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Wie das Massaker von Parkland das Leben an Schulen in den USA verändert
Das Telefon vibrierte nur kurz über den Tisch. Bzzzz, bzzzz. Im Sperrbildschirm: das Datum, 14. Februar, Valentinstag – und eine Eilmeldung.
„Ich saß im Klassenzimmer und guckte auf das Telefon“, erzählt Erica, Schülerin an der Tabb High School in Yorktown, Virginia. „Ich dachte, mir wird schlecht. Ich war vollkommen perplex, als ich die Zahl sah. Ich guckte hoch, sah die anderen Schüler und sagte: Oh, Gott. in Florida hat es eine Schießerei an einer Schule gegeben. Ich glaube, es ist ziemlich schlimm.“
17 Menschen, 14 Schüler und drei Lehrkräfte, kamen an diesem 14. Februar 2018 an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland ums Leben. Der Schütze betrat die Schule mit einem halbautomatischen Sturmgewehr. Er eröffnete das Feuer um 14:20 Uhr, kurz nach Schulschluss.
Die Politik verfiel anschließend in die gleiche Abwehrhaltung, die nach solchen Schießereien Standard geworden ist – anstatt einer ernsthaften Debatte nur reflexartige Beschwichtigungsformeln wie „Our thoughts and prayers are with the victims“.
Statt sich von den Politikerphrasen einlullen zu lassen, nutzen die hinterbliebenen Parkland-Schüler den Zeitpunkt, um sich auf allen Kanälen medienwirksam für härte Waffengesetze stark zu machen.
„Der Amoklauf von Columbine ist im April 19 Jahre her und es hat sich fast nichts getan“, sagt Erica, die Schülerin aus Virginia. Sie ist 17 Jahre alt, im Sommer macht sie ihren Schulabschluss. Damit sich dieses Mal wirklich etwas tut und die Politik sich zum Handeln gezwungen sieht, will sie mit ihrer Schulfreundin Eunice beim „March For Our Lives“, der am Samstag in Washington stattfindet, für striktere Waffengesetze protestieren.
„Viele sind stolz, Teil einer nationalen Bewegung zu sein, die etwas verändern will.“
Aber nicht nur das. Beim landesweiten Schulstreik vergangenen Mittwoch, als amerikanische Schüler in allen Bundesstaaten in Gedanken an die 17 Parkland-Opfer für 17 Minuten den Unterricht boykottierten, organisierten Erica und Eunice an ihrer Schule eine Protestwerkstatt: An verschiedenen Ständen konnten die Schüler der Tabb High School im Süden von Virginia einen persönlichen Weg finden, mit den Geschehnissen in Parkland umzugehen. In der einen Ecke setzten einige Schüler Briefe an ihre zuständigen Kongressabgeordneten auf, andere entwarfen Protestplakate – „Gib denen eine Stimme, die keine haben“ und „Wir sind Schüler, wir sind keine Opfer“ stand dort unter anderem.
Kurz nach fünf, die Schüler der DC International School verlassen den Pausenhof auf dem Weg nach Hause. Die Schule liegt im Norden von Washington, D.C., etwa eine halbe Stunde vom Weißen Haus entfernt.
Amélie, Schülerin an der DC International School, hat ein Protestplakat gebastelt. "Lustige Sprüche auf Plakaten sind ein Hingucker", sagt sie, "aber manchmal lenken sie auch ab von der Ernsthaftigkeit der Angelegenheit. Deshalb wollte ich mich auf Zahlen und Fakten konzentieren." Die Schülerin hat verschiedene Schießereien aufgelistet, bei denen Schüler starben – von Parkland bis zu einem Vorfall in Camden, New Jersey, aus dem Jahr 1949. "Ich will die Menschen daran erinner, wie lang wir dieses Problem vor uns herschieben."
Wer wollte, konnte kurze Notizen an die Überlebenden verfassen, die Eunice und Erica bei der Demo am Samstag an die Organisatoren aus Parkland übergeben wollen. „Ich würde sagen, die eine Hälfte waren Beileidsbekundungen“, erzählt Eunice, „In den anderen Briefen stand, wie sauer die Schüler sind. Sauer, dass das passieren konnte.“
Etwas abseits auf einer kleinen Bühne hatten die zwei Schülerinnen eine Reflektionsecke errichtet. Hinter Vorhängen und gedimmtem Licht hatten sie 17 Steckbriefe aufgestellt: die Namen aller Opfer, ein Foto, wer sie waren, was sie mochten. „Wir wollten zeigen, dass die 17 nicht viel anders waren als wir es sind.“
Die Stimmung sei düster gewesen, sagt Erica, aber auch trotzig. „Ich glaube, viele waren traurig, aber auch stolz, Teil einer nationalen Bewegung zu sein, die etwas verändern will.“
An der Schule der zwei gibt es keine Metalldetektoren, nur eine ausgebildete Polizistin, die am Eingang sitzt. Eunice und Erica haben sich deshalb überlegt, in der Schule eine Umfrage zu starten: „Was kann dein Abgeordneter tun, damit du dich sicherer fühlst“ – die fünf Antworten mit der meisten Unterstützung unter den Schülern wollen sie Tim Kaine, dem demokratischen Senator aus Virginia, präsentieren. Kaine war Hillary Clintons Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten. Erica hat den Politiker bei einer Lokalveranstaltung kennengelernt, am Ende durfte sie ihm ihre Schulinitiative vorstellen. Sein Team versprach, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Wenn Kaine smart ist, wird das nicht nur ein Versprechen bleiben.
Die Kongresswahlen sind im November, bis Jahresende werden knapp vier Millionen Amerikaner ihren 18. Geburtstag gefeiert haben
Denn die Debatte, in der sich die Teenager aus Florida, Virginia und in den anderen 48 Bundesstaaten so sehr reinknien, ist weit mehr als eine Frage nach schärferen Waffengesetzen. Es geht um im polarisierten Amerika wie eigentlich immer: um politische Deutungshoheit. Demokratische gegen Republikanische Weltsicht.
In den Gängen der DC International School wird gegackert, geschubst, gefrotzelt. Dienstagnachmittag, die letzte Stunde des Tages fängt gleich an. Die Schule liegt 30 Autominuten entfernt vom Weißen Haus im Norden der Stadt. Im Dritten Stock des Hauptgebäudes sitzt Nicholas Curwen, ein gut gelaunter Geschichtslehrer, mit fünf Zehntklässlern und diskutiert nach dem Unterricht noch ein bisschen über Parkland. Gegenüber von Curwen sitzt die 15 Jahre alte Heaven. „Erst mit 18 haben wir wirklich eine Stimme“, sagt sie. „Natürlich haben wir auch jetzt schon eine Stimme, aber niemand hört uns zu, weil wir Kinder sind. Dabei sollte man uns zuhören. Uns betrifft das alles weitaus mehr als Erwachsene.“
Wenn die traditionell waffenvernarrten Republikaner, aber auch die Demokraten, jetzt verschlafen, in der Debatte um Parkland mit den Teenagern den Dialog zu suchen, hat die amerikanische Volkszählung eine Überraschung für die Politik parat: Die Zwischenwahlen für den Kongress sind im kommenden November, bis Jahresende werden knapp vier Millionen Mädchen und Jungen in den USA ihren 18. Geburtstag gefeiert haben. Selbst wenn am Ende die Gesetzgebung unverändert bleibt, könnte Parkland für eine ganze Reihe von Teenagern so etwas wie ihre "super hero origin story" werden – der Gründungsmythos des eigenen Aktivisten-Ichs.
Wie einfach es gehen kann, wenn man sich als Jugendlicher Gehör verschaffen will, hat Emma González bewiesen: Seit die leidenschaftliche Rede der Parkland-Schülerin durchs Netz ging, hat sie mit 1,26 Millionen doppelt so viele Follower auf Twitter wie die Waffenlobbyisten der NRA.
„Ein Probealarm für einen Amoklauf – das verändert deine Sichtweise auf die Schule und das Leben“
„Wenn Ihr Euch die Geschichte anguckt“, sagt Lehrer Curwen, „dann seht Ihr, dass einige der einflussreichsten Bewegungen von Jugendlichen ausgingen, wie die Bürgerrechtsbewegung und die Anti-Vietnam-Proteste. Eure Generation ist anders als die Kinder in Sandy Hook [Grundschule, in der 2012 bei einem Amoklauf 20 Schüler im Alter von 6 und 7 getötet wurden – d. Red.]. Ihr wisst, wie ihr euch für eure Belange einsetzen könnt, weshalb mich das auch immer etwas traurig macht, wenn ich euch entmutigt antworten höre.“
Die Debatte nach dem Parkland-Massaker hat viele Schüler zum Nachdenken gebracht und politisiert. Viele finden das gut, aber es stellt sich auch die Frage nach unerwünschten Nebeneffekten: Fühlen die fünf Zehntklässler, dass ein Teil der kindlichen Unschuld verlorengeht, wenn man, anstatt unbedarft in den Tag zu starten, über Amokläufe, Fluchtwege, und schusssichere Rucksäcke nachdenken muss? Gabriela, 15, sagt: „Ich weiß nicht, welche Gesetze diese Taten wirklich verhindern können. Aber als Kind solltest du auf dem Schulweg nicht an solche Dinge denken müssen.“ Ihr gegenüber sitzt Sienna, sie ist 16. „Eine Tornado-Warnung ist eine Sache, aber Probealarm für einen Amoklauf – das verändert deine Sichtweise auf die Schule und das Leben.“
Jackson, der überraschend leise spricht, hat aus der Gruppe als einziger schon einmal eine Waffe abgefeuert. Er war auf einer Ranch und durfte nach einer kurzen Einführung losschießen. „Am Anfang hat es Spaß gemacht. Dann war es schon ein komisches Gefühl, als ich gemerkt hab, was dieses Ding in meiner Hand alles anstellen kann.“
„Ich esse mittags lieber in einem Klassenzimmer als in der Cafeteria, weil ein Attentäter wahrscheinlich dort aufkreuzen würde“
Am nächsten Abend findet im Forum der DC International School ein Elternabend mit der Schulleitung statt. Snacks, und Getränke stehen auf einer langen Tischreihe aufgebaut. Bevor die Eltern loslegen, erzählt Penny Gerber, was ihre Tochter Amélie, die in die neunte Klasse geht, zur Aktivistin hat werden lassen: „Unser Land ist zurzeit wie eine Limonadenflasche, die kräftig geschüttelt wurde und aus der es jetzt raussprudelt. Vergangenes Jahr fing es mit Frauenrechten an, nach Parkland sind es Waffengesetze. Sie kennen die Bilder von klein auf, jetzt sehen sie, dass es Kinder in ihrem Alter betrifft. Natürlich stehen sie da auf und engagieren sich.“
Amélie trägt pinkfarbene Strähnen in ihrem blonden Haar, Lederjacke, und Dr. Martens. Sie ist 14. Neben ihr sitzt der gleichaltrige Oliver, ihr Schulfreund noch aus Grundschultagen. „Ich habe keine Angst, zur Schule zu gehen, aber ich denke definitiv über all diese Dinge nach“, sagt Amélie, „Bis zu dem Punkt, an dem ich mittags lieber in einem Klassenzimmer esse als in der Cafeteria, weil ich weiß, dass ein Attentäter da in der Pause wahrscheinlich aufkreuzen würde.“
Beim Elternabend geht es natürlich auch um die Sicherheit der rund 800 Schüler. Eine Mutter fragt nach Metalldetektoren. Die seien bisher nicht vorgesehen, sagt der Schulleiter. Auch, weil es das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schule zerstören würde. Die geschäftsführende Direktorin der DC International School, sagt: „Ich will, dass diese Schule supersicher ist.“ Sie spricht davon, dass Besucher nur noch durch den Haupteingang die Schule betreten dürften, obwohl das umständlicher sei.
Draußen wird es langsam dunkel. Die Klassenzimmer sind leer. Am Seitenflügel der Schule hat jemand für die verspäteten Eltern einen Stuhl zwischen Tür und Rahmen einer Tür geklemmt. Sie soll nicht zufallen, denn – Sicherheitsmaßnahme – von außen lässt sie sich nicht öffnen. Die Eltern wollten aber offenbar heute Abend lieber eine Abkürzung zum Parkplatz als hundertprozentige Sicherheit.