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„Die Weltöffentlichkeit kriegt es nicht mit, wenn wir nicht berichten“

Jonas Schreijäg und Nadia Kailouli waren drei Wochen an Bord der Sea Watch 3 und haben gefilmt.
Foto: Jonas Schreijäg

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Carola Rackete gegen Matteo Salvini: Der Fall der „Sea Watch 3“ machte im Juli weltweite Schlagzeilen. Jonas Schreijäg und Nadia Kailouli verbrachten drei Wochen als Reporter*innen auf dem Seenotrettungsschiff. Sie waren dabei, als die italienische Polizei nachts an Bord kam, um eine persönliche Warnung an die Kapitänin Carola Rackete zu überbringen – und dabei unglaublich freundlich war. Sie filmten, als die Crew 53 Geflüchtete rettete. Und sie dokumentierten, wie Rackete kurz vor dem Einlaufen in den Hafen in Lampedusa sagte, sie glaube nicht, dass sie direkt verhaftet werde. Vor allem aber hielten sie die Geschichten der Geflüchteten fest, die sich ihnen nach und nach anvertrauten. Im Interview erzählen die beiden, wieso dieser Film (er ist in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober um 00.00 Uhr im NDR  und danach in der Mediathek zu sehen) ihrer Meinung nach so wichtig ist – und wie sie die drei Wochen auf dem Seenotrettungsschiff erlebt haben. 

jetzt: Im Fokus der Berichterstattung im Sommer stand fast ausschließlich die Kapitänin Carola Rackete. Wie habt ihr sie an Bord erlebt?

Nadia: In den drei Wochen habe ich für mich beobachtet, dass sie sich sehr viel konzentriert und zurückgezogen hat. Und: Ihr war offenbar wichtig, Neuigkeiten und Entscheidungen immer auch mit ihrer Crew direkt zu besprechen.

Jonas: Sie wirkte auf mich sehr abgeklärt. Ich meine: Sie hatte ständig Polizeibesuch auf der Brücke und hat nach außen fast nie Nervosität gezeigt.

Die Situation hat sich im Laufe der Odyssee der Sea Watch 3 extrem zugespitzt. Wann seid ihr persönlich an eure Grenzen gekommen?

Jonas: Es gab viele solcher Momente. Für mich war einer aber besonders krass: Als die Crew die Koordinaten für das Boot der Geflüchteten bekommen hat und wir dann mit dem Schnellboot hingefahren sind. Diese Fahrt war ein riesiger Adrenalinschock. Ich habe davor und danach gezittert. Das ist schwer zu vermitteln – aber wenn man plötzlich auf einem Schlauchboot ist, das extrem schnell über das offene Meer fährt, um einen rum ist einfach gar nichts, das ist einschüchternd. Man weiß: Wenn die steuernde Person eine falsche Bewegung macht, dann kentern wir. Wie muss das erst für Geflüchtete sein, die auf einem Schlauchboot sind, ohne dass jemand dieses Boot wirklich steuern kann?

Nadia: Ich konnte mich schon ein bisschen besser auf die Mission vorbereiten, weil ich schon mal für einen Film auf einem Seenotrettungsschiff dabei war. Daher konnte ich manches besser wegstecken. Aber das Meer ist so ein unsicherer Ort. Das kann man über Bilder sehr schwer vermitteln. Es war im Juni unfassbar heiß auf dem Schiff und die Zustände wurden immer schlimmer. Die Dixi-Klos fingen an zu stinken, die Menschen hatten nur eine Hose und ein T-Shirt, die sie alle paar Tage mal waschen durften, weil es an Bord so wenig Wasser gab. Man hatte keine Privatsphäre. Wir haben uns zu zweit eine Mini-Kabine geteilt. Du hast nie Zeit, dich zurückzuziehen und alles zu verarbeiten. Dafür war die Lage noch okay. Das hätte alles viel schneller eskalieren können.

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Drei Wochen mussten die Geflüchteten und die Crew an Bord ausharren.

Foto: Jonas Schreijäg
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Hitze, wenig Wasser, viele Menschen: Die Zustände an Bord wurden immer prekärer.

Foto: Jonas Schreijäg
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Carola Rackete traf an Bord eine folgenschwere Entscheidung.

Foto: Jonas Schreijäg
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Carola Rackete im Gespräch mit der italienischen Polizei.

Foto: Jonas Schreijäg
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In dem Film spielt vor allem die Perspektive der Geflüchteten eine Rolle.

Foto: Jonas Schreijäg
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In den Wochen an Bord hörten Nadia und Jonas auch die Geschichten der Geflüchteten.

Foto: Jonas Schreijäg
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Irgendwann entschied Carola Rackete: Wir brauchen jetzt einen sicheren Hafen – zum Wohl der Menschen.

Foto: Jonas Schreijäg
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Verlor nie die Ruhe: Carola Rackete.

Foto: Jonas Schreijäg
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Nachts um zwei Uhr überbrachte die Polizei ein persönliches Schreiben von Matteo Salvini.

Foto: Jonas Schreijäg

Wann habt ihr realisiert: Bei dieser Mission ist einiges anders als bei anderen Missionen?

Nadia: Dass genau diese Mission zu einer wird, die für Schlagzeilen auf der ganzen Welt sorgen wird, haben wir erst sehr spät realisiert. Wir waren 21 Tage an Bord und lange hat sich niemand für die Sea Watch interessiert.

Jonas: Es gibt ja schon viele Reportagen von Seenotrettungsschiffen. Aber der politische Kontext hat sich verändert. Im März diesen Jahres hat die EU die Seenotrettung praktisch eingestellt, für die zivile Seenotrettung wird es immer schwieriger. Und: Die Weltöffentlichkeit kriegt es nicht mit, wenn wir nicht da sind, hinschauen und berichten.

Wie habt ihr es geschafft, bei all dem noch journalistische Distanz zu halten?

Nadia: Wenn wir das Gefühl hatten, wir müssen Gefühle verarbeiten, wenn wir zum Beispiel dachten, wie absurd das alles ist, dann haben wir das für uns privat geklärt. Wir waren ein gutes Team und haben gemerkt, wenn einer von uns schwächer geworden ist. Dann haben wir uns zurückgezogen, uns in die Kabine gesetzt, miteinander gesprochen. Aber wir wussten schon, dass sich diese private Betroffenheit nicht auf unsere Arbeit auswirken darf. Zudem haben uns unsere Redakteure in Deutschland immer wieder auf einen sachlichen Standpunkt zurückgebracht. Das hat geholfen.

Wie war es für euch, nach drei Wochen endlich in den Hafen einzufahren und größtenteils sehr feindlich empfangen zu werden?

Jonas: Das war schon krass. Wir haben in den Tagen davor so viel Zeit mit Geflüchteten verbracht und ihre Folter-Geschichten aus Libyen gehört. Das gehört zu den schlimmsten Dingen, die ich je gehört habe. Dann fährt man in diesen Hafen und die Geflüchteten schauen zum ersten Mal auf europäisches Land – und werden angeschrien. Wir haben in dem Moment aber versucht zu funktionieren und alles zu filmen.

Nadia: Das hat uns schon total betroffen gemacht. Auch wir wurden ja angeschrien. Aber wir haben versucht, uns dann in unserer Rolle als Reporter zu sehen, alles zu dokumentieren und dadurch Abstand zu bekommen.

Es wurde schon wahnsinnig viel geschrieben über die Sea Watch 3. Was erhofft ihr euch von dem Film?

Jonas: Wir wollen den Fokus mehr auf die Geflüchteten und deren Erfahrungen legen. Durch den Dokumentarfilm können wir eine ganz andere Perspektive zeigen: diejenige der Menschen, die geflohen sind. Das ist der Kern. Wir wollten uns nicht nur auf Carola Rackete und Salvini konzentrieren, auch wenn sie natürlich auch Teil des Films ist.

Nadia: Die Frage, die wir aufwerfen wollen, ist: Inwieweit beschäftigt uns das, was passiert ist, auch heute noch? Welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Der Zustand auf dem Mittelmeer ist ein Zustand, der vor den Toren Europas stattfindet. Es geht darum zu schauen: Was hat diese weltweite Schlagzeile für Auswirkungen auf die Zukunft? Wie gehen wir damit um, als Menschen und als Medien? Ich finde, es ist unsere Pflicht, da weiter drauf zu schauen.

Der Film läuft in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober um 00.00 Uhr im NDR Fernsehen und ist danach in der Mediathek verfügbar. 

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