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Waldkraiburg: Mehrere Anschläge auf türkische Läden
Hasan Cavus hat nur ein Wort für das, was am vergangenen Mittwoch passiert ist. „Geschockt“ sei er, sagt der 48-Jährige. Er meint damit die zerbrochenen Scheiben seines Döner-Imbisses, die stinkende Flüssigkeit, die jemand auf seine Theke gekippt hat, die Angst, die seine Frau seitdem um ihn hat, kurz: den Anschlag auf seinen Laden.
Es war bereits der vierte Anschlag in Waldkraiburg gegen ein Geschäft, das von türkischstämmigen Menschen geführt wird. Die bayerische Kleinstadt liegt 75 Kilometer östlich von München, etwa 23 000 Menschen leben hier. Der schlimmste Anschlag fand in der Nacht auf den 27. April statt: Da wurden bei einem Brandanschlag auf einen Gemüseladen am Sartrouville-Platz in der Waldkraiburger Innenstadt sechs Menschen verletzt. Der Laden ist komplett ausgebrannt, die Feuerwehr geht von einem Schaden im Millionenbereich aus. Nur durch Zufall konnte verhindert werden, dass Menschen durch das Feuer zu Tode kamen. Direkt über dem Laden befinden sich Wohnungen. Bereits Mitte April wurden die Fenster eines Friseursalons und einer Pizzeria eingeschlagen. Und dann die Scheiben von Hasan Cavus’ Döner-Imbiss. Zufall? Daran glaubt hier niemand mehr. „Das ist, weil ich Türke bin“, sagt Hasan Cavus und breitet die Arme aus. „Warum sonst?“
Im Gepäck des Tatverdächtigen fanden die Beamten zehn funktionsfähige Rohrbomben, in seiner Wohnung eine Waffe und Munition
Wahrscheinlich hat er Recht. Sonntagvormittag, einen Tag nach dem Treffen mit Hasan Cavus, verkündet die Polizei bei einer Online-Pressekonferenz, den Tatverdächtigen gefasst zu haben. Sein Motiv ist nach eigenen Angaben sein „Hass auf die Türken gepaart mit einer islamistischen Gesinnung“, so der Leitende Oberstaatsanwalt Georg Freutsmiedl. Der Mann sehe sich als Anhänger des sogenannten Islamischen Staates. Laut Polizei ist der Mann Deutscher mit türkischstämmigen Eltern. Von Beginn an nahmen die Behörden die Anschläge sehr ernst: Schnell übernahm die Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus den Fall, die der Generalstaatsanwaltschaft in München unterstellt ist. Zudem ermittelt die Kriminalpolizei mit einer Sonderkommission namens „Prager“.
Lange hatte die Polizei trotz vieler Hinweise keinen durchschlagenden Erfolg. Am Samstagmorgen dann verbreitete sich in den Whatsapp-Gruppen der türkischen Community in Waldkraiburg plötzlich rasend schnell eine Nachricht: Ein 25-Jähriger wurde festgesetzt, mittlerweile hat er die Taten gestanden. Reiner Zufall führte zum Fahndungserfolg: Der Mann wurde Freitagabend am Bahnhof Mühldorf nur wenige Kilometer von Waldkraiburg kontrolliert, er fiel auf, weil er keinen Fahrschein hatte, Kontrollen ergaben, dass er früher wegen Drogenbesitzes aufgefallen war. Nur deswegen wollten die Beamten ihn mit auf die Wache nehmen. In seinem Gepäck fanden sie dann, so erklärt es die Polizei am Sonntagvormittag vor der Presse, zehn „funktionsfähige Rohrbomben“. Bei einer späteren Vernehmung gestand der Mann die Taten – und gab an, auch Waffen und Sprengstoff in einem Auto in einer Tiefgarage in Garching und in seiner Wohnung in Waldkraiburg zu lagern. Die Polizei fand einen Sack mit zehn Kilo Sprengstoff und mehrere Rohrbomben, außerdem Schwarzpulver, eine Pistole und Munition. Polizeipräsident Robert Kopp aus Rosenheim betont: „Wir haben weitere schwerste Gewalttaten, vermutlich sogar Anschläge auf türkische Läden verhindert.“ Gegen den Mann wurde Haftbefehl erlassen. Er hatte die Rohrbomben wohl selbst gebaut.
Hasan in seinem Imbiss. Er arbeitet weiter, aber er hat Angst.
Zerschmetterte Scheiben: So sah der Döner-Imbiss am Tag nach dem Anschlag aus.
Davon weiß Hasan Cavus am Samstagmittag noch nichts. Er steht in seinem Imbiss, schaut auf die zerbrochenen Scheiben, die er notdürftig mit Pappe zugeklebt hat, und fährt mit dem Finger über die Anrichte. Dort sind noch dunkle Flecken zu sehen von der Flüssigkeit, die jemand über die Theke gegossen haben muss. Lange hielt sich das Gerücht, dass es Schweinekot sein könnte. Tatsächlich handelt es sich um eine nicht genau definierbare Flüssigkeit, die bei der Herstellung von Alkoholika entsteht und riecht wie Buttersäure, das verkündet die Polizei am Sonntag. „Ich habe hier so oft geputzt“, sagt Hasan Cavus. Das Metall glänzt. Die Spuren werden bleiben. Erst seit Kurzem hat er wieder geöffnet, wegen der Corona-Maßnahmen musste der Laden vier Wochen geschlossen bleiben. Cavus nimmt die Maßnahmen sehr ernst. Das Interview findet im Stehen und mit Maske statt. Auf dem Tisch nebenan lagern Salatköpfe in einer Schachtel, es gibt Baklava mit Pistazie, in einem Kühlschrank Cola, Ayran und Limonaden. An der Wand hängt eine Karte von Waldkraiburg, über der Theke drehen sich zwei Dönerspieße. Im Juli 2019 übernahm er den Laden von seiner Cousine. Gerade wohnt er noch mit seiner Familie im 40 Kilometer entfernten Burgkirchen, eigentlich wollten sie im kommenden Jahr nach Waldkraiburg ziehen. Seine achtjährige Tochter geht gerade in die dritte Klasse, die Familie wollte vor dem Umzug noch den Übertritt nach der Grundschule abwarten. Jetzt ist alles anders: „Meine Frau will nicht mehr hierher ziehen, sie hat zu große Angst.“ Nach dem Anschlag brauchte der 48-Jährige erst einmal einen Tag Pause. „Ich war körperlich und psychisch völlig fertig“, erzählt er. Dann begann er zu putzen.
Serdar vor seiner Pizzeria.
3000 Euro Belohnung hatte die Polizei auf Hinweise zum Täter ausgesetzt.
Auch in der Pizzeria von Serdar Artuk wurde Mitte April eine Scheibe eingeworfen. Die ist jetzt ersetzt, und Serdar Artuk steht am Samstag vor seinem Lokal. Der 46-Jährige ist wütend, das sieht man ihm an, seine Lippen sind zusammengekniffen, er schaut entschlossen. „Wir hatten jetzt vier Anschläge innerhalb von vier Wochen auf ausländische Gewerbetreibende. Beim Brandanschlag wurde durch puren Zufall verhindert, dass Schlimmeres passierte. Die Leute sind sehr verunsichert.“
Von seiner Pizzeria läuft man fünf Minuten zum Rathaus von Waldkraiburg, ein paar Meter weiter befindet sich der Ort des Brandanschlags. Der ausgebrannte Gemüseladen ist großräumig abgesperrt worden, der Drogeriemarkt nebenan ist geschlossen, das Wollgeschäft auf der anderen Seite wird nicht mehr öffnen. Zu viele giftige Dämpfe sind in den Laden eingedrungen. Von einem Fenster grüßen freundlich aus Papier ausgeschnittene Sonnenblumen – es befindet sich direkt über dem verwüsteten Markt. Über den Geschäften sind Wohnungen. Sie sind der Grund, aus dem nicht alleine wegen schwerer Brandstiftung und Sachbeschädigung gegen den mutmaßlichen Täter ermittelt wird, sondern auch wegen versuchten Mordes in 27 Fällen. Hätte ein Nachbar das Feuer nicht zufällig bemerkt, wäre die Feuerwehr nicht so schnell vor Ort gewesen, hätte es Tote geben können.
Der Inhaber des ausgebrannten Ladens will sich von dem Angriff trotz allem nicht unterkriegen lassen. „Sobald alles wieder aufgebaut ist“, postet er auf Instagram, „wird dieses Geschäft wieder eröffnet, und selbst wenn es mit einer Gurke und einem Apfel beginnt, das garantiere ich dem oder den Tätern.“ In einer Direktnachricht schreibt er, dass er einfach nur traurig sei.
Der Gemüseladen ist völlig ausgebrannt.
Derzeit ist der Ort weiträumig abgesperrt.
Über dem Gemüseladen sind Wohnungen. Nur durch einen Zufall konnte verhindert werden, dass Menschen durch das Feuer zu Tode kamen.
Manchmal bleiben Menschen vor der Absperrung stehen und versuchen, einen Blick hinter die weiße Plane zu erhaschen: Sie sehen dann einen Schutthaufen aus verkohlten Holzbrettern und Metallgittern, auf denen mal Granatäpfel und Orangen lagen, und vor allem, dass nichts mehr übrig ist von dem, was diesen Laden einmal ausmachte: „Das Geschäft war ein Treffpunkt“, erzählt Dennis Uzon. Der Linkenpolitiker war früher oft in dem Laden einkaufen: Fladenbrot, Obst, Gemüse. „Es war einer der wenigen kleinen Läden in der Innenstadt, der sich gegen die Discounter am Stadtrand durchsetzen konnte. Der Besitzer war für die Menschen nicht nur Verkäufer, sondern auch jemand, mit dem man über alles reden konnte.“ Ginge es nach Dennis, fände an diesem Samstagnachmittag gegenüber des Ladens eine Solidaritätsdemonstration statt, er wollte sie kurzfristig anmelden, doch aus „verschiedenen organisatorischen Gründen“, wie er es nennt, wurde das nichts. Vielleicht in der kommenden Woche. Das wäre ihm wichtig, denn das Thema treibt ihn um.
Dennis Uzon trägt ein weißes Hemd und Sakko, dazu enge Jeans und schwarze Turnschuhe. Er ist 18 Jahre alt und in Waldkraiburg aufgewachsen. Gerade geht er in die 11. Klasse, die Abiturprüfungen stehen also erst im kommenden Jahr an, „so ein Glück“, sagt er, wegen Corona. Vor zwei Jahren trat Dennis in die Linke ein, weil ihn das Ergebnis der Bundestagswahl so schockte. Mittlerweile vertritt er seine Partei im Kreistag. In Waldkraiburg holte die AfD 20 Prozent der Stimmen, die Stadt ist eine Hochburg der Rechten.
Dennis engagiert sich seit zwei Jahren in der Linken in Waldkraiburg.
Waldkraiburg ist eine verhältnismäßig neue Stadt, sie wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, das ist jetzt 75 Jahre her. Sie war als Vertriebenenstadt gedacht, Sudetendeutsche siedelten an, heute stehen hier Neubauten, Wohnungen mit Balkonen. Viele Läden stehen leer. Gleichzeitig ziehen immer mehr Menschen zu, denen München zu teuer, zu voll, zu anstrengend wird. Dennis beschreibt Waldkraiburg als „multikulturell“. Für ihn ist das ein positiver Begriff, er hat enge Kontakte zur kurdischen Community. Andere sehen das anders.
Alle Betroffenen kritisieren, dass die ersten beiden Anschläge kaum öffentlich wahrgenommen wurden
„Klar habe ich in Waldkraiburg schon Erfahrungen mit Rassismus gemacht, zum Beispiel dumme Sprüche bekommen. Aber das ist eine neue Dimension“, sagt Zeynep Gülcino. Sie ist in Waldkraiburg aufgewachsen, mittlerweile studiert die 23-Jährige in Erlangen. Bis vor einem Jahr hatte ihr Vater in der Stadt ein Café. Jetzt ist er froh, dass er es schon geschlossen hat. „Die Anschläge erschüttern mich total“, sagt sie während eines Videoanrufs. Es ist der 8. Mai. Zeynep findet es absurd, dass Deutschland den Tag der Befreiung feiert und in ihrer Heimatstadt gleichzeitig türkische Läden attackiert werden. „Es ist wahnsinnig traurig, dass ich das sagen muss, aber mich überrascht das nicht, nicht nach dem, was in Hanau und Halle passiert ist. Es trifft mich aber noch härter, weil Menschen, die ich kenne, direkt betroffen sind. Ich habe Angst um meine Familie“, sagt die 23-Jährige.
Zuversichtlich stimme sie, dass die Behörden die Anschläge ernst nehmen. Auch der bayerische Innenminister hat sich geäußert, das findet Zeynep gut. Joachim Herrmann (CSU) sagte am Mittwoch nach dem vierten Anschlag: „Wir messen dem Geschehen eine sehr hohe Bedeutung bei.“ Er sei „fassungslos und tief erschüttert.“ Er vermute, dass Menschen mit ausländischen Wurzeln gezielt verunsichert und verängstigt werden sollten, und machte deutlich: „Solche Straftaten werden wir nicht hinnehmen, sondern mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln konsequent verfolgen.“
Alle Betroffenen kritisieren dagegen, dass die ersten beiden Anschläge kaum öffentlich wahrgenommen wurden. Zeynep sagt, sie hätte sich früher mehr Aufmerksamkeit gewünscht. Und weist wütend darauf hin, wie wichtig Sprache ist: „In einem Beitrag war von sogenannten ,ausländerfeindlichen‘ Anschlägen die Rede. Wir sind keine Ausländer! Wir sind Deutsche. Diese Sprache macht eine Kluft auf zwischen einem ,ihr‘ und einem ,wir‘, die so gefährlich ist.“ Das mache deutlich, wie stark Rassismus in der deutschen Gesellschaft verwurzelt sei.
Der Tatverdächtige plante in „naher Zukunft“ weitere Anschläge
Auch der Dönerladen-Besitzer Hasan Cavus hatte nichts von den Anschlägen mitbekommen, bis der Gemüseladen brannte – und die Vorfälle das Gesprächsthema Nummer Eins in Waldkraiburg und Umgebung wurden. Auch türkische Medien berichteten: Er zeigt auf seinem Handy ein Bild, das ihm ein Freund geschickt hat. Im Aufmachertext auf der Titelseite einer türkischen Zeitung geht es um die Anschläge. Auf dem Bild ist Hasan Cavus im Gespräch mit der Polizei zu sehen. Dann unterbricht er plötzlich das Gespräch und eilt hinter die Theke zu den Dönerspießen – sie brennen sonst noch an. „Schwarzen Döner will ja niemand“, ruft er über die Schulter nach hinten. Dann checkt er sein Handy. Seine Frau hat jetzt Angst um ihn. Er schreibt ihr auf Whatsapp eine Nachricht, wenn er im Laden angekommen ist, er schreibt ihr, wenn er losfährt, er schreibt ihr zwischendurch und wenn es länger dauert, wie so oft. Er hat noch einen zweiten Imbiss, arbeitet sieben Tage die Woche, 14 Stunden pro Tag. „Ich brauche Arbeit, sonst gehe ich ein.“ Er zahle doch Steuern, sagt er dann noch. Er liege doch niemandem auf der Tasche. Wenn man ihn fragt, wie es ihm jetzt damit geht, wieder in den Laden zu kommen, schweigt er erst kurz. „Wie fühlt es sich an?“, wiederholt er die Frage und atmet tief ein und aus. Und sagt dann: „Die Frage ist: Wie geht das weiter? Greifen sie bald Menschen an?“
Nach Angaben der Polizei war das der Plan. Der Tatverdächtige selbst gab an, „sehr bald“ weitere Taten geplant zu haben. Die Polizei ermittelt nun, ob der Mann Helfer*innen hatte, ob hinter ihm ein Netzwerk steht. Kripo-Chef Hans-Peter Butz sagt: „Man mag sich das gar nicht vorstellen, was da passiert wäre.“ Auch Dennis Uzon will sich das nicht vorstellen, er ist nach der Pressekonferenz vor allem entsetzt, als er anruft: „Es gibt noch so viele offene Fragen“, sagt er. Und vermutet, dass der Tatverdächtige nicht alleine gehandelt hat. „Er hat Anschläge geplant, bei denen Menschen getötet worden wären. So etwas gab es in Waldkraiburg noch nie.“ Serdar Artuk ist erleichtert, dass der mutmaßliche Täter jetzt gefasst ist: „Mir geht es jetzt besser deutlich besser“, sagt er nach der Pressekonferenz am Telefon. „Vor allem aber bin ich geschockt. Wie kann man so viel Hass in sich haben?“