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Interview mit Melz Malayil: Über Tokenism und den Umgang mit Rassismus am Arbeitsplatz
Nach dem Attentat in Hanau und spätestens seit der „Black Lives Matter“-Bewegung (BLM) in den USA wollen sich viele Menschen mehr mit ihren Rassismen auseinandersetzen. Einen großen Anteil im Leben macht der Arbeitsplatz aus. Wie steht es hier um Rassismus? Im Interview spricht Melz Malayil über Tokenism: Ein rassistisches Verhalten, bei dem Menschen aufgrund eines (zugeschriebenen) Merkmals eingestellt und als Aushängeschild benutzt werden, um das Image der Firma aufzupolieren. Melz ist Menschenrechtspädagogin und Empowerment- und rassismuskritische Trainerin in Stuttgart. Sie arbeitet mit sozialen Organisationen und mit weißen Fachkräften daran, eine Sensibilität für Diversität und Rassismus aufzubauen. Bei ihren Empowerment-Trainings erarbeitet sie mit Black, Indigenous und People of Color (BIPoC) Strategien für den Umgang mit Rassismus am Arbeitsplatz. Dieses Angebot für Fachkräfte of Color ist in Deutschland so gut wie einmalig.
jetzt: Du machst Fortbildungen für Organisationen, die sich mit Rassismus auseinandersetzen wollen. Wenn die allerdings nur mehr Menschen of Color einstellen, um sie ins Rampenlicht zu stellen, nennt man das Tokenism. Wie kann man das erkennen?
Melz Malayil: Eigentlich möchte man intern nichts an den gegebenen hierarchischen Strukturen verändern. Nur nach außen will man zeigen: „Hey guck mal, wir haben kein Rassismusproblem!“ Ein Token soll dazu eine bestimmte Gruppe oder Kategorie, die man ihr zuschreibt, repräsentieren. Meist arbeitet nur eine BIPoC im Team. Gibt es mehrere, ist es sehr typisch, dass sie voneinander getrennt werden und keine Möglichkeit haben, sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. Sie sollen sich den gegebenen Verhältnissen anpassen und keine eigenen Ideen oder Änderungsvorschläge einbringen. Wenn Token gute Arbeit leisten, gilt das als Ausnahme. Oft suchen Leitung und Mitarbeiter*innen bei diesen angeblichen „Ausnahmen“ nach „Fehlern“, gerade wenn BIPoC meinungsstark auftreten oder Probleme direkt ansprechen. Macht ein Token einen kleinen Fehler, sehen sie das als typisches Verhalten der gesamten „repräsentierten Gruppe“. Aufstiegschancen sind meistens Fehlanzeige.
„Ein Unternehmen muss anerkennen, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches System und Problem ist“
Woran liegt das?
Marginalisierte Menschen werden nur dann in ein Unternehmen zugelassen, wenn sie die Meinung der dominanten Gruppe bestätigen oder selbst weiß gelesen werden. Diese Gefahr kann man vermeiden, wenn man als Unternehmen ganzheitlich versucht, die Strukturen zu verändern. Es reicht nicht, Menschen of Color einzustellen. Ein Unternehmen muss anerkennen, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches System und Problem ist.
Was muss man dann alles bedenken?
Ein Blick auf das Einstellungsverfahren ist wichtig: Wen möchten wir mit Stellenausschreibungen erreichen? Wer verfasst sie? Macht man eine aktive Anwerbung von BIPoC? Oft haben die Ängste und fragen sich, ob sie in einer weißen Organisation arbeiten wollen. Außerdem muss man sich die Kommunikation im Team anschauen. Wie reagieren wir, wenn wir Rassismus reproduzieren? Wie sprechen wir Rassismus an? Welche Begriffe und Verhaltensweisen sind No Gos? Wie gehen wir mit Konflikten um? Denn Rassismus ist nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall. Wir alle sind in diesem System sozialisiert. Dafür können wir gar nichts, aber wir reproduzieren es deswegen auch unbewusst. Beim Umgang damit sollte die Perspektive der Betroffenen im Fokus stehen. Eine externe Prozessbegleitung ist sinnvoll, um das Thema ernsthaft und ganzheitlich anzugehen. Man könnte auch eine unabhängige qualifizierte Ansprechperson einstellen oder mit Beratungsstellen zusammenarbeiten.
Wie wirkt sich diese Token-Werbetaktik auf den*die Einzelne*n aus?
Manche BIPoC gehen auch mit dem Wissen, dass sie vielleicht als Token eingestellt wurden, in ein neues Unternehmen rein. Sie versuchen, die Struktur von innen heraus zu verändern.
Kann das funktionieren?
Das ist von vielen Faktoren abhängig: Werde ich als Person wahrgenommen, die eine eigene Perspektive hat und nicht nur Repräsentantin einer Gruppe sein soll? Verliere ich meine Stelle, wenn ich Rassismus kritisiere? In der Regel hat sich der Token schon ins Aus geschossen, wenn er solche Themen anspricht. Wenn das Unternehmen aber für einen Lernprozess offen ist, kann sich etwas ändern.
Inwiefern arbeitest du an solchen Themen auch in deinen Empowerment-Trainings?
Bei den Trainings können sich BIPoC Menschen über Rassismuserfahrungen im Beruf austauschen. Dieses Angebot habe ich mit meiner Kollegin Hatice Avci ins Leben gerufen. Es ist so gut wie einmalig, wir haben Teilnehmer*innen bundesweit. Der Bedarf ist groß, denn am Arbeitsplatz gibt es keine geschützten Austauschmöglichkeiten für BIPoC. In diesen Workshops entwickeln wir gemeinsam Lösungsstrategien und besprechen rassismuskritische Organisationsentwicklung.
„Es wäre wichtig, dass eine Quote die gesellschaftliche Realität widerspiegelt“
Unternehmen beschäftigen sich derzeit freiwillig mit Rassismus. Könntest du dir auch eine Diversitätsquote vorstellen?
Ich denke, dass Quoten ein guter Anfang sind. Wir wissen, dass zwei Drittel der Stellen nicht öffentlich ausgeschrieben, sondern intern oder über Netzwerke, Seilschaften und Sympathien besetzt werden. Nicht per se immer per Qualifikation. Historisch und strukturell betrachtet haben wir schon immer eine systematische Bevorzugung von Weißen. Vor allem von weißen cis Männern (Anm. d. Redaktion: cis = Wenn Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt). Das finden wir okay, weil uns nicht auffällt, warum immer die gleichen Menschen bestimmte Positionen innehaben. Die Quote ist der Versuch, diese Benachteiligung bei gleicher Qualifikation abzubauen. Jedoch reicht die Quote allein nicht aus, sondern Wissen über Rassismus und Qualifizierung sind in Unternehmen nötig.
Wie hoch müsste so eine Quote sein?
Es fällt mir schwer, Prozente festzulegen. Denn wie viel Prozent der Menschen in Deutschland sind denn BIPoC? Es wäre wichtig, dass eine Quote die gesellschaftliche Realität widerspiegelt.
Durch Corona hat sich vieles in der Arbeitswelt verändert. Betrifft das auch die Prioritätensetzung von Unternehmen, wenn es um Diversität geht?
„Diversity“ im Sinne von Abbau sozialer Ungleichheit und Schaffung eines sozialen, würdevollen und menschlicheren Wirtschaftssystem darf in Corona-Zeiten nicht an Bedeutung verlieren. So oder so sind Arbeitgeber*innen gesetzlich dazu verpflichtet, Diskriminierung abzubauen. Dafür sorgen die Menschenrechtskonventionen, das deutsche Grundgesetz sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Jegliche Formen der Diskriminierung am Arbeitsplatz sind gesetzlich verboten und strafbar. Unternehmen haben sich also allein schon aus rechtlichen Gründen mit Diversity auseinanderzusetzen. Das ist ein dauerhaftes Querschnittsthema und keine Frage der Willkür, Höflichkeit oder individueller Prioritäten.
Was würdest du BIPoC gerne mitgeben?
Traut euch, euch mehr mit anderen BIPoC zu vernetzen. Tauscht euch offen aus, sucht oder schafft aktiv die Räume dafür. Stärkt euch gegenseitig und stärkt euch selbst!
„Die Spitze des Rassismus-Eisbergs sind Attentate wie in Hanau“
Inwiefern ist deine Arbeit nur ein Symptom für ein tieferliegendes gesellschaftliches Problem?
Die Spitze des Rassismus-Eisbergs sind Attentate wie in Hanau. Das ist ein Beispiel dafür, wie sich rassistische Gewalt äußert. Aber bevor Menschen körperlich gewalttätig werden, braucht es eine Gesellschaft, in der Rassismus alltäglich stattfindet. Das basiert auf globalen Machtverhältnissen. Zum Beispiel: Ungefähr 20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 80 Prozent der Weltressourcen. Die globale Mehrheit der Menschen sind BIPoC und nur eine Minderheit der globalen Bevölkerung, rund 20 Prozent, ist weiß. Wie kann es sein, dass diese kleine Gruppe politisch und wirtschaftlich so viel Macht hat? Das erklärt sich historisch. Denn seit dem Kolonialismus wird Rassismus ausgeübt, um diese Unterdrückung und Ausgrenzung zu legitimieren. Und so etwas wie Hanau passiert, weil es wenig Bewusstsein für und Wissen über Rassismus in der Gesellschaft gibt. Das äußert sich nicht nur in körperlicher, sondern auch in struktureller Gewalt. Bestimmten Menschen wird zum Beispiel der Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Wohnungsmarkt oder zu politischer Teilhabe erschwert oder verwehrt.