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Jung, arm, Nichtwähler

Foto: Lorraine Hellwig

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Es ist ein Montag in München-Milbertshofen, ziemlich heiß und gleich müssen die drei Jungs zur Baustelle, Ferienjob. Sie stehen in Malerkleidung um einen VW-Bus herum, warten auf den Chef. „Ich darf wählen“, sagt Marco (alle Namen geändert), 18. „Und ich will auch“. Aus seiner Familie geht sonst niemand zur Wahl. Von seinen Freunden wenige. Das findet er nicht gut. „Ich sag denen immer: Geht hin und macht überall Kreuze. Dann ist das ganze Ding ungültig.“ Ist das besser als Nichtwählen? „Klar. Dann wissen die da oben wenigstens, dass du keinen Bock auf keinen von ihnen hast.“

Marco ist die Ausnahme, die eine Regel bestätigt: Seit Jahrzehnten sinkt die Wahlbeteiligung. Und zwar besonders bei zwei Wählergruppen: Erstens den Jungen. 2013 gingen nur 60 Prozent der 21- bis 24-Jährigen wählen. Und zweitens den Armen. Die Bertelsmann-Stiftung schrieb 2013: „Arbeitslosigkeit, Bildungsstand und Kaufkraft haben nachweislich maßgeblichen Einfluss auf die Wahlbeteiligung“. Die Zahlen bei der Schnittmenge aus jung und sozial schwach sind dementsprechend noch schlechter: Nicht einmal jeder zweite unter 30-Jährige mit Hauptschulabschluss gab an, bei der Bundestagswahl 2009 gewählt zu haben. Kurz vor der Wahl also höchste Zeit, mal wieder rauszugehen und die einfachen Fragen zu stellen: Was denken junge arme Nichtwähler? Warum verweigern sie sich? Ist es der Frust? Oder ist es ihnen egal? Was ist mit denen?

Ein Einkaufszentrum in München-Milbertshofen, Stadtteil „Am Hart“. Hochhäuser, Reihenhäuser, keine Sehenswürdigkeiten, Arbeiterviertel. Wer früher mit der B-Jugend hier kickte, verstand die Gegner nicht, weil sie Türkisch oder Arabisch auf dem Platz sprachen. 2013 lag die Wahlbeteiligung hier bei 61,5 Prozent. Nirgends in München war sie niedriger. Und hier gibt es mehr Arbeitslose, mehr Bildungsschwache, mehr arme Haushalte als anderswo in dieser Stadt, die mit ihrem großen Kontrast zwischen reichen und armen Stadtteilen beispielhaft für viele Städte in Deutschland steht.  

Mitten im grauen Beton liegt wie ein UFO das „Mira“, ein weißer großer Kasten voller H&M, DM, O2 und Woolworth. Hier hängen sie ab, die Erstwähler zwischen 18 und 21. Vor dem McDonald’s ist die Markise nicht ausgefahren, obwohl es schwül ist. Drei junge Frauen in der Sonne. Kaffee und McSundae-Eis. Hallo, Tschuldigung, geht ihr wählen? Erst wollen sie nichts sagen, „nicht über Politik“, dann doch immerhin: „Entscheiden wir spontan“, sagt die Lauteste. „Aber wahrscheinlich hab ich was Besseres zu tun." Was kann denn besser sein, als ein Grundrecht auszuüben? Gelächter. „Macht doch eh keinen Unterschied, ob ich gehe. Was verändert sich dadurch?" Gute Frage. „Und ich weiß auch gar nicht, wie genau das geht. Meine Mutter hat, glaube ich, noch nie gewählt." Die drei lachen. „Deine Mudder“, ruft die eine, aber es kommt keine Pointe mehr.

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Foto: Lorraine Hellwig

Wählen scheint für sie wie ein Gang zum Arzt wegen einer Geschlechtskrankheit. Vernünftig, aber vor allem komisch, lächerlich, peinlich. In der Schule, sagen sie, haben sie mal über das Wahlsystem geredet. Aber das ist Jahre her und ihnen heute ziemlich egal. Jetzt machen zwei eine Ausbildung, bei den Stadtwerken, beim Supermarkt, die dritte sucht noch eine Stelle. Wo? „Egal, Hauptsache Arbeit. Aber ich kenn’ einen“, ruft sie zum Abschied hinterher, „der macht Briefwahl!" Es klingt ein wenig stolz und exotisch, als wäre der nach Lappland ausgewandert. 

„Nichtwählen ist sozial ansteckend. Es wird von den Eltern und dem Umfeld vererbt“

Fast genau so weit weg von Milbertshofen, aus einem Büro der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh, erklärt Dr. Robert Vehrkamp am Telefon, was schiefläuft in Deutschland. Der Direktor des „Programm Zukunft der Demokratie" hat mehrere Studien veröffentlicht über Nichtwähler und die soziale Spaltung unserer Gesellschaft. Das Thema ist ihm extrem wichtig, „schreiben Sie eine gute Geschichte“, sagt er zum Abschied. Denn: „Nichtwählen ist sozial ansteckend. Es wird von den Eltern und dem Umfeld vererbt.“

Seit 1972 ist die Wahlbeteiligung in Deutschland von damals 91,1 Prozent auf zuletzt 71,5 Prozent gesunken. Das macht aktuell 18 Millionen Nichtwähler. „In den letzten 20 Jahren haben sich typische Nichtwählermilieus gebildet“, sagt Vehrkamp, „in denen Wählen die Ausnahme ist. Jetzt erleben wir die erste Generation, die in diese Nichtwählermilieus hineingeboren wurde. Und wer beim ersten oder zweiten Mal nicht wählt, aus dem wird häufig auch kein regelmäßiger Wähler mehr.“

Das trifft vor allem die ganz unten. „In vielen sozial prekären Straßenzügen liegt die Wahlbeteiligung bei 20 bis 25 Prozent. Um die Ecke, in den guten Gegenden, bei um die 80 Prozent. Dieses Muster haben wir überall gefunden. In großen und mittelgroßen Städten, in ganz Deutschland.“ Vehrkamp sieht eine Abwärtsspirale in Gang: „In die Hochhaus-Viertel mit geringer Wahlbeteiligung und hohem Ausländeranteil gehen die etablierten Parteien auf ihren Klingelputz-Touren gar nicht mehr rein.“ Auch in Milbertshofen fällt auf: Plakate der DKPD und der AfD überwiegen. SPD, CDU oder Grüne sind kaum zu sehen. Die scheinen sich auf die Bürger zu konzentrieren, die am Wahltag auch sicher zu Wählern werden. „Deshalb erleben die Leute in den prekären Stadtteilen immer seltener Politiker, die Politiker kennen deren Probleme nicht mehr, erscheinen immer abgehobener, und noch weniger gehen wählen. Ein Teufelskreis!" Sozial vererbte Politikverweigerung, die sich in den Randgebieten dieser Gesellschaft ausbreitet – eine Epidemie des Nichtwählens?

Vor dem Einkaufszentrum stehen Dennis und Hijam, beide hier geboren und wahlberechtigt, beide um die 20. Dennis ist Afrodeutscher, Vater Senegalese, Mutter Deutsche, Hijams Eltern kommen aus Nordafrika. Dennis trägt die gelb-schwarze Briefträgeruniform der Deutschen Post, er hat gerade Feierabend. Hijam geht auf keinen Fall wählen. Dennis überlegt noch, will sich informieren. Hat er schon eine Präferenz? „Was wählst du denn?“, fragt er zurück, und: „Kann man da Merkel wählen?“ Jein, also, in Bayern nicht direkt, also nur die CSU, aber an sich schon. „Ach so. Krass. Aber CSU geht gar nicht. Viel zu rechts." Seine Eltern wählen nicht, von den Freunden nur wenige. Die „Ausländer“, wie er alle Bekannten mit Wurzeln außerhalb Deutschlands nennt, überhaupt nicht. „Keiner, wirklich keiner“, sagt Dennis und schüttelt den Kopf. Dann fragt er: „Wie entscheidest du dich? Erklär mir das mal.“ Maximal schwere Frage, Dennis. Vielleicht damit anfangen, wer was für die Armen, die Flüchtlinge, die Jungen tut? Findet Dennis gut, diese halbe Erklärung. Aber wer erklärt es ihm sonst?

Die höchste absolute Wählerwanderung gab es von den Piraten. Hin zur AfD

Anruf bei den Streetworkern im Viertel. „Wir haben ganz andere Probleme mit den Jugendlichen zu bearbeiten. Existenziellere Fragen sozusagen“, sagt ein Mitarbeiter. Generell sei es für junge Menschen zwischen 17 und 21 hier schwierig mit der Betreuung. „Die Jugendtreffs sind inzwischen eher in der Hausaufgabenbetreuung der Jüngeren tätig.“ An welcher Stelle Erstwähler so etwas wie politische Bildung oder auch nur einen Arschtritt in Richtung Wahllokal bekommen, weiß keiner. Dabei wäre das so wichtig, sagt Professor Vehrkamp. „Wenn sich an dieser sozialen Spaltung nichts ändert, geht irgendwann die Repräsentativität der Wahlen flöten."

Gerade die jungen, sozial schwachen, die demographisch ohnehin in der Minderheit sind, schwächen ihre Position dadurch weiter. „In einer Demokratie wird Politik erstmal für die gemacht, die wählen gehen. Und die frustrierten, vernachlässigten Nichtwähler werden eine leichte Beute für Protestparteien“, sagt Vehrkamp. Nach der NRW-Wahl haben Wahlforscher herausgefunden: Die höchste absolute Wählerwanderung gab es von den Piraten. Hin zur AfD. „Wir glaubten erst an einen Messfehler“, sagt Vehrkamp. „Aber nein. Die AfD hat in NRW sehr gezielt und erfolgreich Protestwähler gefischt. Denen geht es weniger um ein bestimmtes Programm. Wir sehen auch in Frankreich, dass vormals linke und sogar kommunistische Wähler zum rechten Front National übergelaufen sind.“ Kann sich die Gesellschaft das erlauben? Ein wachsender Sockel von Millionen Wahlverweigerern – empfänglich nur noch für Populisten? 

Eigentlich hat Dennis nichts gegen Politik. Er kommt nur so selten dazu

Dennis, der dunkelhäutige Briefträger, findet nicht, dass ihn das etwas anginge. Die AfD? „Ist sowas wie Pegida, ja? Klar mag ich die nicht.“ Aber für ihn ist deren Rassismus sowieso Alltag. „Weil ich anders aussehe, fragen so Idioten mich immer wieder, wo ich herkomme. Ich liebe dieses Land, aber ich gehöre nicht dazu.“ Aber wenn alle, die fühlen wie er, nicht wählen, dann haben doch die Idioten gewonnen? „Ja, hast du recht. Aber die Parteien sind alle gleich." Für ihn als Arbeitnehmer tun doch manche Parteien weniger, andere mehr? „Welche denn? Die SPD? Die sind doch auch an der Macht, oder?" Ja, seit acht Jahren. „Also, klappt doch nicht.“ Anstatt sich darüber aufzuregen, passe er sich lieber an, sagt er, ohne zu erwarten, dass jemand in Berlin sein Leben verbessere. „Klar hätte ich gerne mehr Geld“, sagt er, „aber immerhin habe ich einen Job. Ich kann mich ja nicht beschweren.“ Er liest die Plakate, die hier hängen. Wir stehen zufällig unter einem der Kommunisten: „Löhne rauf, Rüstung runter“. Das findet er gut, denn: „Krieg ist immer schlecht. Dagegen würde ich wählen gehen.“ Eigentlich hat Dennis also nichts gegen Politik. Er kommt nur so selten dazu.

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Foto: Lorraine Hellwig

Wie erreicht man solche wie Dennis früher, bevor sie keinen Bock mehr haben, Herr Dr. Vehrkamp? „Einerseits in den Schulen. Hier kann in Schülermitverantwortung und anderen Projekten erfahren werden, dass Mitbestimmen etwas bringt.“ Das sei sogar wichtiger als die reine Vermittlung von Wissen über die Demokratie. „Das Problem ist, dass solche Projekte vor allem an den Schulen funktionieren, wo sowieso alle wählen gehen.“ Um Schüler früh genug und quer durch alle Schulformen zu erreichen, plädieren Vehrkamp und viele andere Experten vehement für die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre. „Ich habe auch sechzigjährige Bekannte, bei denen man diskutieren könnte, ob die informiert genug sind, um zu wählen“, sagt er. „Aber nur bei den Sechzehnjährigen ängstigen wir uns, dass sie etwas falsch machen könnten.“ 

 

Immerhin: Am Ende des Gesprächs ist Dennis überzeugt. „Okay, ich gehe wählen. Für dich.“ Hand drauf. Ob er mit Namen und Foto für seine Meinung stehen will? „Auf keinen Fall! Das ist Privatsache.“ So wie er sind alle Menschen hier sehr sensibel, was Politik und Öffentlichkeit angeht. Keiner will mit seinem echten Namen oder gar mit Bild veröffentlicht werden. Ob sie wählen gehen oder nicht, ob sie wissen, dass am 24. September der 19. Deutsche Bundestag gewählt wird oder nicht – sie wissen schon, dass das alles theoretisch wichtig ist. Aber am Ende mache es sowieso keinen Unterschied, sagt Dennis´ Freund Hijam. „Die Politiker haben sowieso keine Macht. Das sind nur Marionetten. In Wahrheit entscheiden die Rothschilds und so." Dennis nickt dazu und sagt: „Glauben kann man denen allen auf jeden Fall nichts mehr. Gar nichts mehr.“ Dann gehen sie.

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