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Wie politisch muss ich in Social Media sein?

Sogar auf Instagram gibt es neben schönen Fotos vom See auch immer mehr politische Inhalte. Wie wichtig ist es, sich zu beteiligen?
Illustration: FDE

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Etwa zwei Wochen nach dem Tod von George Floyd, als die „Black Lives Matter“-Bewegung auch in Deutschland richtig Fahrt aufnahm, sah ich einen Instagram-Post und fühlte mich angesprochen. Ursprünglich stammte er von einem US-amerikanischen Kollektiv, mehrere Menschen in meiner Timeline hatten ihn geteilt. Er besagte, dass die Weigerung, sich auf Social Media politisch zu äußern, im Grunde rassistisch sei. Denn es bedeute eigentlich nur, dass man keine Lust habe, die eigene Komfortzone zu verlassen.

Ich dachte lange über diesen Post nach. Wenige Tage zuvor hatte ich zum #blackouttuesday wie so viele eine schwarze Kachel geteilt – und mich damit nicht wohl gefühlt, weil ich Instagram normalerweise nicht als Plattform zur politischen Partizipation nutze. Mich dort plötzlich auf diese Weise zu beteiligen, kam mir wohlfeil und selbstdarstellerisch vor. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass es meinen Beitrag für die große Idee dahinter nicht brauchte, da ich mit so wenig Follower*innen und einem privaten Account ja sowieso kaum Einfluss habe. Als dann auch noch Kritik an der Aktion aufkam – unter anderem, weil sie teilweise den Informationsfluss zu den Protesten blockierte, und, weil schwarze Kacheln posten längst nicht reicht – löschte ich meinen Beitrag wieder. 

Als dann wenige Tage später der Post mit dem Rassismus-Vorwurf dazukam, fuhren meine Gedanken Karussell: Wenn ich mich in einem sozialen Medium bewege, muss ich mich dort zwangsweise auch politisch äußern und in Debatten einmischen? Ist das so eine Art Bürger*innenpflicht? Wenn ja, wie mache ich das am besten? Was, wenn ich dabei etwas falsch mache (was ja gerade als weiße Person beim Thema Rassismus schnell passieren kann)? Wie entscheide ich, wann ich den Mund aufmachen und wann ich die Klappe halten sollte? 

Weil es beim Gedanken-Ordnen meist hilft, mit jemandem darüber zu reden, schreibe ich über Instagram Aileen Puhlmann an. Sie ist 38 Jahre alt und Leiterin eines entwicklungspolitischen Vereins. Kürzlich hat sie für einen Blog über Rassismus in der Kita ihrer Tochter geschrieben, die dort das einzige Schwarze Kind ist. Und sie hat auch den eingangs erwähnten Post geteilt, der mich zum Nachdenken über mein eigenes Social-Media-Verhalten gebracht hat. Aileen ist sofort bereit, mit mir über das Thema zu sprechen.

„Sehr viele Menschen haben sich auf einmal geäußert und für mich als Schwarze Deutsche war das total verrückt“, sagt Aileen

Als wir telefonieren, erzählt sie mir, wie emotional die ersten Tage nach George Floyds Tod für sie waren, wie groß die Schockstarre und die Wut – und wie sich das auch in ihrer Reaktion auf Social-Media-Engagement widergespiegelt habe: „Sehr viele Menschen haben sich auf einmal geäußert und für mich als Schwarze Deutsche war das total verrückt. Ich dachte: Es gibt so viele tolle Aktivist*innen, die seit Jahren genau das Gleiche sagen, aber es muss erst jemand sterben, damit zugehört wird?“ Gleichzeitig schmerzte es sie, wenn andere Menschen schwiegen. „Viele, die mir sehr nahe stehen und die meinen persönlichen Alltags-Struggle mit dem Thema kennen, waren leise. Das war für mich fast noch unerträglicher.“ 

Als ich Aileen zuhöre, frage ich mich, ob ich mich zum Zeitpunkt des #blackouttuesday aus ihrer Sicht – und aus der Sicht vieler anderer – womöglich gar nicht richtig verhalten konnte, egal, ob ich mitgemacht habe oder nicht. Und dass ich das vielleicht einfach aushalten muss. Weil es dabei nicht um mich ging, sondern um die Betroffenen, die ein Recht auf Schmerz und Wut haben. Als ich Aileen danach frage, bestätigt sie meine Vermutung. „Ganz genau“, sagt sie – und weist mich später noch auf ein Schaubild hin, dass dieses Problem recht eindrücklich darstellt.

„Aber heute, ein paar Wochen später, bin ich an dem Punkt, an dem ich sage: Besser, Menschen äußern sich spät als nie“, sagt Aileen. Mit etwas Abstand ist sie also der Meinung, dass sich eigentlich jede*r von uns online an der Debatte über Rassismus beteiligen sollte – und sei es nur mit einem Foto, das zeigt, dass man gerade ein antirassistisches Buch lese. „Nichts zu tun, ist keine Option“, sagt sie. Auch dann nicht, wenn ich Angst hätte, etwas falsch zu machen. Das werde nämlich unweigerlich passieren, glaubt Aileen, weil Rassismus nunmal komplex sei, das Problem systemisch, und das alles zu verstehen ein langer Lernprozess. „Die Frage ist doch: Was hast du zu verlieren, wenn du dich beteiligst? Dass Freund*innen denken: ,Oh Mann, jetzt ist sie auf einmal politisch geworden?‘ Wenn das der Fall ist, solltest du dir deine Freunde besser aussuchen“, sagt Aileen. „Und was kannst du gewinnen? Dass du in Kontakt kommst mit anderen, die gerade durch denselben Prozess gehen. Social Media kann zivilgesellschaftliches Engagement nicht komplett ersetzen, aber es ist ein wichtiger Teil davon.“ 

Das sieht auch Claudia Ritzi so, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier und Mitherausgeberin der 2019 erschienenen Anthologie „Politik in der digitalen Gesellschaft“. Ich rufe sie an, weil sie als Wissenschaftlerin – anders als Aileen und ich – die digitale „Black Lives Matter“-Debatte distanzierter betrachten und meine Fragen demokratietheoretisch einordnen kann. Den Link zum Post habe ich ihr vorab ebenfalls geschickt. Die These, dass digitales Schweigen an sich rassistisch ist, teilt Ritzi nicht. „Das Anliegen von Black Lives Matter ist begrüßenswert, darum hat man eine spontane Neigung zu sagen: Tut alle was, beteiligt euch!“, sagt sie. „Aber wenn man das demokratietheoretisch reflektiert, ist die Aufforderung, dass sich alle in Social Media einbringen sollen, nicht mehr ganz so überzeugend. Denn hier gilt nicht einfach: je mehr, desto besser.“ 

In Online-Debatten gibt es eine lange Phase, in der noch mehr Beteiligung sie nicht mehr voranbringt

Ritzi erklärt das damit, dass jede Online-Debatte verschiedene Phase hat, in denen die Wirkung, die ein*e Einzelne*r haben kann, unterschiedlich groß ist: Am Anfang, wenn das Thema noch nicht präsent ist, sei es wichtig, dass es erstmal Aufmerksamkeit bekomme. Und ganz am Ende, wenn – mal konsequent weitergedacht – alle Menschen in Deutschland einen bestimmten Post geteilt haben, aber ich noch nicht, sei es ebenfalls wichtig, dass ich mich anschließe. „Aber dazwischen gibt es einen großen Bereich, wo man sagen muss: Einfach nur mehr Lärm oder Grundrauschen bringt die Debatte nicht voran.“ Dann müssten andere Aktionen folgen, wie es im Falle von „Black Lives Matter“ ja auch passiert ist: Der Hashtag #blacklivesmatter wurde 2013 erstmals verwendet, nachdem in den USA George Zimmerman, der den Schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin erschossen hatte, freigesprochen worden war. Anschließend entstand daraus auch außerhalb des digitalen Raums eine Protestbewegung, die bis heute fortdauert und aktuell wieder erstarkt. 

Der #blackouttuesday auf Instagram war aber auch deswegen so eindrücklich, weil so viele Menschen mitgemacht haben. Weil es auf Instagram ein „Blackout-Grundrauschen“ gab.  Und dafür brauchte es vielleicht auch meine Beteiligung, oder? „Masse spielt natürlich eine Rolle“, sagt Claudia Ritzi. „Wenn 5000 Leute auf eine Demo gehen, wird die ja vermutlich auch mehr Aufmerksamkeit erlangen, als wenn nur 50 mitlaufen. Aber je größer die Bewegung ist, desto mehr gilt, dass jeder Einzelne nur bedingt entscheidend ist.“ Heißt: Ob auf der Demo ohne mich 4999 Menschen sind oder mit mir 5000, ist am Ende egal. 

Das ist natürlich eine etwas deprimierende Einsicht. Zudem ist es ja nicht immer leicht zu erkennen, ob die „Phase des Rauschens“ schon angefangen hat und es meine einzelne Stimme darum eigentlich nicht mehr braucht, oder ich doch noch etwas beitragen sollte. Claudia Ritzi sagt, dass man die Entscheidung, ob man sich beteiligt oder nicht, darum gar nicht von der Phase der Debatte und der möglichen Wirksamkeit abhängig machen sollte – sondern einfach von der eigenen Motivation. „Wer das Bedürfnis hat, sich zu beteiligen, sollte das auf jeden Fall tun“, sagt sie. 

Ritzi betont dabei auch, dass die wichtigste Voraussetzung für Beteiligung sei, dass sie freiwillig geschehe. Und die sieht sie mit Posts wie dem eingangs erwähnten in Frage gestellt: „Es wäre verkürzt zu sagen: ,Wir haben alle eine Bürgerpflicht, uns in den Sozialen Medien zu beteiligen’. Wir müssen ja auch alle mit unseren Möglichkeiten und Ressourcen haushalten.“

Aileen geht nicht davon aus, dass Menschen, die nichts zu dem Thema posten, stattdessen daheim darüber sprechen 

Vor diesem Hintergrund kann ich meine Entscheidung, mich auf Instagram oder Twitter nicht in die Debatte einzumischen, vor mir selbst gut rechtfertigen: Ich teile mir meine Ressourcen ein. Ich war in meiner Stadt auf der „Black Lives Matter“-Demo, ich verfolge die Nachrichten, habe viel zum Thema gelesen, mit Freund*innen, Kolleg*innen und meinem Freund lange darüber gesprochen. Ich bilde das nur nicht zusätzlich auch noch online ab. Und das sollte doch okay sein, oder?

Aileen hat in unserem Gespräch allerdings gesagt, dass sie nicht davon ausgeht, dass die Menschen, die nichts zu dem Thema posten, stattdessen daheim darüber sprechen oder zu Demos gehen: „Mein Gefühl ist: Dieses Schweigen ist Schweigen.“ Einerseits verstehe ich sie. Sie wünscht sich von anderen, vor allem von Weißen, eine eindeutige Positionierung. Sichtbare Verbündete in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – und da gehört der digitale Raum nun mal dazu. Dahinter steht auch der Wunsch, dass Menschen auf Social Media insofern authentisch sind, als dass sie dort ihre ganze Persönlichkeit abbilden. Nicht nur den schönen Urlaub, sondern auch die Arbeit oder die Sorgen oder die politische Haltung. Aber das wird niemals auf alle zutreffen – und man kann auch nicht von allen verlangen, sich online absolut transparent und ganzheitlich darzustellen. Denn auch in unserem digitalen Leben gilt, was Claudia Ritzi sagt: Man müsse in einer Demokratie nunmal anerkennen, wenn jemand eine andere Entscheidung trifft als man selbst.

Ich habe Antworten auf meine Fragen gefunden. Die, ob ich dazu verpflichtet bin, mich online zu positionieren, würde ich nach den Gesprächen mit Aileen Puhlmann und Claudia Ritzi eher mit nein beantworten. Die, ob es mir ein persönliches Bedürfnis ist, eher mit ja. Die danach, auf welche Art ich das tun sollte, mit: So, dass es meinen persönlichen Umgang mit einem Thema am ehesten widerspiegelt. Und Aileens Frage „Was hast du zu verlieren?“ mit: nichts. Darum mache ich erstmal genau das, was sie empfohlen hat: Ich poste ein Bild des Buchs, das ich gerade lese und durch das ich viel gelernt habe: „How To Be An Antiracist“ von Ibram X. Kendi. Vielleicht liest jemand anders es deswegen auch – und die Debatte kommt wieder ein Stück voran.

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