alles komplett außer Kontrolle“
Als Ehmad in dieser Nacht von der befreundeten Familie in die eigene Wohnung zurückkam, war seine Frau weg. Als er die umgeworfenenen Möbel und die aufgerissenen Schränke sah, bekam er Angst. Er fragte bei den zuständigen Betreuern nach, wo seine Frau sei. Er bekam keine Antwort, sondern musste seinen Pass abgeben. Auch er wurde mitten in der Nacht zum Flughafen gebracht, auch seine Abschiebung wurde ohne Angabe von Gründen abgebrochen und Ehmad wurde zurück in die Unterkunft gebracht. „Ich hatte Angst um alles, was ich habe. Meine Frau und mein Kind waren weg, ich wusste nicht, was jetzt werden soll“, erzählt er. „Es war alles komplett außer Kontrolle. In der Sozialstelle unserer Unterkunft wurde mir dann am Morgen gesagt, meiner Frau gehe es gut, sie würde zurückkommen. Ich habe es nicht geglaubt.“
Im Auto wurde mir schlecht vor Angst, ich wusste immer noch nicht, wo wir hinfahren. Ich wusste nicht, ob ich meinen Mann je wiedersehe. Und was mit unserem Kind passiert. Ich musste mich mehrmals übergeben, der Fahrer hielt ein paar Mal an. Der Doktor, der dabei war, gab mir ein Medikament, von dem ich nicht wusste, was es war. Ich bekam Bauchkrämpfe und konnte mit Gesten verständlich machen, dass ich Bauchschmerzen habe, dass ich Angst habe wegen des Kindes.
In der Stellungnahme der Polizei steht explizit, die Frau habe sich nicht erbrechen müssen. Und: dass der Transport zur „Durchführung von ärztlichen Untersuchungen“ zweimal unterbrochen wurde. Die Frau sei schließlich wegen gesundheitlicher Bedenken, die sie auf der Fahrt geäußert hatte, ins Klinikum Erlangen gebracht worden. Dadurch habe sich die erneute Abfahrt verspätet und der Flug konnte nicht mehr erreicht werden. Deswegen sei sie zurückgebracht und die Abschiebung abgebrochen worden. Die behandelnden Ärzte in der Frauenklinik in Erlangen bestätigen auf Nachfrage Avas Reisefähigkeit. Die Stellungnahme der Regierung von Mittelfranken decken sich weitgehend mit den Aussagen der Polizei, auch hier heißt es, die Abschiebungen von Ava und ihrem Mann seien auf Grund von Zeitverzögerungen abgebrochen worden.
Immer wieder durchlebt Ava diese Nacht. Sie schläft nicht, sondern steht nachts am Fenster, oft bis zum Morgen
Die Beamten überlegten, was sie tun sollten. Irgendwann haben wir vor einem Krankenhaus gehalten. Ein Arzt in der Nachtschicht hat mich untersucht, er hat eine Schwester organisiert, die Russisch konnte. Die Schwester und der Arzt waren sehr nett zu mir, das erste Mal an diesem Abend wurde ich wieder behandelt wie ein Mensch. Nach der Untersuchung musste ich wieder zum Auto, wieder sprach niemand ein Wort mit mir. Die Polizisten waren genervt, weil alles so lange dauerte. Wir fuhren wieder. Irgendwann erkannte ich die Gegend und wusste, wir fahren wieder nach Nürnberg, warum, habe ich nicht verstanden – aber ich habe begriffen, wir fahren wieder nach Hause. Als ich meinen Mann wiedersah, bin ich zusammengebrochen.
Susanne Simen sagt, es gehe bei diesem Vorfall nicht um Schuldige. Aber sie spürt auch bei anderen Geflüchteten, die sie in der psychiatrischen Tagesklinik in Nürnberg trifft, immer die gleiche, abwertende Haltung, die ihnen entgegengebracht wird. „Das sind Menschen, die bei uns Schutz suchen – keine Verbrecher. Menschlichkeit und Würde gehen verloren. Ich frage mich: Wer fühlt sich denn eigentlich verantwortlich für den Zustand dieser Frau? Und für die Folgen, die dieses Erlebnis für sie und ihr Kind haben kann?“
Ava und Ehmad gehen nach dieser Nacht zur Beratungsstelle der Diakonie. Der Sozialpädagoge Stephan Höpfner, der an diesem Tag dort Dienst hat, berichtet, dass die junge Mutter in einem extrem schlechten Zustand war: „Sie hatte eindeutig Krämpfe und war mehrmals der Ohnmacht nahe. Wir haben sie sofort zum medizinischen Dienst geschickt.“ Er schreibt dem Ehepaar eine Bescheinigung über den Zustand der Frau und deren fragwürdige Behandlung. „Für uns stellt sich das schon so dar, dass die zentrale Ausländerbehörde offensichtlich noch ein paar Tage vor dem Mutterschutz die Anweisung zur Abschiebung gibt. Als sollte damit klar gemacht werden: 'Auch das schützt nicht'. Auf die individuellen medizinischen Umstände wird da nicht mehr eingegangen.“
Als Ava nach dem Vorfall in die Frauenklinik in Nürnberg kommt, erkennt die Belegschaft die junge, offene Frau, die zuvor so oft auf Station war, kaum wieder. Immer wieder durchlebt Ava die Nacht. Sie schläft nicht, sondern steht nachts am Fenster, oft bis neun Uhr in der Früh. Sie verliert das Gefühl für ihr Kind. Es ist ihr alles egal. „Vielleicht sterbe ich ja bei der Geburt“, sagt sie ein paar Mal.
Sowohl die Polizei als auch die Regierung von Oberbayern und das Bundesamt für Migration unf Flüchtlinge (Bamf), das die Abschiebung veranlasst hat, haben gegen keine Regel verstoßen: Die versuchte Abschiebung erfolgte in der Nacht vor dem Einsetzen des Mutterschutzes, nicht während des Mutterschutzes. Bei der Abholung und während der Autofahrt war ein Arzt anwesend. „Formal wurden alle Kriterien erfüllt“, sagt Susanne Simen. „Doch diese hochschwangere Frau war vorher nicht traumatisiert. Jetzt ist sie es. Sie wird noch lange unter den Folgen leiden – und das Kind möglichweise auch.“
Das Bamf weist darauf hin, dass der Vollzug der Abschiebung Ländersache sei, zu konkreten Fällen werde keine Auskunft gegeben. Die Regierung von Mittelfranken und die zentrale Ausländerbehörde Mittelfranken wissen nichts von einer Zusicherung gegenüber der Anwältin, dass die Eltern während der komplizierten Schwangerschaft in Deutschland bleiben können. Auf den genauen Zeitpunkt der Abschiebung habe die zentrale Ausländerbehörde keinen Einfluss gehabt, heißt es.
Langsam beginnt Ava, das Kind als ihres wahrzunehmen
„Bevor wir hierherkamen“, erzählt Ehmad, „war Deutschland für mich ein Staat, der für Rechtsstaatlichkeit, für Demokratie und Menschenwürde steht. Ich glaube das jetzt nicht mehr.“ Wenn sie nach Litauen zurückmüssen, in den europäischen Staat, in dem sie zuerst als Flüchtlinge registriert wurden, sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nach Russland abgeschoben werden und wieder in ihren Heimatstaat müssten.
In der Woche nach der Geburt sitzt Ava in ihrem blauen Samtschlafanzug auf dem Bett in der Frauenklinik, ihre winzige Tochter ist drei Tage alt. Langsam beginnt sie, das Kind als ihres wahrzunehmen. Sie wird außerdem ambulant die psychiatrische Tagesklinik für Mütter in Nürnberg besuchen. „Aber wenn wir nach Hause kommen“, sagt sie, und meint wieder ihr Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft, „wer sagt mir dann, dass der Mutterschutz eingehalten wird? Ich habe Angst, dass alles eine Lüge sein könnte. Ich habe Angst, dass die Angst wiederkommt.“ Sie weint jetzt nicht mehr, wenn sie erzählt. „Ich will doch einfach nur irgendwo zur Ruhe kommen.“
In Rücksprache mit der Anwältin und den beiden Geflüchteten wurden das Herkunftsland, die Berufe sowie die Namen der beiden Geflüchteten geändert beziehungsweise verfremdet. Das soll ihrer Sicherheit dienen.