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Was ist links?
Langsam und mit bitteren Gesichtern schreiten die Trauergäste den Friedhofspfad entlang. Im Strom von überwiegend jungen Gesichtern, die ihrem gerade mal 33-jährigen Freund, Ex-Kommilitonen und Wegbegleiter die letzte Ehre erweisen wollen, entdecke ich Otto (Schily) und Rudi (Dutschke). Schnitt. Ich sehe Rudi am Grab stehen. Er bleibt nicht lange. Die Kameras der Reporter lösen schon klickend aus. Er hebt nur kurz die Hand, macht eine Faust: „Holger, der Kampf geht weiter“. Schnitt. Ich sehe die große Menschenmenge am Rand des offenen Grabes. Erst verzagt, dann stärker, getragen von hunderten Stimmen, kann ich die „Internationale“ ausmachen – das sozialistische Kampflied.
„Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“
Ich drücke Stopp. Das Video zeigt den 18. November 1974. Die Beerdigung des Rote-Armee-Fraktion-Terroristen Holger Meins, der nach 58 Tagen Hungerstreik, abgemagert auf 39 Kilo, starb. Das Porträt der Leiche ist auf meinem Desktop gespeichert und hat sich auch in meinem Gedächtnis ziemlich eingebrannt. Wer es kennt, weiß warum. Ich will „selber schuld!“ sagen. Immerhin hat Holger Meins sich im terroristischen Kampf selbst instrumentalisiert. Er tat, was die RAF verlangte. Aber so einfach ist es eben auch wieder nicht.
„Wir brauchen eine Leiche, einer ist zu wenig, da weiß man nicht, ob er auch tatsächlich verreckt, zu unsicher... also fünf Freiwillige vor, die’s bis zum Verrecken machen, bei einem wird es bestimmt klappen... eine Leiche und wir haben was in der Hand.“ (Zellenzirkular der RAF, 1973)
Wir müssen davon ausgehen, dass die Menschen, die damals im November am Grab standen, Holger Meins nicht als einen unerbittlichen Terroristen wahrgenommen hatten. Für sie war er ein Genosse, ein Gleichgesinnter, ein Revolutionär. Sein Tod war für sie der Triumph eines politischen Systems, das sie bekämpfen wollten. Und es ist auch nicht der vermeintliche Märtyrer-Tod des Terroristen, der mich nicht loslässt. Es ist die deutliche Solidarität seiner Gefährten:
5000 Leute sollen damals auf der Beerdigung gewesen sein. In den folgenden Wochen gab es zahlreiche Solidaritätsbekundungen in ganz Deutschland mit tausenden von Demonstranten. Was war anders damals? Warum habe ich das Gefühl, dass es das heute nicht mehr gäbe?
Diese Menschen waren Teil der sogenannten 68er-Generation. Sie gehörten mehrheitlich zur „Neuen Linken“, die vor allem unter jungen Leuten ihren Zuspruch fand. Eine politische Bewegung, die für die Demokratisierung der Gesellschaft, für globale Gleichheit aller Menschen, für eine Befreiung von den angestaubten Traditionen und Geschlechterrollen und für die Bewusstmachung der ungerechten Verhältnisse einstand. Damit kann ich mich doch identifizieren. Viele können das wohl. Aber für eine Bewegung wie damals scheint mir das heute nicht mehr zu reichen. Weil sich die Ziele nicht mehr so eindeutig wie früher einer bestimmten politischen Ausrichtung zuordnen lassen?
Bin ich links? Und was bedeutet das eigentlich noch?
Ich habe den Eindruck, ähnliche Wunschvorstellungen zu haben wie die jungen Leute in den 70ern: Ich will in einer solidarischen Gesellschaft leben, möchte für die Armen und Schwachen in unserer Gesellschaft einstehen, finde den Turbo-Kapitalismus bisweilen zum Kotzen und hoffe für mich selbst und andere auf sozial gerechte Arbeits- und Lebensverhältnisse. Aber wo stehe ich denn damit mit meiner Meinung heute? Bin ich deswegen links? Und was bedeutet das eigentlich noch?
„Links sein,“ erklärt mir der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke, „beinhaltet immer eine politische Überzeugung, nämlich einen universalistischen Anspruch – ganz im Sinne der französischen Revolution – nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Wobei vor allem die Gleichheit aller Menschen als zentraler Grundsatz verstanden werden kann.“ Während die Rechte von der Ungleichheit der Menschen ausgehe, sei ein linkes Leitprinzip demnach, die Gleichheit der menschlichen Würde global zu denken.
Das linke Spektrum bleibt dabei aber unscharf. Es erstreckt sich vom demokratischen Sozialismus über den Linkssozialismus bis zum Kommunismus, wobei sich die SPD und Die Linke programmatisch dem demokratischen Sozialismus verpflichtet haben. Das heißt: Die sozialistischen Grundwerte (Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität) sollen auf freiheitlich demokratischem Wege durch Reform und Demokratisierung verwirklicht werden. Von der Revolution träumt heute offiziell keiner mehr. Ist „links“ damit auch als politischer Kampfbegriff überkommen?
Fragt man etwa den ehemaligen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (von manchen seiner CDU-Kollegen damals als zu „links“ kritisiert), was er von der Einteilung in rechts und links halte, schreibt er zurück, dass weiterhin gestritten werden müsse, „über elementare Fragen der Zeit. In der Nachkriegszeit beispielsweise über 'Planwirtschaft oder Soziale Marktwirtschaft'. Heute über 'zurück' in den alten Nationalismus oder 'vorwärts' in ein vereintes Europa.“ Dafür brauche es aber Parteien und keine Einteilung in links und rechts. Das seien nämlich „Etiketten aus dem 19. Jahrhundert“, die schon in den 70ern nicht funktioniert hätten, und heute erst recht nicht mehr funktionierten.
"Die Krisen der 60er Jahre sind verglichen mit dem gegenwärtigen Krisenszenario marginal.“
Stellen wir also mit dem Beharren auf dem links-rechts-Schema die falschen Fragen? Oder müssen wir sie nur anders stellen?
Der Sozialwissenschaftler Ingo Matuschek, der in einer Studie links-affine Alltagsmilieus untersucht hat, ist davon überzeugt, dass sich zwar die Zeiten, nicht aber die Themen geändert hätten. Soziale Schieflagen oder das Thema Bildungschancen seien heute noch genauso aktuell wie früher. „Die Fragestellungen von damals bleiben durchaus bestehen. Antworten sind aber gegebenenfalls neue zu finden – wie auch Wege, diese auf die politische Agenda zu setzen.“
Denn Themen gäbe es ja. Die Ungleichheit habe seit den 1960er Jahren so dramatisch zugenommen, meint von Lucke, dass viele Ökonomen darin ein Krisenphänomen des Kapitalismus sähen. „Heute haben wir es mit einem Kapitalismus zu tun, der ständig neue Blasen erzeugt und sich nicht mehr produktiv geriert, also nicht mehr in produktive Sektoren investiert, sondern letztendlich nur noch zum Zweck der Spekulation auf die Finanzmärkte drängt. Die Krisen der 60er Jahre sind verglichen mit dem gegenwärtigen Krisenszenario marginal.“
Finanzkrise, Eurokrise, Immobilienblase. Jeder sechste in Deutschland lebt unterhalb der Armutsgrenze, aber gönnt sich paradoxerweise vielleicht den „Luxus“ im Textil-Discounter ein 5-Euro-T-Shirt aus Bangladesch zu kaufen. Wenn die Verhältnisse heute nicht besser, ja vielleicht sogar schlimmer sind als damals in den 70ern, warum ist das linke Denken dann so aus der Mode geraten? Oder noch schlimmer: Ist uns unser politisches Selbstbewusstsein egaler geworden?
„Die Frage, wie man sich politisch positioniert, ist im Zuge einer großen Entpolitisierung seit vielen Jahren unter die Räder gekommen,“ meint Albrecht von Lucke, der auch Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik ist. „Eine Position zu beziehen ist ja auch aufgrund der unübersichtlichen globalen Lage schwierig. Diese Ahnungslosigkeit, ist man links, ist man rechts, welche Politik soll man überhaupt betreiben, hat auch ein Stück weit mit dem Luxus unserer Gegenwart zu tun, wo das Politische vermeintlich gar nicht nötig war.“
Die „luxuriösen“ Zeiten, in denen man es sich vermeintlich leisten konnte, die Politik sich selbst zu überlassen, scheinen aber spätestens seit ein paar Monaten endgültig vorbei zu sein. Vor allem mit der Flüchtlingskrise kam schließlich die Re-Politisierung – allerdings eher im rechten Lager: Da finden sich schließlich gerade Viele, die auf die Straße gehen und die aktuellen politischen Verhältnisse angreifen. Die vergangenen zehn Landtagswahlen brachten etwa eine Million Menschen, die zuvor nicht gewählt haben, und knapp eine weitere Million Wähler, die sich von anderen Parteien abwandten: Zwei Millionen Anhänger der Alternative für Deutschland.
Den proportional größten Verlust hat dabei Die Linke zu verzeichnen. Von links nach rechts? Wie kann das sein, wenn doch die beiden Parteien an den gegenüberliegenden Enden des politischen Spektrums stehen?
„Leute, die eigentlich für die Linke erreichbar sein müssten, wie die sozial schwache Menschen, wählen heute zum Teil eher die AfD,“ meint von Lucke. „Diese hat sich der sozialen Frage in einer ganz fatalen Weise angenommen: als vermeintlich ‚deutscher sozialer Frage’.“ Sie nationalisiere die soziale Frage, indem sie von einem Behauptungskampf der Biodeutschen ausgehe – gegen die, die von außen kommen. Die völkische Definition eines Deutschen also, der sich um des sozialen Friedens Willen vor „den anderen“ schützen muss. „Der AfD geht es also nicht darum, den Konflikt zwischen oben und unten, sondern zwischen innen und außen aufzumachen.“
Der Sozialwissenschaftler Ingo Matuschek stellt deshalb sogar grundsätzlich infrage, ob es überhaupt linke Themen gibt, oder ob es sich nicht eher um linke Antworten auf spezifische Themen handelt. „Ganz offensichtlich kann ja die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft auch zu rechten Einstellungen führen, die sich zum Beispiel gegen Asylbewerber richtet.“
Und tatsächlich bestand jüngst der AfD-Politiker Guido Reil in einer Fernsehsendung darauf: „Ich bin und bleibe ein Sozi, auch in der AfD“. Auf die Nachfrage, was „sozi“ denn ausmache, meinte Reil, er sei „strotz-sozial“ eingestellt und „helfe gerne Menschen.“ Während vor allem finanziell schwache Rentner in Deutschland am Existenzminimum leben müssten, würden junge Männer aus dem Nahen Osten und Nordafrika, „strotz-gesund und gut gekleidet“, in Deutschland das „Rundum-sorglos-Paket“ genießen.
Bedeutet das nun, dass wir die Linke bald unter traurigem „Internationalen“-Gesang zu Grabe tragen müssen? Noch nicht ganz. Historisch gesehen haben die Linken und die Rechten eine Gemeinsamkeit, die Alfred von Lucke noch hoffen lässt. „Die AfD, so gefährlich sie in Teilen ist, ist auch eine Chance. Sie könnte eine Repolitisierung in der Breite erzeugen – nämlich als eine Gegenreaktion auf die neue Rechte – genauso wie wir nach 1967 eine Politisierung in der Breite, ausgelöst damals allerdings von links, bekommen haben.“
Play. Ein Mann vor grauem Hintergrund im Interview. Es ist der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, einer der Experten im Film. Er erklärt, dass die Rote Armee Fraktion die stärkste innenpolitische Herausforderung der 70er Jahre für die Bundesrepublik war. „Sie war wie ein Test, in dem sich zeigte, wie man sich verhalten würde.“
Für die Frage „Bist du links?“ müsste man mir definitiv Multiple-Choice-Antworten anbieten. Aber beim aktuellen gesellschaftlichen Test, wie wir uns informieren können und politisieren sollten gibt es zum Glück keine richtigen oder falschen Antworten. Aber ein Kreuzchen sollte man eben schon machen. Spätestens bei der nächsten Wahl.
Dieser Text entstand durch eine Kooperation mit dem WDR. In vier Dokumentationen zeigt der Sender Geschichte aus einem persönlichen Blickwinkel. Aus dem Blickwinkel von jungen Menschen. Denn Geschichte ist mehr als Fakten, Ereignisse und Epochen. Es geht um Menschen, ihr Leben und ihre Entscheidungen. Die Filme stellen die Frage: Was geht mich das an? Wie hätte mein Leben ausgesehen? Was hätte ich gemacht?
„Was geht mich das an: die RAF“ – 12.10.2016 um 22:55 Uhr im WDR. Oder hier.
Wie sich eure Sporify-Playlist zu RAF-Zeiten wohl angehört hätte:
Unruhe, Aufruhr und Protest: Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Politik fand sich auch in der Musik wieder. Bands wie Ton Steine Scherben riefen zur Revolte auf und proklamierten: “Macht kaputt was euch kaputt macht”. Mit ihrer Musik und mit aufsehenerregenden Auftritten in Talkshows wurde die Gruppe zu einem Sinnbild der Protestkultur.
Die Musik-Charts waren in Deutschland ähnlich wie in den USA: Michael Jackson mit “Don’t Stop ‘Till You Get Enough” und die BeeGees mit Hits wie “Stayin’ Alive” lieferten den definitiven Seventies-Sound. Aber in der BRD waren auch Liedermacher wie Hannes Wader und Konstantin Wecker erfolgreich. Mit ihren politischen und systemkritischen Texten kamen sie gerade in der linken Szene gut an.
Damit ist die Musik der 70er ein Spiegel des Zeitgefühls: Eine Ära zwischen ausgelassenem Disco-Fieber und Terrorismus im eigenen Land, zwischen ABBA und RAF, zwischen Feier und Demonstration.