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Interview zur Seenotrettung: 130 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken
„Die Menschen wurden sich selbst überlassen“
Am Donnerstag, 22. April, sind 130 Menschen vor der libyschen Küste ertrunken. Sie befanden sich bei schlechtem Wetter auf einem Schlauchboot, mit dem sie am Dienstagabend von Al-Khoms, Libyen, aus gestartet waren. Am Donnerstagnachmittag erreichte die Ocean Viking, das Schiff der privaten Seenotrettungsorganisation „SOS Méditerranée“, die Unglücksstelle und fand dort die Reste des Schlauchboots sowie mehrere im Wasser treibende Leichen vor. SOS Méditerranée und die Aktivist*innen des zivilen Notruftelefons „Alarmphone“, die über mehrere Stunden mit den Menschen in Not im Kontakt standen, werfen den italienischen, maltesischen und libyschen Behörden sowie der europäischen Grenzschutzagentur Frontex vor, trotz Informationen über den Notfall nicht eingegriffen zu haben und für den Tod der Menschen verantwortlich zu sein. Die libysche Küstenwache weist die Vorwürfe zurück, die weiteren offiziellen Stellen haben sich bisher nicht geäußert.
Lara Dade, 29, ist seit zweieinhalb Jahren Freiwillige beim „Alarmphone“ in Berlin und hatte vergangene Woche Schicht, als das Boot in Seenot geriet. Das „Alarmphone“, das Notrufe vom Mittelmeer an die Behörden weitergibt und Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, hat als Reaktion auf den Vorfall an diesem Donnerstag eine Kundgebung in Berlin organisiert. Das „Missing Migrant Project“ der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gibt an, dass 2021 bisher 599 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind, die meisten davon auf der zentralen Mittelmeerroute.
jetzt: Lara, du hattest Schicht beim „Alarmphone“, als vergangene Woche 130 Menschen vor der libyschen Küste ertrunken sind. Wie kam der erste Kontakt zu den Menschen zustande?
Lara Dade: Am Mittwochmorgen hat uns ein lokaler Fischer informiert, weil er gesehen hat, wie das Boot von der libyschen Küste aus gestartet ist. Um 10.03 Uhr haben wir die Menschen das erste Mal über ihr Satellitentelefon erreicht, da haben sie uns unter anderem mitgeteilt, wie viele Personen sich auf dem Boot befanden. Es fuhr im Konvoi mit einem zweiten, auf dem 121 Personen waren und das von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgebracht wurde.
Wie war die akute Situation, als du mit den Menschen telefoniert hast?
Wir hatten über Stunden immer wieder Kontakt, der manchmal schwierig war, weil die Verbindung mit den Satellitentelefonen auf den Booten oft schlecht ist. Als wir mittags sprachen, hat der Mann am Telefon gesagt, dass der Akku schwach ist. Das fand ich sehr beunruhigend, denn über das Satellitentelefon geben die Menschen ja auch ihre GPS-Koordinaten und damit ihren Standort durch. Die Situation wurde mit der Zeit immer kritischer, es lief Wasser ins Boot, die Menschen gerieten in Panik. Sie haben natürlich gemerkt, wie hoffnungslos ihre Situation ist und auch, wie handlungsunfähig ich in diesem Moment war, weil ich keine Rettung in Aussicht stellen konnte.
Wen habt ihr informiert, um eine Rettung einzuleiten?
Nach der ersten Meldung durch das Fischerboot konnten wir die Menschen noch nicht erreichen, aber wegen der schlechten Wetterlage vor der libyschen Küste schon einschätzen, dass sie in Seenot geraten würden. Darum haben wir alle Küstenwachen alarmiert, die italienische, die maltesische und die sogenannte libysche Küstenwache, außerdem das UNHCR und die Ocean Viking, das Schiff der NGO „SOS Méditerranée“. Italien hat uns gesagt, wir sollen die für diesen Fall zuständige Behörde anrufen, das wären die Libyer gewesen, aber die sind erstmal nicht rangegangen. Später haben sie gesagt, dass sie ihre Mails checken. Insgesamt haben wir von allen Stellen immer wieder gehört, dass sie Bescheid wissen und wir uns melden sollen, wenn wir neue Informationen haben. Es wurde dann ein Frontex-Flugzeug alarmiert, das über dem Boot gekreist ist. Den Menschen hat das in dem Moment große Hoffnungen gemacht, aber dann ist weiter nichts passiert. Wir haben mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, Alarm geschlagen und Druck aufgebaut und es wurde trotzdem nicht gerettet. Die Menschen wurden sich selbst überlassen und sind ertrunken. Damit nehmen die Küstenwachen und Staaten wissentlich das Sterben von Menschen, die auf der Flucht sind, in Kauf.
„Viele Boote gelten als vermisst, weil niemand die Toten sieht“
Ihr werft den Behörden vor, häufiger nicht auf Notrufe zu reagieren.
Das Alarmphone arbeitet seit 2014 und in der ganzen Zeit gab es immer wieder Fälle, in denen niemand gehandelt hat. Dieser hier ist gerade sehr konkret für uns alle, vor allem auch, weil die Ocean Viking das Unglück bezeugen konnte, denn die Crew hat das gesunkene Boot und die leblosen Körper gesehen und dokumentiert. Aber viele Boote gelten als vermisst, weil niemand die Toten sieht.
Wann hattet ihr den letzten Kontakt zu den Menschen auf dem Boot?
Am Mittwochabend um 20.15 Uhr, aber da brach das Telefonat ab, bevor sie Informationen durchgeben konnten. Die letzte GPS-Position war von 19.15 Uhr. Wir haben den ganzen Abend über versucht, eine Rettung einzuleiten. Aber die Italiener haben weiterhin gesagt, wir sollen uns mit neuen Infos melden, und die Libyer haben wir erst nach 22 Uhr wieder erreicht. Sie sagten, dass sie nicht rausfahren, weil das Wetter zu schlecht sei und die Wellen sehr hoch.
Hätte durch die Witterung denn tatsächlich Gefahr für die Küstenwache bestanden?
Die Küstenwachen sind mit militärischen Mitteln ausgerüstet und können auch bei schlechtem Wetter rausfahren. Außerdem hatten sie ja bereits das andere Boot mit den 121 Personen – von denen eine Frau und ein Kind gestorben sind – abgefangen. Das war tagsüber, als das Wetter noch nicht ganz so schlecht war. Zu dem Zeitpunkt hätten sie auch die 130 Menschen in Seenot abfangen und retten können.
Wann hast du erfahren, dass die Menschen nicht gerettet wurden?
Die Bestätigung kam, als die Ocean Viking am Donnerstagnachmittag das Boot gefunden hat. Aber ich hatte schon die ganze Zeit über ein schlechtes Gefühl, weil ich die Panik der Menschen gehört habe, die Küstenwachen nicht reagiert haben, ich selbst so hilflos war und gesehen habe, dass auch die Frachter in der Umgebung, die wir kontaktiert hatten, nicht den Kurs geändert haben, sondern weitergefahren sind.
Wie ging es dir mit der endgültigen Nachricht?
Beschissen. Mehr kann ich dazu eigentlich gar nicht sagen. Es hat dann gut getan, die Kundgebung zu organisieren. Denn wenn alle unsere Mittel nicht mehr greifen, dann ist unsere einzige Möglichkeit die Dokumentation und damit an die Öffentlichkeit zu gehen.
„Das politische Klima verschlechtert sich, wird immer offener rassistisch“
Wie lief die Kundgebung ab?
Wir haben uns um 18.30 Uhr am Denkmal für die Opfer von Rassismus am Oranienplatz in Berlin getroffen. An die 200 Menschen sind gekommen, das war sehr schön zu sehen. Wir waren zwei Stunden dort, mit Masken und Abstand. Wir wollten mit der Kundgebung auf die rassistische europäische Grenzpolitik hinweisen und dazu beitragen, dass das Thema nicht totgeschwiegen wird. Vor allem war es aber eine Gedenkveranstaltung für die Verstorbenen, mit Kerzen, Blumen, einer Schweigeminute und verschiedenen Redebeiträgen. Es gab dann noch einen ganz besonderen Moment: Durch unsere Tweets zu dem Fall sind wir in Kontakt mit einem Verwandten eines der Verstorbenen gekommen und er hat uns Nachrichten geschickt, die wir vorlesen konnten. Es waren Anklagen und Forderungen an die Verantwortlichen und die Politik und die Aufforderung, dass die Täter verurteilt werden. Momente der Wut und der Trauer kamen so direkt von den Verwandten der Verstorbenen zu uns auf den Oranienplatz und wir haben mit einer kleinen Solidaritätsbekundung via Video geantwortet.
Am Donnerstagabend, eine Woche nach dem Unglück, trafen sich Menschen in Berlin zu einer Gedenk-Kundgebung für die Ertrunkenen.
„Alarmphone“ hatte zu der Kundgebung aufgerufen. Nach Angaben der Organisation kamen etwa 200 Menschen zum Oranienplatz.
Die Kundgebung fand am Denkmal für die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt statt. Neben dem Gedenken an die Verstorbenen wollten die Menschen auch auf die harte europäische Grenzpolitik und die vielen weiteren Todesfälle im Mittelmeer aufmerksam machen.
Am selben Tag, als du mit den Menschen auf dem Mittelmeer in Kontakt standest, hat der Bundestag der Verlängerung der deutschen Beteiligung an der EU-Mission IRINI im zentralen Mittelmeer zugestimmt. Sie soll das Waffenembargo gegen Libyen durchsetzen und die Ausbildung und Finanzierung der libyschen Küstenwache unterstützen. Was ist deine Reaktion darauf?
Wir sehen aktuell überall eine Verschlechterung der Situation im Mittelmeer: IRINI wird verlängert, die Pandemie gibt Mittelmeerstaaten den Vorwand, ihre Häfen komplett zu schließen, in der Ägäis kommt es immer wieder zu gewaltvollen Pushbacks von Geflüchteten durch die griechische Küstenwache. Das politische Klima verschlechtert sich, wird immer offener rassistisch und die EU zeigt, dass ihr manche Leben etwas wert sind und andere nicht. Für uns als Organisation bedeutet das, dass Fälle wie der aktuelle, wenn die Küstenwachen nicht handeln und nicht dafür belangt werden, immer häufiger werden. Mit den Mitteln, die wir haben, kommen wir dabei an unsere Grenzen. Und werden trotzdem oder gerade deswegen immer weiter kämpfen.