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Wer oder was ist das „Establishment“?

Illustration: Federico Delfrati

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establishment
Illustration: Federico Delfrati

In seiner Antrittsrede hat Donald Trump der Menge vor dem Kapitol noch einmal ganz deutlich gesagt, wer ihr gemeinsamer Feind ist. „The establishment protected itself, but not the citizens of our country“, rief Trump. „Their victories have not been your victories. Their triumphs have not been your triumphs.“ Schon während des Wahlkampfs hatte er diese populistische Botschaft immer wieder bemüht, sich als Außenseiter dargestellt und gegen die böse, elitäre Hillary Clinton aus dem Washingtoner Polit-Sumpf gewettert. Das führte am Ende zu dieser absurden Situation, in der Trump ganz oben angekommen war, aber „denen da unten“ trotzdem sagen konnte: „Die da oben“ sind gegen uns. 

Das „Establishment“ (a.k.a. „die Elite“, „die Etablierten“ oder „die da oben“) ist der politische Kampfbegriff der vergangenen beiden Jahre und wird wohl auch der des Jahres 2017 sein. In Deutschland hantiert die AfD schon länger damit und nennt sich „Partei des Anti-Establishments“. Auch von links wird das Establishment kritisiert, zum Beispiel von Sara Wagenknecht. Und dann wurde kürzlich Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD und auf einmal brach die Diskussion los, ob er eigentlich Establishment sei oder nicht: Die einen sagen „ja“, weil er als ehemaliger Präsident des Europaparlaments zur politischen Elite gehöre, die anderen sagen „nein“, weil er nicht aus dem Kompromisse-Sumpf der Großen Koalition kommt, dafür aber aus Würselen und der Alkoholsucht. Und als würde das noch nicht reichen, hat Martin Schulz in einem seiner ersten Interviews als Kanzlerkandidat auch noch selbst damit argumentiert, unsere gespaltene Gesellschaft teile sich auf in „hart arbeitende Menschen“ und „Eliten“.

Spätestens da ist alles durcheinander geraten: Ein Begriff, der im US-Wahlkampf durchgenudelt wurde, wird in Deutschland von links und von rechts verwendet, um die Mächtigen in der Mitte zu kritisieren; dann taucht in der Mitte ein Mann auf, dem dieser Begriff mal zugesprochen wird, mal nicht, und der dann selbst anfängt, damit zu argumentieren – und nebenher wird in aufgeregten Facebook- und Artikel-Diskussionen zu politischen Themen ständig auf das Establishment geschimpft. Aber wer oder was ist eigentlich dieses Establishment? Wo kommt der Begriff her? Und wird er jetzt den deutschen Wahlkampf so sehr begleiten und vielleicht sogar bestimmen wie zuvor den amerikanischen?

Im „Portal Ideengeschichte“ der Philipps-Universität Marburg hat das Establishment einen eigenen Eintrag, in dem steht, wann der Begriff seine Hochphasen hatte: im Faschismus der Zwischenkriegszeit, 1968 und seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Immer ging es dabei darum, eine „Elite“ zu kritisieren. Besonders ausdauernd kritisieren die Amerikaner ihr Establishment. Michael Kazine, Professor für Geschichte an der Georgetown University in Washington, zeichnete in einem Essay für die Wochenzeitschrift „The Nation“ nach, wie mit dem Begriff im England der Fünfziger Jahre Kritik an den Mächtigen (House of Lords und Staatskirche) geübt wurde und wie er von dort in die USA importiert wurde und sich festsetzte. 

"Establishment" ist ein politischer Kampfbegriff: Er ist unscharf und kann auf jeden angewendet werden

Aber wer ist denn nun damit gemeint? Die Antwort lautet: alle – und niemand. Im „Portal Ideengeschichte“ steht, der Begriff teile die Welt einfach in „wir da unten – die da oben“ ein, in die „kleinen Leute“, die ohnmächtig sind, und „die mit der vollen Macht“, die die kleinen Leute absichtlich klein halten. Das ist sehr diffus. Aber genau das ist gewollt.

„‚Establishment‘ eignet sich sehr gut als politischer Kampfbegriff: Er ist unscharf, er kann auf jeden angewendet werden, der einen Status hat, der irgendwie gesellschafts- oder staatstragend ist – und er ist immer negativ und abwertend gemeint“, sagt Michael Dreyer, Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Jena. Das heißt: Egal ob Politiker, Journalist, Richter oder Ökonom, wer in einem gesellschaftlich relevanten Bereich eine Position bekleidet, in der er etwas zu sagen hat, der kann Teil des Establishments sein. Darum können ihn sowohl die rechten AfDler für die Politiker der Großen Koalition, als auch die linken Opccupy-Wallstreet-Demonstranten für die Superreichen verwenden.

Wer als Establishment und wer als Anti-Establishment gilt, bestimmt also das jeweilige „Framing“, der gedankliche Deutungsrahmen, der von denen, die den Begriff besetzen, geformt wird (die Linguistin Elisabeth Wehling hat das Prinzip „Framing“ in diesem jetzt-Interview sehr gut erklärt). Interessanterweise sind das oft diejenigen, die in Zukunft selbst an der Macht – und damit ja selbst Establishment – sein wollen. Siehe Trump. Siehe AfD. Noch mal aus dem Eintrag im Portal Ideengeschichte: „Establishment-Kritik ist auch Ausdruck einer Empörung von Machtbesessenen, die Machthaber (oder die, die sie dafür halten) Machtbesessene nennen.“ 

Das Framing in den USA haben die Konservativen bestimmt. „Sie meinen damit die ‚liberale Elite‘ – die allerdings auch wieder sehr viele Gruppen umfasst, von Bürgerrechtlern über linke Intellektuelle bis hin zu Hollywood,“ sagt Torben Lütjen. Lütjen ist Politikwissenschaftler und Amerika-Experte und lehrt derzeit an der Vanderbilt University in Nashville. Er hat ein Buch über den amerikanischen Konservativismus und ein weiteres über die ideologische Polarisierung in den USA geschrieben. Die wurde im Wahlkampf 2016 besonders offensichtlich und durch Trumps Establishment-Kritik von konservativer Seite noch befeuert. „Die Demokraten benutzen den Begriff seit neustem aber auch wieder“, sagt Lütjen. Denn der innerparteiliche Kampf um die Kandidatur zwischen Hillary Clinton und Bernie Sanders wurde zu großen Teilen auch an der „Sie ist Establishment – er ist der Außenseiter“-Front gekämpft. 

Lange hat niemand die Existenz der BRD in Frage gestellt – aber jetzt gibt es die AfD

Aber warum ist der Begriff jetzt auch bei uns so stark geworden und bestimmt den politischen Diskurs mit? Lütjen sagt, er könne sich schon vorstellen, dass das eine „Transfer-Leistung“ sei: „Die Ereignisse in den USA überlagern und bestimmen gerade ständig die Deutungen der deutschen und europäischen Politik, obwohl vieles nicht vergleichbar ist“, sagt er. Trotzdem muss es hier ja irgendetwas geben, in dem der Begriff verfängt. Etwas, das es erlaubt, dass er ausgerechnet jetzt auch hier wieder genutzt und „geframet“ wird.

Dazu hat Michael Dreyer eine Idee: „In Deutschland gab es lange keine nennenswerte Gruppe mehr, die die Existenz der Bundesrepublik und ihres Systems in Frage gestellt hat“, sagt er. „Jetzt gibt es die AfD.“ Und es gibt Menschen, die mit der Globalisierung überfordert sind, die sich ausgeschlossen fühlen, die Verlustängste haben. Die AfD präsentiert ihnen für diese diffuse Angst einen Sündenbock: das Establishment. Dass das erst mal genauso diffus ist, ist egal. Hauptsache Gegner.

Und ganz so diffus ist der vielleicht auch nicht, weil das heutige politische Deutschland der AfD einen Gefallen tut: „Ich glaube, ein Teil des Erfolgs des Populismus in Deutschland liegt darin begründet, dass die Populisten heute eher eine ‚politische Elite‘ ausmachen können als früher“, sagt Torben Lütjen. Denn in der Nachkriegszeit und darüber hinaus stammten Politiker in Deutschland noch eher aus verschiedenen Milieus und Lebenswelten. Heute seien hauptsächlich Akademiker in den höheren Positionen, dich sich schon rein habituell stärker ähneln als in der Vergangenheit. Da kann die AfD natürlich mit dem Finger drauf zeigen und sagen: „Ihr seid doch alle eine Mischpoke.“ 

Martin Schulz ist eine ambivalente Figur: kein Akademiker, aber Europa-Politiker

An dieser Stelle kommen Martin Schulz und seine seltsam ambivalente Rolle in der Diskussion wieder ins Spiel: Einerseits hat er nicht studiert, andererseits war er Präsident des Europaparlaments. „Nach jeder vernünftigen Definition von ‚Establishment‘ müsste Schulz zur Machtelite gehören, aber er hat eben eine Biografie, die nicht glatt ist“, sagt Michael Dreyer. „Da ist das Framing noch offen – und wenn er schlau ist, erledigt er das schnell selbst, bevor die Rechtspopulisten es ihm wegnehmen.“ Torben Lütjen sieht das ähnlich: „Schulz hat eine ‚Konvertiten-Geschichte‘, die eigentlich recht amerikanisch ist: Wie Reagan, der vom Linken zum Konservativen wurde, oder George W. Bush, der sich aus dem Alkoholismus gekämpft hat. Wenn es gut läuft für Schulz, wird er im Wahlkampf für seine nicht-akademische Alkoholiker-Vergangenheit angegriffen und kann dann genau diese Geschichte stark machen.“

Vermutlich ist es so: Der populistische Establishment-Begriff ist endgültig in Deutschland angekommen und jetzt nicht mehr wegzukriegen. Damit die Volksparteien im Wahlkampf eine Chance gegen die Rechtspopulisten haben, müssen sie selbst populistischer werden – und dafür eben auch diesen Begriff übernehmen und neu framen. Darum setzen so viele so große Hoffnungen in Martin Schulz, der genau genommen auch ein Populist ist (da sind sich sogar beide Seiten einig: Sowohl die „Junge Freiheit“ als auch Heribert Prantl in der SZ haben ihn kürzlich so genannt). Er kann und darf also mit diesem Begriff hantieren – er muss es sogar, um zu vermeiden, dass er am Ende selbst als allzu „Etablierter“ dasteht.

Besser macht das den Begriff aber nicht. Er ist gefährlich. Eben, weil er so diffus ist. Weil jeder ihn instrumentalisieren kann. Weil er eine einfache Feind-Zuschreibung ist, die nur darauf abzielt, etwas oder jemanden abzuwählen, loszuwerden, zu zerstören – aber keine Lösungen für die Probleme in unserer Gesellschaft anbietet. Michael Kazine hat dafür in seinem Essay eine gute Analogie gefunden. Das Establishment, schreibt er, sei wie die Grinsekatze in „Alice im Wunderland“: „Genau wie diese trügerische, fette Katze hat das Establishment sich in unserem politischen Gedächtnis festgesetzt, obwohl seine Substanz sich verflüchtigt und nichts außer einem hämischen Grinsen zurücklässt."

Und was finden die Menschen jetzt noch mal an Martin Schulz so gut?

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