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Tel Aviv: Proteste gegen Benjamin Netanjahu
Kurz vor 20 Uhr drückt Eyal Yablonko, 22 Jahre alt, den Knopf am Megafon und pustet hinein, um zu überprüfen, ob das Ding auch funktioniert. Die Leute um ihn herum zucken kurz zusammen. Geht. Gut. In ein paar Minuten wird er es brauchen. Jetzt aber erklärt Eyal, dunkle Haare, Brille, Kapuzenpulli, erst einmal, was ihn an diesem Samstagabend hierher auf Tel Avivs Rothschild Boulevard zu den Anti-Korruptions-Protesten getrieben hat. „Wir sehen den Premier und dessen Freunde, alle haben sie Geld, beschenken sich, aber sie kümmern sich nicht um Wohnungsprojekte und investieren nicht in bessere öffentliche Dienstleistungen.“
Mit teurem Champagner und Zigarren sollen sich Premierminister Benjamin Netanjahu und seine Gattin Sara vergnügt haben, Geschenke eines israelischen Hollywood-Produzenten. Es ist einer der beiden Korruptionsskandale, in denen der Premier seit August verdächtigt wird. Die Ermittlungen laufen. Die Menschen hier kämpfen währenddessen mit unaufhörlich steigenden Mietpreisen, vor allem in Tel Aviv, aber auch in anderen Städten des Landes: „Ich wohne deshalb noch bei meinen Eltern in Jaffa, und ich bin nicht der einzige Student“, sagt Eyal, der sich bei der Organisation „sozialistische Alternative“ engagiert.
Tausende Menschen sind an diesem Abend auf den Rothschild Boulevard zum „Marsch der Schande“ gekommen, wie bereits an den zwei vorangegangenen Samstagen. „Bibi nach Hause“, steht auf ihren Plakaten, „nach Hause mit den Korrupten“ und „Bananenrepublik“. Ein Plakat zeigt das Foto des Premiers mit einer Zigarre in der Hand und der Aufschrift „kleine Geschenke“. „Das Volk will soziale Gerechtigkeit“ skandieren sie, „Wir sind die Mehrheit“ und „wir wollen keine korrupte Regierung“. Einige haben sich Mülltonnen geschnappt, auf die sie mit Holzstöcken trommeln. Die Wut dieser Israelis ist nicht zu überhören.
Mehrere Korruptionsaffären überschatten derzeit das Land: In einem weiteren Fall soll der Premierminister versucht haben, mit einem Zeitungsverleger einen Deal auszuhandeln, damit dessen Blatt positiver über Netanjahu berichtet. Auch in Netanjahus engstem Umfeld wird ermittelt, denn der Kauf deutscher U-Boote soll ebenfalls nicht mit rechten Dingen abgelaufen sein. Als besonders dreist empfanden viele Israelis zuletzt das vorgeschlagene „Polizei-Gesetz“, nach dem Vollmachten der Polizei eingeschränkt werden sollten, um den Premier vor Strafverfolgung zu schützen. Doch die Proteste zeigten in diesem Fall bereits Wirkung, das Gesetz soll nun angepasst werden und nicht die laufenden Ermittlungen gegen den Premier betreffen.
Es sind diese innenpolitischen Themen, die die jungen, säkularen Menschen in Israel, vor allem in Tel Aviv, bewegen. Sehr weit weg scheint von hier aus die Jerusalem-Debatte und Trumps Rede, genauso wie die Proteste der Palästinenser, auch wenn Jerusalem gerade mal 60 Kilometer von hier entfernt liegt. „Klar ist Jerusalem unsere Hauptstadt“, sagen hier viele, auch Roni Baum und Netali Sivan, beide 30 Jahre alt. Aber dafür hätte man einen wie Trump nicht gebraucht, lautet der Tenor. Sonderlich hilfreich seien seine Worte obendrein nicht gewesen. „Uns kümmert diese Trump-Rede nicht. Das hier ist es, was uns wütend macht“, sagt Roni. „Die Ungerechtigkeit in diesem Land, eine Regierung, die wir nicht gewählt haben und die nun glaubt, uns für dumm erklären zu können.“
Es geht bei diesen Protesten eben nicht um den Nahostkonflikt – und wenn es nach Demonstranten wie dem 38-jährigen Tomer Maimon geht, sollte noch nicht einmal Politik eine Rolle spielen. „Parteien haben hier nichts verloren“, schreit er einen jungen Aktivisten der linken Meretz-Partei an, der ein knallgrünes Shirt trägt und Flyer verteilt. Auch andere Leute schimpfen, die Parteien würden den ganzen Protest zerstören.
„Nicht links, nichts rechts, sondern vorwärts, das ist das Motto der Proteste“, sagt Tomer Maimon. Ein Spruch, der tatsächlich auf zahlreichen Aufklebern und Plakaten zu sehen ist. „Es geht hier um Korruption in der Regierung. Die linken Parteien sind der Grund, warum diese Woche schon weniger Leute gekommen sind. Ich habe Freunde, die nicht protestieren wollen, weil sie meinen, das sei doch nur ein Protest der Linken. Aber das stimmt nicht, auch ich sehe mich eher als jemanden, der in der Mitte steht“, so Maimon.
Tatsächlich hat sich nach Jahren des ungelösten Nahostkonflikts das Wörtchen „links“ in Israel schon fast als Schimpfwort durchgesetzt. Wer links ist, gilt als realitätsferner Palästinenserfreund, als Nestbeschmutzer, bei manchen gar als Landesverräter. Immer weniger sind bereit, an Protesten gegen die Besatzung und für Frieden, teilzunehmen. „Die Präsenz der linker Parteien spielt dem Premierminister und seiner Regierung in die Hände. Sie behaupten nun, es seien parteipolitische Proteste. Das lenkt die Aufmerksamkeit weg von der Korruption“, ärgert sich Tomer Maimon.
Doch noch etwas könnte in diesen Tagen das Interesse an den Protesten schmälern, sind einige Demonstranten überzeugt: Trumps Rede und die daraufhin folgenden Proteste der Palästinenser, die wie so oft in Gewalt ausarten. Auch wenn die Tel Aviver Demonstranten das Thema Korruption für viel wichtiger halten, befürchten sie, dass andere in Israel das nicht so sehen. „Es war das schlechteste Timing, dass man sich nur vorstellen kann“, findet Tomer Maimon. Oft hört man an diesem Abend den Verdacht, es könnte ein Plan dahinter stecken. „Manche meinen sogar, Israel lasse die Proteste er Palästinenser absichtlich eskalieren, um die Aufmerksamkeit wieder auf das Thema Sicherheit zu lenken“, erzählt Eyal Yablonko, der Aktivist der sozialistischen Alternative.
Und auch der 24-jährige Amit Kaplan hat Ähnliches gehört. „Ich weiß, es klingt nach einer Verschwörungstheorie. Aber manche sagen, die Rede Trumps war vielleicht absichtlich genau jetzt geplant.“ Doch so richtig will sich keiner der Demonstranten öffentlich zu einer dieser Theorien bekennen. Alle erzählen, sie hätten es nur von irgendwem gehört, klingt interessant, man könnte nie wissen.
So oder so: Gerade jetzt wollen Amit Kaplan und seine Freunde hier heute mitprotestieren: „Ich habe das Gefühl, wir leben einer post-demokratischen Zeit. Die Demokratie wird von Politikern ausgenutzt, um sehr undemokratische Dinge zu tun.“ Hinter Amit und seinem Freund Alex Terry, 25, zieht gerade die Jugendgruppe der linken Meretz-Partei vorbei. Mit den Parteien wollen die beiden aber nicht in Verbindung gebracht werden. „Wir sind gar nicht so politisch“, sagt Alex, „uns geht es hier einfach nur um Gerechtigkeit.“