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Ukrainekrieg: Queere Russ:innen und die Angst vor der Mobilmachung
Der homosexuelle Stepan plante, sich notfalls im Wald zu verstecken. Die trans Frau Olga versucht, ihr Geschlecht im Pass so schnell wie möglich zu ändern, darin ist noch das männliche Geschlecht eingetragen. Beide sind Russ:innen, beide sind queer, beide haben Angst vor der Einberufung. Denn auch wenn die Mobilisierung vom russischen Verteidigungsministerium vorerst für beendet erklärt wurde, kann sie jederzeit wieder aufgenommen werden.
In diesem Text erzählen Stepan und Olga davon, wie sie es schafften, die Einberufung bisher zu umgehen, von ihrer Einstellung zur russischen Armee und davon, was sie tun würden, müssten sie doch noch an die Front.
„Ich versuche, das Haus nicht zu verlassen, und meide die Polizei“
Olga, 22, ist eine trans Frau. In ihrem russischen Pass hat Olga das männliche Geschlecht und einen anderen – männlichen – Namen. Daher gilt sie vor dem Gesetz als männlich und kann theoretisch jederzeit eingezogen werden.
„Als der Krieg begann, hatte ich bereits sechs Monate lang weibliche Hormone genommen. Ursprünglich hatte ich geplant, das ein paar Jahre lang zu machen, dann wollte ich erst die ärztliche Prüfung für die Bescheinigung über die Geschlechtsumwandlung machen. Durch die Hormontherapie verändert sich mein Körper: Die Haare in meinem Gesicht gehen zurück, meine Gesichtszüge werden weicher.
Die Änderung des Geschlechtseintrags in einem russischen Pass ist nicht so schwierig, wie man denken könnte. Für eine solche Umwandlung muss man einen Psychiater aufzusuchen, der bescheinigt, dass man ,wirklich transgender‘ ist, und dann Untersuchungen einer medizinischen Kommission durchlaufen, um eine Bescheinigung über die Geschlechtsumwandlung zu erhalten. Damit kann das Geschlecht in der Geburtsurkunde und im Pass geändert werden.
Ich wollte mir Zeit für alles nehmen. Doch als ich am 24. Februar aufwachte und die Nachrichten schaute, war ich nicht nur schockiert, weil ich sah, wie mein Land in die Hölle ging. Ich hatte zudem Panik, dass ich vom Militär eingezogen werden könnte. Mir wurde klar, dass ich nicht weiter warten darf – ich gelte vor dem Gesetz als Mann im Einberufungsalter. Auch vor dem Krieg hatte jeder in Russland mit einem männlichen Geschlecht im Pass Angst vor der Armee. Der Wehrdienst dauert ein Jahr und es ist fast unmöglich, ihn zu verweigern. Im Internet tauchen immer wieder Videos von Schikanen, Folter und Demütigungen auf.
Während der Schulzeit musste ich in ein einwöchiges militärisches Ausbildungslager. Damals war ich vor meinen Mitschüler:innen als bisexuell geoutet, aber noch nicht als trans Frau. Ich wurde in der Schule von ihnen gemobbt. Aber in dem Lager waren alle durch die schreienden Kommandanten so gestresst, dass sie mich zumindest in dieser Woche in Ruhe ließen. Als ich zurückkam, stand mein Entschluss fest: Ich will nach der Schule nicht dienen. Ich wohnte nicht an meiner Wohnanschrift und habe es erfolgreich vermieden, eine Vorladung zu erhalten (normalerweise kommt eine Vorladung an die Adresse der Wohnanschrift. Nach Erhalt der Bescheinigung muss der Wehrpflichtige zum Einwohnermeldeamt gehen, um die ärztliche Untersuchung zu bestehen und dann einen Termin für den Dienstbeginn festzulegen, wenn er/sie die Untersuchung erfolgreich bestanden hat, Anm. d. Red.). Ich hatte vor, mich weiter zu verstecken, bis ich das Geschlecht in meinem Pass geändert hatte. Frauen sind in Russland normalerweise nicht wehrpflichtig.
Im Frühling sah es so aus, als ob Putin die Bevölkerung doch nicht mobilisieren würde, und ich verschob meinen Termin bei der medizinischen Kommission für die Geschlechtsumwandlung im Pass. Ich beschloss, der hormonellen Umwandlung weiterhin den Vorrang zu geben, wie ich es geplant hatte. Aufgrund von Sanktionen sind Hormone in Russland jedoch schwer zu bekommen. Es gibt sie fast nicht mehr in Apotheken oder sie sind sehr teuer geworden. Ich hatte Angst, dass ich meine Hormonumstellung deswegen unterbrechen müsste. Doch dann stieß ich auf eine russische Initiative namens ,Girl Power‘, die eine Substanz mit Östrogen für intramuskuläre Injektionen herstellt. Diese Art der Hormonersatztherapie ist günstiger.
Am 21. September wurde die Mobilisierung angekündigt. Als ich die Nachrichten las, fühlte ich mich hilflos. Und mir wurde klar, dass ich mich dringend für eine Geschlechtsumwandlung anmelden musste. Das Zentrum T, eine NGO zur Unterstützung von Transgender-Personen in Russland, half mir, einen Termin in einer Privatklinik zu vereinbaren. Das erste Mal ging ich am 13. September hin. Ich hatte einen Termin bei einem Psychiater. Er bescheinigte mir, dass ich eine trans Frau bin. Beim zweiten Mal, am 13. Oktober, analysierte ein klinischer Psychologe meine Biografie und testete meine Fähigkeit, logische Zusammenhänge herzustellen. Der letzte notwendige Termin, mit einem Sexualwissenschaftler und der Ärztekammer, fand am 19. Oktober statt. Dort habe ich eine Bescheinigung über die Geschlechtsumwandlung erhalten. Ich bereite jetzt alle anderen Dokumente vor, um mein Geschlecht im Pass zu ändern. Bis dieser ganze Prozess abgeschlossen ist, versuche ich, das Haus nicht zu verlassen, und meide die Polizei.
Derzeit ist die Mobilmachung ja gestoppt. Aber wer weiß, was noch passiert. Ich werde definitiv nicht in den Krieg ziehen. Kein vernünftiger Mensch braucht das. Das schadet allen – auch den Russ:innen. Wenn sie hinter mir her sind, werde ich bis zu den höchsten Instanzen klagen. Und wenn sie mich mit Gewalt in die Ukraine bringen, werde ich mich bei der ersten Gelegenheit in ukrainische Gefangenschaft begeben. Ich möchte kein Maschinengewehr auf friedliche Städte richten, ich möchte keine Maschinen warten, die Autos und Häuser zertrümmern, ich möchte nicht, dass mein Handeln zum sinnlosen Verlust von Menschenleben führt. Das würde ich mir nie verzeihen.“
„Die Armee nimmt einem Menschen alles, was ihn zum Menschen macht“
Stepan heißt eigentlich anders – aus Sicherheitsgründen bat er darum, seinen echten Namen nicht zu veröffentlichen. Stepan ist homosexuell.
„Am 24. Februar habe ich geweint. Ich beschloss, im Falle einer Mobilisierung in den Wald zu fliehen und dort die Einberufung abzuwarten. Damals, im Frühling 2022, hatte ich einen Rucksack gepackt. Darin befanden sich ein Zelt, eine Säge, eine Axt, eine Schaufel und eine Gasflasche mit Kocher.
Als Putin die Mobilisierung ankündigte, wurde mir klar, dass die Flucht in den Wald zu extrem ist. Also beschloss ich, ins Ausland zu gehen. Freunde in Frankreich hatten mich seit Kriegsbeginn gebeten, zu ihnen zu kommen. Ich musste mich beeilen: In Moskau, wo ich gemeldet bin, hatten mich bereits Militärbeamte aufgesucht, um mir meine Vorladung zuzustellen. An der Adresse wohnen meine Eltern. Sie weigerten sich, die Vorladung anzunehmen. Aber mir wurde klar, dass sie bereits nach mir suchten – als Wehrpflichtiger unter 35 Jahren mit Diensterfahrung. Die Chancen, dass sie mich am Flughafen durchlassen würden, waren gering. Ich hatte ein Ticket für den 27. September gekauft, weil es Gerüchte gab, dass die Grenze am 28. September geschlossen werden würde. Ich war sehr nervös, als ich das Haus verließ.
Ich kam sechs Stunden vor meinem Abflug am Flughafen an. Mein Onkel hat mich hingefahren und gewartet, falls ich nicht durchkommen würde. Schon bei der Passkontrolle sah ich, dass der wehrpflichtige Mann vor mir nicht durchgelassen wurde. Ein rotes Stoppschild über der Grenzschutzkabine blinkte. Ich war der Nächste. Das Stoppschild blinkte erneut. Ich wurde in einen Raum gebracht, in dem eine ganze Gruppe von Männern saß, die nicht ausreisen durften. Einige weinten, andere randalierten. Dort wurde mir ein Papier ausgehändigt, das mir als Wehrpflichtigem verbot, das Land zu verlassen.
Als ich den Flughafen nach meinem Fluchtversuch verließ, sagte meine Familie, ich sähe deprimiert aus. Ich selbst habe nicht viel gefühlt. Wir gingen gemeinsam nach Hause, um den Kummer in Alkohol zu versenken. Am nächsten Tag begann ich, mir einen Plan B auszudenken. Vor einigen Monaten hatte ich in einem IT-Unternehmen angefangen und wurde erst kürzlich als Mitarbeiter eingestellt. Dieses Unternehmen steht auf der Liste des Ministeriums für Digitales, dessen Mitarbeiter von der Mobilisierung befreit werden sollen. Jetzt versuche ich, über die Firma einen Aufschub zu bekommen. Wenn das nicht klappt, werde ich auf meinen Fluchtplan im Wald zurückgreifen. Am schwierigsten ist es, sich dort zu ernähren. Wenn sie mich aber holen und ich es nicht schaffe, in den Wald zu fliehen, werde ich wahrscheinlich ins Gefängnis kommen. Und wenn ich auf dem Schlachtfeld lande, werde ich, sobald ich Ukrainer sehe, zu ihnen laufen – um mich zu ergeben.
Als schwuler Mann ist es beim Militär noch schlimmer als für nicht queere Männer. Nach der Schule wollte ich mich für ein Studium für Zivilpiloten einschreiben, weil ich dachte, dass ich so vor der Armee sicher sein würde (in Russland sind Studierende an der Universität für die Zeit ihres Studiums vom Militärdienst freigestellt, Anm. d. Red.). Allerdings bin ich beim ersten Mal nicht reingekommen. Als ich eine Vorladung zum Militär erhielt, hatte ich nicht die Kraft, darüber nachzudenken, wie ich mich dem Militärdienst entziehen könnte – also beschloss ich, zu dienen.
Die Annexion der Krim war da schon abgeschlossen. Die habe ich verurteilt. Mein Großvater stammte aus der Oblast Cherson. Ich habe dort als Kind und Jugendlicher jeden Sommer verbracht. Nach der Annexion der Halbinsel waren meine Eltern und ich nie wieder dort, aus Prinzip. Dass ich mit meinem Wehrdienst auch die Annexion und das militärische Russland unterstützen würde, war mir in dem Moment nicht klar.
Zu Beginn des Wehrdienstes war ich es gewohnt, meine sexuellen Vorlieben zu verbergen. Wenn in der Schule jemand Schwulenwitze gemacht hat, habe ich mitgespielt. Ich glaubte, dass ich auch in der Armee in der Lage sein würde, mich so zu verhalten, dass ich nicht schikaniert würde. Das einzige, wovor ich Angst hatte, war, im Schlaf zu reden. In der Kaserne schlafen alle in einem Raum, und das Unterbewusstsein kann man nicht kontrollieren.
Während der ersten drei Monate im Dienst wird der Soldat psychologisch gebrochen. Er muss Befehle befolgen, ohne sie in Frage zu stellen. Die Bedingungen in der Armee sind so, dass der Soldat zwei Möglichkeiten hat: Entweder ständig zu protestieren und sich das Leben zur Hölle zu machen, mit ständigen Strafen und Geschrei. Oder Energie zu sparen und alles widerwillig hinzunehmen. Ich habe mich für den zweiten Weg entschieden.
Eines Tages kam ein Kommandeur in unsere Kaserne und fragte plötzlich: ,Gibt es unter euch irgendwelche Schwuchteln?‘ Mein Herz raste. Ich versuchte, die kleinste Bewegung meiner Gesichtsmuskeln zu kontrollieren, um mich nicht zu verraten. Ich hatte Panik, entdeckt zu werden. Aber niemand hat etwas bemerkt. Die Unteroffiziere machten noch ein paar homophobe Witze und gingen dann zu einem anderen Thema über. Kurz bevor ich zur Armee ging, schenkte mir mein Onkel ein kleines Notizbuch, in dem ich jeden Abend aufschrieb, was mir in der Armee widerfuhr. Das Notizbuch wurde mein bester Freund. Obwohl ich in diesen Einträgen so offen wie möglich war, hatte ich Angst, über meine Sexualität zu schreiben.
Am 19. November 2016 wurde ich aus der Armee entlassen. Um dort ein Mensch zu bleiben und nicht zu einem dressierten Tier zu werden, musste ich eine gigantische Anstrengung unternehmen. Die Armee nimmt einem Menschen alles, was ihn zum Menschen macht: Freiheit, Selbstentfaltung, Stolz und Selbstachtung. Das würde ich niemandem wünschen.
Nach der Armee schaffte ich es trotzdem, eine zivile Pilotenausbildung in St. Petersburg zu absolvieren. Und ich habe endlich angefangen, mir meiner Sexualität bewusst zu werden – ich habe mich bei Tinder angemeldet. Zuerst hatte ich Angst vor Verabredungen. Ich dachte, am anderen Ende der Leitung säße ein Schwulenhasser, der mich herauslocken und verprügeln wollte. Bevor ich mich mit einem Mann verabredete, schrieb ich ihm eine lange Weile und traf mich dann mit ihm an einem belebten Ort. Ich habe meinen Freund über Tinder kennengelernt – wir sind jetzt seit zwei Jahren zusammen.“