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Warum der 9. November ein Feiertag werden sollte
Wer schon mal von München nach Berlin gezogen ist, hat gemerkt: Ausschlafen kann man dort seltener. Die meisten bayerischen Kommunen haben 13 Feiertage im Jahr, die Hauptstadt nur neun. Nun hat die Berliner Landesregierung angekündigt, einen neuen Feiertag einzuführen. Als Datum kursieren der 8. März, weil Weltfrauentag, der 8. Mai, an dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging oder der Reformationstag am 31. Oktober. Der Berliner Beauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Tom Sello, hat schließlich den 9. November vorgeschlagen. Und er sollte Recht bekommen.
Vor allem, wenn man an junge Menschen denkt: die Generation derer, die um die Wende herum oder später geboren wurden. Wir, die Mauerfallkinder, brauchen feste Rituale, die an Ereignisse erinnern, die wir nie vergessen dürfen. Der 9. November ist ein Datum, mit dem wir alle, egal wie alt, mindestens zwei solcher Ereignisse verbinden sollten.
Eines jährt sich 2018 zum 80. Mal: Am Abend des 9. November 1938 stürmten Schlägertrupps der Nazis Orte jüdischen Lebens in ganz Deutschland. Über 1000 Synagogen, 8000 Geschäfte und zahlreiche Wohnungen von Jüdinnen und Juden wurden geplündert, zerstört, in Brand gesteckt. In der Reichspogromnacht und in den Tagen danach wurden Zehntausende Juden in Konzentrationslager verschleppt, viele andere gleich getötet.
51 Jahre später, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer. Die Grenzübergänge wurden nach und nach geöffnet, Tausende Menschen weinten vor Freude.
Zwei Daten, deren Bedeutung größer – und unterschiedlicher – nicht sein könnte. 1938 war das für alle sichtbare Startsignal des schlimmsten Verbrechens in der Geschichte der Menschheit: des Holocausts. 1989 dagegen steht für Freiheit und Hoffnung, es war das Ende der repressiven Herrschaft der SED. Warum wir uns all das immer wieder vor Augen rufen sollten?
Wir Mauerfallkinder sind im Frieden aufgewachsen. Krieg kennen die allermeisten von uns nur aus den Nachrichten. Für uns als Nachwendegeneration ist das geteilte Deutschland längst Geschichte, und dass da keine Mauer mehr steht, eine Selbstverständlichkeit, über die wir selten nachdenken. Gleichzeitig haben die Ereignisse in Chemnitz und das Erstarken der Rechten in Ostdeutschland gezeigt, dass da noch immer ein tiefer Konflikt zwischen Ost und West ist, dass es für viele kein einheitliches „Wir“ gibt. Die Arroganz des Westens, die Aggression im Osten: Die Chance, diese Stereotype endlich zu überwinden, sollten gerade wir Jüngeren nutzen.
Wir tragen die Verantwortung dafür mit, dass solcher Hass nie wieder regiert
Beim Thema Nationalsozialismus gibt es eine ähnliche „Das hat doch mit uns nichts mehr zu tun“-Tendenz, und deren Auswirkungen sind brandgefährlich. Je länger die NS-Zeit und der Holocaust zurückliegen, desto unreflektierter scheint der Umgang damit zu werden. Kollegah und Farid Bang sind Vertreter einer Generation, in der „Du Jude“ auf Schulhöfen und im Netz als Schimpfwort benutzt wird, als wäre es ein Spaß. Oder besser gesagt: Weil es für viele tatsächlich nur ein Spaß ist, so wenig Bezug haben sie zu diesem Teil deutscher Geschichte. Das ist erschreckend – und es zeigt, dass diese Gesellschaft in Sachen Erinnerungskultur ein Generationenproblem hat. Dazu kommt eine große Anzahl antisemitischer Angriffe: Allein im ersten Halbjahr 2018 verzeichnete die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin 527 solcher Attacken.
Ja, das alles hat auch mit uns Mauerfallkindern zu tun. Wir selbst mögen nicht die Schuld für die Verbrechen tragen, die damals begangen wurden – aber wir tragen die Verantwortung dafür mit, dass solcher Hass nie wieder regiert. Ein Gedenktag am 9. November könnte dabei helfen. Welche Impulse haben wir sonst? Nur in einigen Bundesländern sind Besuche einer KZ-Gedenkstätte für Schulklassen Pflicht. Und Zeitzeugen, Holocaust-Überlebende, die von den Grausamkeiten der NS-Zeit erzählen könnten, gibt es immer weniger.
Der Widerspruch ist eine Herausforderung, die wir annehmen sollten
Erinnern an etwas, das man selbst nicht erlebt hat, wird einfacher, wenn sichtbar wird, worum es eigentlich geht. Auch bisher laufen am 9. November historische Dokus, werden Reden gehalten und Veranstaltungen organisiert – bloß erreicht das vermutlich nur diejenigen, die eh wissen, wofür dieses Datum steht. Ein Feiertag aber rüttelt auch den Denkfaulsten wach, indem er Routinen durchbricht und so zumindest einen „Hä?“-Moment auslöst: Warum muss ich heute eigentlich nicht in die Uni, warum haben heute alle Läden geschlossen, kurz: warum gibt es eigentlich diesen Tag?
Klar: Es ist ein Widerspruch, an ein und demselben Tag der Opfern der Nazis zu gedenken und sich gleichzeitig zu freuen, wie friedlich Deutschland seit fast 30 Jahren ist. Aber auch eine Herausforderung, die wir annehmen sollten.
In diesem Jahr jährt sich am 9. November schließlich noch etwas anderes: Die Demokratie in Deutschland wird 100. 1918 wurde die Monarchie abgeschafft und die (Weimarer) Republik ausgerufen. Auch dafür mussten viele Menschen sterben. Wenn wir uns vor Augen führen, was in diesen 100 Jahren allein an den beiden anderen 9. Novembern und dazwischen alles passiert ist – und was womöglich wieder passieren könnte, wenn wir daraus nicht lernen – zeigt uns, wie gut wir es heute haben. Darüber kann man einmal im Jahr schon mal nachdenken. Nicht nur in Berlin.