- • Startseite
- • Politik
-
•
Warum kaum jemand mehr für Seenotrettung spendet
Vor zwei Monaten war die Solidarität noch groß: 1,4 Millionen Euro Spenden kamen damals für die Seenotretterin Carola Rackete, 31, zusammen. Vorausgegangen war ein Stand-Off mit Italiens damaligem Innenminister Matteo Salvini. Rackete durchbrach die Hafenblockade, rammte ein Schiff der Küstenwache und wurde am Hafen von Lampedusa abgeführt. 10 000 Euro Strafe sollte sie zahlen, wurde unter Hausarrest gestellt, der nach drei Tagen aufgehoben wurde. Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf starteten eine Crowdfunding-Kampagne für die Sea-Watch-Kapitänin. Innerhalb weniger Tage kamen mehr als eine Million Euro zusammen. Eine zweite, in Italien gestartete Kampagne, brachte noch einmal mehr als 400 000 Euro. Überall las man Berichte, Reportagen, Portraits, Interviews, Kommentare über die Kapitänin. In den sozialen Medien: große Unterstützung, viel Hass.
Zwei Monate später rettet Mission-Lifeline-Kapitän Claus-Peter Reisch 104 Menschen vor dem Ertrinken von einem Schlauchboot, dem die Luft ausging. „Wir kamen sozusagen in letzter Minute. Das war eine ganz prekäre Situation“, erzählt Reisch von der Rettung in einem Interview mit jetzt. Weil Malta und Italien das Einlaufen des Schiffes in die Häfen unter Androhung einer Freiheitsstrafe verbieten, kann Reisch nicht anlegen. 104 Menschen auf 46 Quadratmeter. Acht Tage lang fahren sie übers Mittelmeer, bis ein Unwetter aufzieht. Reisch entschließt sich, den sizilianischen Hafen Pozzallo anzufahren. An Land warten ein Strafbescheid über 300 000 Euro und möglicherweise 20 Jahre Freiheitsstrafe auf ihn. Beihilfe zur illegalen Einwanderung lautet die Anschuldigung. Das Schiff wird beschlagnahmt.
Warum lässt die Menschen das, was sie bei Rackete bewegte, nun kalt?
In Deutschland bleibt es ruhig. Wo Rackete noch zwei Monaten zuvor als Heldin gefeiert wurde, ist Reisch nur eine Randnotiz. Fast alle Zeitungen veröffentlichen dieselbe dpa-Meldung über den Fall, in den sozialen Netzwerken hält sich die Empörung in Grenzen, Claus-Peter Reischs Crowdfunding-Kampagne für die Gerichtskosten steht nach fast drei Wochen bei rund 19 000 Euro. Fünf Prozent des Kampagnenziels, 1,3 Prozent von dem, was für Sea Watch gespendet wurde. Ein Bruchteil davon, was Prozesskosten, die mögliche Strafe und die Neuanschaffung eines Schiffes kosten. Doch warum lässt die Menschen das, was sie bei Rackete bewegte, nun kalt?
Die jetzt-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von x angereichert
Um deine Daten zu schützen, wurde er nicht ohne deine Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von x angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit findest du unter www.swmh-datenschutz.de/jetzt.
Dieser externe Inhalt wurde automatisch geladen, weil du dem zugestimmt hast.
„Geschichten werden eher angenommen, wenn es einen Helden oder eine Heldin gibt, die die Möglichkeit zur Identifikation bietet“, sagt Josephine Schmitt, Medienpsychologin beim Center for Advanced Internet Studies, und fügt an: „Auch das Schwarz-Weiss-Bild: junge deutsche Kapitänin gegen die übermächtige und aus deutscher Sicht rechte Regierung, ist ein Narrativ, das sehr gut funktioniert.“ Deshalb sei Rackete auch im Fernsehen und in der Zeitung deutlich intensiver behandelt worden als Reisch.
Die Medienpräsenz führte Schmitt zufolge wiederum zu einem deutlich größeren Interesse der Bevölkerung, was sich auch auf die Spendensumme auswirken würde. Dazu kommt die prominente Unterstützung, die Rackete bekam: „Böhmermann und Heufer-Umlauf haben wahnsinnig viele Follower und fungierten bei Rackete für viele als vertrauenswürdige Fürsprecher.“ Doch nicht nur die bekannten Moderatoren hätten großen Einfluss auf die Spendensumme gehabt. Sondern auch die vielen Tweets derer, die gespendet hatten. Während das Crowdfunding lief, war Twitter überfüllt von Spendenaufrufen, oft begleitet von einem Screenshot der gespendeten Summe. Mehr Geld hieß oft auch mehr Likes. „Natürlich ist es auch ein kollektives Erlebnis. Ich schließe mich einer Gruppe an, es gibt prominente Initiatoren. Gleichzeitig kann das Spenden zu einem positiven Selbstbild und einer positiven Außenwirkung führen. Letzteres dadurch, dass man auf den Spendenplattformen seinen Namen veröffentlichen und die eigene Spende dadurch für alle online sichtbar sein kann“, so Schmitt.
Doch auch wenn Menschen wie Heufer-Umlauf und Böhmermann durch ihre Prominenz und ihr Engagement sehr viel Geld für die Seenotrettung einsammeln, wird der Umgang mit diesem Geld auch immer wieder kritisiert. Erst diese Woche kam eine weitere Spendenaktion, die von Heufer-Umlauf im vergangenen Jahr ins Leben gerufen wurde und mehr als 250 000 Euro eingebracht hatte, in die Kritik, da sie die selbstgesteckten Ziele nicht erfüllen konnte. Ein eigenes Schiff sollte gechartert und für Seenotrettung eingesetzt werden. Mittlerweile, so heißt es, sei ein Großteil des Geldes ausgegeben, ohne dass das Schiff jemals in See gestochen wäre. Einige befürchten nun, dass dadurch das Ansehen der Seenotretter schwindet und weniger Menschen bereit sein könnten, zu spenden.
„Ich habe vor diesen 300 000 Euro nicht die Hose voll“
Ein weiterer Grund dafür, dass Reisch nun deutlich weniger finanzielle Unterstützung bekommt, seien die gespendeten 1,4 Millionen selbst. Die nämlich sollten, laut Crowfunding-Kampagne, an verschiedene Seenotrettungs-Organisationen gehen. Immer dorthin, wo es gerade Bedarf gibt. „Dadurch haben die Menschen möglicherweise gedacht: Ach, ich habe gerade gespendet, dann kann ich mich zurücklehnen. Der Reisch kriegt dann wahrscheinlich auch was davon“, so Schmitt. Doch ob und wie viel Geld tatsächlich an Reisch geht, ist unklar.
Von den 1,4 Millionen Euro wurde noch kein Cent ausgegeben. Zunächst musste erst eine Kommission gegründet werden, die über die Verteilung des Geldes entscheidet. Beteiligt sind: Sea-Watch, Seebrücke, Sea Eye, Civil Fleet e.V. und Solidarity at Sea. Fünf Organisationen, die sich auf unterschiedliche Art mit der Seenotrettung beschäftigen. „Die Zusammensetzung hat damit zu tun, dass wir unterschiedliche Perspektiven und Expertisen einbinden wollten“, sagt Ruben Neugebauer, Sprecher von Sea-Watch. „Sea-Watch sieht sich nicht als einzelne NGO, sondern als Teil einer zivilen Flotte. Wir waren immer daran interessiert, möglichst effektiv gemeinsam zu arbeiten.“
Doch so hoch die im Juli gespendete Summe auch wirkt, es könnte sein, dass sie nicht ausreicht, um die zivile Seenotrettung so effektiv zu machen, wie es vor zwei Jahren noch der Fall war. „Aktuell sind fünf Schiffe der Seenotrettung beschlagnahmt. Sollten wir die tatsächlich nicht wiederbekommen, würden die 1,4 Millionen Euro nicht mal ausreichen, um die zu ersetzen“, sagt Neugebauer. Kapitän Reisch hofft, dass das Crowdfunding der Mission Lifeline in den kommenden Tagen noch mehr Zuspruch findet: „Ich kann im Moment nicht beurteilen, warum das so ist. Ich muss ja nicht nur für mich, sondern auch für Martin Ernst, meinen ersten Offizier, sorgen. Der hat nicht das Geld für den Prozess. Wir müssen die Kampagne den Leuten ins Bewusstsein bringen.“ Zumal die aktuelle Strafe nicht die einzige ist, gegen die sich der Kapitän wehren muss.
In Malta läuft seit dem vergangenen Jahr ein Verfahren gegen ihn. Damals riefen ebenfalls Böhmermann und Heufer-Umlauf zum Spenden auf und sammelten knapp 200 000 Euro für Reisch und die Mission Lifeline. „Da läuft noch immer das Berufungsverfahren. Zum Glück haben wir von der großen Crowdfunding-Aktion noch etwas Geld über, mit dem wir gut gehaushaltet haben. Ich weiß aber nicht genau, wie sich die Prozesse entwickeln. Mit dem Gesparten kann es auch schlagartig vorbei sein“, sagt Reisch.
Er hofft dennoch, dass die vor Gericht drohenden Strafen keinen Bestand haben: „Ich habe vor diesen 300 000 Euro nicht die Hosen voll. Die Strafe ist in meinen Augen widerrechtlich und wir werden bis zur letzten Instanz gegen sie vorgehen. Ich musste diese Notlage beenden“, so Reisch im Gespräch mit jetzt.