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Steuert die Welt auf eine Katastrophe zu oder trügt unser Gefühl?
Neulich sprach ich mal wieder mit meinem Freund M. Der weiß viel und denkt viel. Und der sagte: „Die Welt dreht durch. Die Leute drehen durch. Sogar das Wetter wird immer extremer.“ Um Zeit zu gewinnen, antwortete ich mit einem herzhaften: Ja, aber!
Denn klar: Terror, Amokläufe, Brexit. Putin, Trump, Erdoğan. Zur Zeit ist immer irgendwas. Kaum hat man den Horror von Nizza halbwegs umrissen, putscht das Militär in der Türkei. In dem Land, mit dessen Präsidenten wir nicht nur einen hochriskanten Deal haben – weil sonst die Situation der Flüchtlinge angeblich völlig außer Kontrolle geriete und die Katastrophe auf dem Mittelmeer noch katastrophaler wäre, plus halb Europa rechtsextrem wählen oder gleich aus der EU aussteigen würde – sondern der auch unseren Komiker Nummer Eins fast abgeschossen hätte, Staatsaffäre, Ihr erinnert euch. Noch mehr? Orlando, Brüssel, Istanbul. Alles dieses Jahr. Und nur im Westen.
Andererseits bin ich Optimist. Mir persönlich und meinen Lieben geht es super. Mein Freund und ich führen das Gespräch in der Sonne, in Frieden. Mit einem Bier in der Hand. Gewalt, Hass, Tod? Kennen wir nur von Netflix. Und aus den Nachrichten. Also stellt sich die Frage: Wird wirklich alles schlimmer? Oder nur unsere Hysterie? Dreht die Welt durch? Oder nur wir?
Als erstes spreche ich mit Professor Wichard Woyke. Er war bis 2009 Politikwissenschaftler an der Universität Münster. Jetzt ist er emeritiert. Er kann mir sagen, ob die politische Großwetterlage wirklich so auf Sturm steht. Und zwar ganz nüchtern. Schließlich muss er sich als Ruheständler nicht mehr profilieren.
„Als ich 1962 für die Bundeswehr gemustert wurde“, beginnt Woyke, „stationierte der sowjetische KPDSU-Parteichef Chrustschow gerade Atomraketen auf Kuba.“ Direkt vor der Haustür der USA. In der sogenannten „Kubakrise“ stand die Welt am Rande eines Weltkrieges. „Bevor ich zur Musterung fuhr, sagte ich zu meiner Mutter: Ich weiß nicht, ob ich noch einmal zurückkomme.“
Woyke hat viel zu diesem epochalen Ost-West-Konflikt und der darauf folgenden komplizierteren Welt geforscht. „Kurz nach der Kuba-Krise wurde unser Hoffnungsträger John F. Kennedy erschossen. Kurz vorher die Mauer gebaut. Damals, das waren wirklich unruhige Zeiten.“ Und gleichzeitig, obwohl die atomare Gefahr, das Wettrüsten, das „Gleichgewicht des Schreckens“ und seine Stellvertreterkriege in Asien und Afrika jahrzehntelang in allen Köpfen widerhallten, fühlte man sich paradoxerweise sicherer als heute. „Beide Seiten waren daran interessiert, dass es nicht knallte. Sogar als Soldat wusste man: Wenn ich sterbe, sterben Milliarden.“ Die mögliche Katastrophe war eine relativ gleich verteilte. Und deswegen besser zu ertragen.“ Auf beiden Seiten hatte man es sich im Schatten der Mauern gut eingerichtet. Da drüben die Bösen, hier die Guten.“ Kein Vergleich zu den heute diffus erscheinenden Kräfteverhältnissen, der Vielzahl an Regionalmächten, den scheinbar unvorhersehbar aufflammenden Brennpunkten. Und mindestens einem Gegner, der will, dass es knallt.
„Auch den Terrorismus gab es damals. Als die Palästinenser 1972 bei Olympia israelische Sportler ermordeten, war der islamistische Terror in Deutschland angekommen.“ Linke Gruppen wie die deutsche RAF und die IRA in Großbritannien töteten viele Unschuldige. Nur: „Erstens waren ihre Gegner spezifisch, und nicht wie heute "der Westen" oder "die Ungläubigen" an sich. Und zweitens war die Bedrohung zwar auch damals groß. Nur wussten wir nicht so viel davon."
Als Woyke 1966 ein Praktikum auf einer Ölraffinerie im Suezkanal macht, liest er Zeitungen mit mindestens vier Tagen Verzögerung. „Damals bekam man von den Konflikten auf der Welt oft wenig mit. Und wenn, dann viel später und vermittelt. Nicht so wie heute mit Live-Bildern von überall her.“ Die enorme Medialisierung der vergangenen Jahrzehnte sieht er als Hauptgrund für unser gestiegenes Unsicherheitsgefühl. „Uns geht es heute in Deutschland nach wie vor sehr, sehr gut. 190 von 200 Ländern hätten gerne unsere Probleme." Und wenn man die Umwelt oder die Lebensqualität in den Städten anschaut, geht es uns sogar deutlich besser. "In den 70ern im Ruhrgebiet,“ erinnert sich Woyke, "da konnte man sein Auto nicht über Nacht draußen stehen lassen, so viel Schmutz und Ruß setzte sich darauf ab.“ Es seien unruhige Zeiten, ja. Aber nicht mehr oder weniger als andere Phasen der Weltgeschichte. Es seien vielmehr die unendlichen schlechten Nachrichten, die uns heute erreichen, die uns die Welt schlechter erscheinen lassen.
Wie beruhigend: Die Medien sind schuld. Das klingt fast zu einfach, oder?
„Und es stimmt auch nicht“, sagt der Journalist und Medienkritiker Stefan Niggemeier. „Natürlich ist die Welt durch die Medialisierung kleiner geworden. Natürlich scheinen die Konflikte durch die umfassende Beleuchtung der Medien schlimmer und zahlreicher. Aber ich glaube, dass es momentan eine Ballung an negativen Ereignissen gibt. Die verunsichert uns. Nicht ihre mediale Abbildung.“
Niggemeier ist deutlich jünger als Woyke. Er schaut auf die letzten 20, 30 Jahre zurück. „Bis vor kurzem hatten wir eine andere Stabilität. Die Terroranschläge in den Nullerjahren waren tiefe Einschnitte. Aber erst jetzt verändert sich etwas grundlegend.“ Flüchtlinge, Krisen mit Russland, Krieg im mittleren Osten, der Zerfall Europas – es ist diese Häufung an Ereignissen der letzten Jahre, die ihn grübelnd zurücklässt. Und nicht nur ihn. „Diese Angst und Desillusionierung, die Abkehr von Eliten – das alles wiederum mündet dann in Erfolge der Rechtspopulisten, in einen Brexit."
Er selbst saß in der Nacht vor dem Computer, als der Putsch in der Türkei lief, „ich fühlte mich, zynisch ausgedrückt, fast wie der Zuschauer eines Krimis: Kann ich jetzt ins Bett gehen? Verpasse ich die Auflösung? Wer gewinnt? Und wer war's am Ende?“ Die sozialen Medien, der Zugang jedes einzelnen von uns zu massenhafter Information zu jedem Thema, das schafft eine andere Nähe. „Ich fühlte mich fast, als würde ich irgendwie mitspielen bei diesen Ereignissen“, sagt Niggemeier. „Diese Anteilnahme erschöpft natürlich anders als früher, als man am übernächsten Tag in der Zeitung davon las."
Immer ist irgendwas los. Langweilig wird es nie. „Breaking: World“ nennen das manche doppeldeutig. Die Welt als eine einzige, sich schneller drehende Eilmeldung – die daran bald zerbricht? Fast süchtig können solche schlechten Nachrichten und die Weltuntergangsszenarien machen, denke ich. Was bringt es uns eigentlich, sich darin zu suhlen?
„Je unglücklicher jemand ist, desto besser tut ihm das Unglück der Welt, wenn er es lüstern beobachten kann“, sagt Dr. Hans-Joachim Maaz. Der Psychotherapeut hat mehrere Bücher geschrieben, zum Beispiel über „Die narzisstische Gesellschaft“. Er ist überzeugt: „Negative Nachrichten laufen auch deshalb besser als positive, weil uns dieses Außenelend von unserem Innenelend ablenkt. Wir alle haben irgendwann eine narzisstische Kränkung erlebt. Und die lässt uns heute nach äußeren Gründen für unsere Unsicherheit suchen.“
Nutzen wir die live übertragenen Katastrophen also als mediale Psychopharmaka? Haben wir deshalb ein tiefes Interesse daran, alles immer schlecht zu malen? Nicht nur. Maaz sieht durchaus auch die Welt in einer Veränderung, die uns verunsichert. „Das Wissen oder zumindest die Ahnung, dass unsere Lebensform nicht mehr fortgesetzt werden kann, dass es kein ewiges Wachstum, Reichtum, Wohlstand geben wird, erreicht immer mehr Menschen. Und lässt sie ratlos und ängstlich zurück. Sie merken, dass die Ressourcen endlich sind.“ Aber nicht nur die ganz realen Bedingungen der Welt machen uns zu schaffen. „Wir spüren auch zunehmend, dass diese Ungerechtigkeit unserer Lebensweise, die Unterschiede zwischen Arm und Reich an eine Grenze gelangen."
Die Medialisierung der Welt hat nicht nur die Armut näher zu uns, sondern auch unseren Reichtum näher zu den Armen gerückt. "Menschen, die in Armut leben, können sich heute besser denn je informieren, wie Reiche leben. Wir haben das vergangenen Sommer erlebt. Deutschland galt im Süden als das große Ziel. Die bisherige Spaltung ist so nicht mehr ohne Konflikte aufrecht zu erhalten.“ Und genau das spüren wir hier. Unsere Welt wird sich verändern. Ob wir wollen oder nicht. „Sowohl unser alltäglicher Katastrophen-Voyeurismus als auch die rechtsorientierten Entwicklungen – das alles sind Versuche, uns zu stabilisieren, obwohl und gerade weil wir wissen: Wir können so nicht weiter leben.“ Die Rechtspopulisten erscheinen als hilflose Kryoniker, die versuchen unseren Lebensstandard einzufrieren, weil niemand die natürlichen Veränderungsprozesse einer ungerechten Welt aufhalten kann.
Wir versuchen also mit einer instabilen Welt bestmöglich psychisch zurecht zu kommen. Aber warum sind wir stattdessen nicht alle einfach Optimisten? Positives Denken soll doch so gesund sein. Wäre das nicht strategisch schlauer? „Echte Veränderung gibt es nur durch Krisen“, weiß Maaz aus seiner psychotherapeutischen Praxis. „Egal ob falsche Ernährung, zu viel Stress oder ein gesellschaftlicher Missstand – der Mensch, ob persönlich oder kollektiv, muss fühlen, bevor er hört.“
Das klingt so, als wäre unser Gefühl, dass die Welt durchdreht, vielleicht gar nicht so verkehrt. Nicht, weil es womöglich stimmt. Sondern weil wir erst zu Handeln beginnen, wenn alles den Bach runtergeht. „Wir sind nicht dem Untergang geweiht,“ beruhigt in einem Interview der Nobelpreisträger Paul Crutzen, der Erfinder des Begriffs „Anthropozän“. Also des Zeitalters, in dem der Mensch den Lauf der Welt beeinflusst, mehr als jede Natur. Sogar der Chemiker Crutzen bleibt Optimist, obwohl ihn seine Forschung zu unserer anfälligen Atmosphäre anfangs schockiert habe. „Aber was hätte ich über die Atmosphäre gewusst, wenn wir sie nicht verschmutzt hätten?“ So kann man sogar das extreme Wetter als heilsames Warnsignal interpretieren.
Und während mein Freund M. und ich uns wundern, wer warum mit der Axt durch einen bayerischen Regionalzug stürmt, und wo genau die als nächstes zu erwartende Alien-Invasionsarmee landet, kommt mir ein tröstlicher Gedanke: So lange ich solche Texte noch schreiben, solche Gespräche noch führen kann, ist es wohl noch nicht zu spät. "Keiner weiß wo das hinführt. Schlimmstenfalls gewöhnen wir uns dran“, sagt Stefan Niggemeier. Und bedeutet gewöhnen nicht eigentlich, dass es okay sein wird, irgendwie?