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Schulzzug: Jusos im Wahlkampf
Der Schulzzug ist pünktlich: 14.23 Uhr.
Erfurt Hauptbahnhof. Regionalexpress; von Zella-Mehlis kommend. Zusammengefasst: klingt schlimm.
Dann wird's noch schlimmer: Die AfD hat unseren Stand geklaut. Sich einfach auf den Stellplatz gestellt. Gönnen die sich. Frech. Und erreich mal das Ordnungsamt an einem Freitagnachmittag, da haben die längst das Telefon umgeleitet, vielleicht sogar in einen Wassereimer. Wir bauen daneben auf: demokratische Bastion, sozusagen; rote Tische, rote Schirme, rote Aufsteller, eine Gasflasche, ein Karton voller Luftballons, rote Kugelschreiber, Stofftaschen, die Europafahne und die Aufkleber mit Martin Schulz.
Ingo Wagner, 33, Max Frey, 28, Michael Mayer, 28, sind zufrieden. Ihre Gesichter sind passabel blass, das ist bei den Strapazen der letzten Tage wirklich kein Wunder – es gab meist nur Fast Food oder jetzt gerade Wurst, die so grob ist, dass man schon Angst haben muss, dass einen gleich zwei traurige Augen durch den Darm anblinzeln.
„Im Norden sind auch Frauen dabei“
Wir sind im Wahlkampf. Das Unterfangen der Jungs nennt sich: Schulzzug. Der Schulzzug ist nicht der rote Regionalexpress, es sind die Teile, die wir in den Händen halten: Seitenfenster, das Fahrerhaus – alles aus Pappe, alles sorgfältig eingeschlagen in Stoffbahnen. Drei Jusos aus Brüssel, auf dem Weg nach Berlin; Teil einer Gruppe von jungen Wahlkämpfern der SPD. Eine Kohorte fährt über den Norden, eine den Süden entlang. Auf dem Weg unterstützen sie junge Kandidaten der SPD. Ich bin dabei, als Ein-Tag-Wahlkämpfer, um die SPD zu retten. Treffen wollen sie sich alle in Berlin.
Im Norden seien auch Frauen dabei, versichert Ingo hastig. Sieht halt scheiße aus, wenn du Wahlkampf machst und keine Frau ist zu sehen. Erfurter Jusos sorgen für Abhilfe.
Uwe ist auch dabei. Uwe ist nicht 30. Uwe ist 61 und will seinen Namen nicht in diesem Bericht lesen. Einerseits Arbeitgeber und Urlaub, andererseits gehöre die Bühne den jungen Leuten, findet er. Mag die halt, ist deswegen auch mitgefahren.
Das sehen die ersten Leute, die an den Stand kommen, genauso: „Toll, junge Leute. Habt ihr Semesterferien?“ Bisschen Zoo. Bisschen aufpassen, nicht gleich von alten Leuten mit mitgebrachtem Futter gefüttert zu werden. Vielleicht ein Schild, das ich neulich im Streichelzoo sah, an den Stand hängen: „Ziegenbabys wollen NICHT getragen werden.“ Das mit mir und der SPD ist im Prinzip wie eine lange Ehe: Man kennt sich schon ewig, aber versteht sich nicht mehr, seit die Kinder aus dem Haus sind.
Ich mochte die Partei schon, seit ich Friedrich Ebert zum ersten Mal auf einem Foto sah, mit seinem strengen und melancholischen Blick. Hinter Ebert: die unnachgiebigen Backsteine alter Fabriken. Ich muss wohl nicht sagen, dass ich mich in jenem Alter des allgemeinen und rebellischen Heranwachsens sah wie diese Steine: hart und gebrannt, schroff und maximal unnachgiebig.
Ich mochte, wie Schmidt rauchte; ich mochte, wie Wehner schimpfte; meine Mutter war als Studentin für Brandt auf die Straße gegangen, ein ikonisches Foto, das wir von ihr haben – die Männer mit Rauschebärten, und sie: lange, blonde Haare und ein noch längerer, roter Schal. Und da war diese Gewissheit in den Augen.
Ich wurde – praktisch über Nacht – zum Sozi. Und genau wie meine Familie war ich dabei durchaus modern: Mein Herz schlug sofort für die Arbeiter, ich kannte zwar keinen persönlich, aber trug immer angemessen würdevoll den Wunsch mit mir herum, eines Tages mal was mit den Händen zu machen.
Heute gibt es keine Fabriken mehr, aus den Fabriken sind Lofts und Designerwohnungen geworden. Und im Prinzip, denke ich, ist das so auch mit den Arbeitern und der SPD.
„Du kannst nicht auf der Couch sitzen und dir wünschen, dass sich die Welt um dich herum zum Besseren verändert“
„Natürlich kennen wir die Umfragewerte“, sagt Michael. „Die Parteieintritte waren viel wichtiger als der Hype. Der Hype ist vielleicht vorbei; unser Ansporn ist es nicht. Man kann zu Hause sitzen, wieder vier Jahre Merkel wählen, sich anschließend zwei Jahre beschweren und zynisch sagen, man habe das alles gewusst. Aber du kannst nicht auf der Couch sitzen und dir wünschen, dass sich die Welt um dich herum zum Besseren verändert. Dafür musst du was tun.“
Er stülpt sich eine übergroße Martin-Schulz-Maske über und stellt sich für ein Foto hinter das Führerhäuschenfenster des Pappzuges. Ich stehe da. Etwas unschlüssig, zugegeben. Neben mir zehn junge Leute – alle schön, alle nett lächelnd, alle auf ihre Weise instagramfähig – und dann sehe ich da den Zug aus Pappe und Michael, wie er die übergroße Martin-Schulz-Maske trägt und das Victory-Zeichen macht, und denke: Im Prinzip fasst das den Zustand dieser einst stolzen Partei doch ganz gut zusammen.
Eine ältere Frau kommt an den Stand. Sie fragt freundlich und zuvorkommend, ob sie einen Stoffbeutel bekommen könnte. „Ja“, sage ich und reiche ihr einen. Dann beugt sie sich vor und raunt: „Junger Mann, wie wasche ich den? 30 Grad? Handwäsche?“
Um zu verhindern, dass sie mir bei einer für sie passenden Antwort in die Wange kneift, behaupte ich, dass ich seit Jahren nicht mehr wasche. „Möchten Sie einen Martin-Schulz-Aufkleber?“ Sie schüttelt den Kopf, wehrt mit der Hand ab, verlässt den Stand wiegenden Schrittes.
Mein erster Wähler. Nicht überzeugt.
Schulz hatte nach jenem Hype, der die SPD bis auf knapp 30 Prozent hochzog, alles wieder verloren. Vor allem die Stimmen derer, die wenig haben, und die bei den Frauen. Auf Twitter ist grade ein Spruch von Schulz im Umlauf, Schulz sagte in einem Radiointerview im Scherz sinngemäß, seine Motivation ziehe er daraus, „abends von netten Frauen interviewt zu werden“, und es begann eine kleine Debatte darüber, ob das Sexismus à la Brüderle sei. „Ja, das war ein Scheißspruch“, sagt Michael. Die anderen nicken. „Aber man muss realistisch sein“, sagt Max. „Genau, aber natürlich gefundenes Fressen für die Kritiker“, sagt Michael. „Im Internet beäugen sich alle ständig untereinander. Manchmal kam es mir fast vor, als wolle man der SPD diesen Aufschwung nicht gönnen.“
„Ist das eigentlich Juso-Pflicht, den Kandidaten zu unterstützen – egal wer es ist?“, frage ich. „Hättet ihr lieber einen anderen?“ Ingo überlegt. „Nein, es ist keine Pflicht. Aber wenn die Inhalte stimmen und man deswegen Mitglied ist, erwarte ich schon irgendwie Engagement, ja.“ Max fragt derweil überaus nett ein junges Ehepaar, ob er Martin Schulz Wünsche von ihnen ausrichten dürfe; sie sammelten doch. Am Sonntag sollen die kleinen Karten dem Kandidaten übergeben werden.
„Nein, eigentlich nicht“, sagt er dann. „Man muss Schulz gar nicht umwerfend finden, um zu verstehen, dass es wichtig ist, dass dieser Mann für Europa steht. Und zwar bedingungslos.“ „Wir haben halt Angst, wieder unsere Pässe zeigen zu müssen“, fügt Michael hinzu. „Wir wollen weiter im Ausland leben und studieren und arbeiten können.“
Er zieht eine Zigarette aus der Packung. „Eigentlich bin ich Österreicher und ich kenne sehr gut einige Dinge aus meiner Heimat mit den rechten Parteien. Mit Europafeindlichkeit. Warum mache ich also Wahlkampf in Deutschland? Weil ich finde, dass im Herzen Europas ein Sozialdemokrat sitzen muss. Punkt. Einer, für den ein gemeinsames Europa wirklich keine Alternative hat. Ganz ehrlich: Bei allen anderen weiß ich das nicht.“
Max meint, ihn würde diese Häme stören, die Geisteshaltung: Oh! Die bauen einen Zug aus Pappe! Wie süß.
„Wir haben kein Problem damit, wenn Leute unpolitisch sein wollen“, sagt er. „Dazu hat auch jeder ein Recht. Aber bitte nicht hinstellen und die, die sich wirklich engagieren und ihre Zeit investieren, auslachen – auch wenn es manchen Leuten hoffnungslos erscheint. Das ist einfach nur zynisch.“
Eine Frau kommt mit ihrem offenbar ausländischen Freund an den Stand. „Ich bin enttäuscht“, sagt sie und baut sich wichtigtuerisch vor dem Stand auf, deutet auf die Auslage. „Das ist alles nicht nachhaltig. Und wer das nicht kann, liebe Leute, der kann sicher kein Land führen. Sorry!“ Dann tänzelt sie davon.
„Das meine ich“, sagt Ingo matt lächelnd. „Klar verstehe ich total ihren Punkt. Aber das ist unser Geld, mit dem wir das machen, unsere Zeit, und sorry: Jemand, der Fleisch isst, ist nicht gleich ein schlechter Mensch.“ Ingo hat die letzten Tage nie länger geschlafen als vielleicht ein, zwei Stunden die Nacht.
Immer mehr Menschen kommen zu den Schirmen und Tischen und sagen, dass sie sich über die jungen Leute hier freuen. Sie erzählen, dass sie wenig Geld haben, Kinder, in Ausbildung. Oder kaum etwas von ihrer Rente. Es fühlt sich irgendwie gut an, dass sie das gerade uns erzählen. Es fühlt sich an, als könnten wir das tatsächlich ändern.
„Mensch, Schulz, du bist es!“
Ein verwuschelter alter Mann bleibt stehen und ruft: „Ihr seid einfach ganz toll. Wollt ich nur ma‘ sagen!“ „Der Schulzzug“, sagt Max, während er alles einpackt, die Tour geht weiter nach Leipzig, „der Zug ist einfach eine verbindende Klammer. Mehr nicht. Wirkt ja. Du bist gekommen.“
Als wir gehen, stehen überall am roten Stand Kinder in einer Schlange an für die Luftballons. Helle, dunkle, asiatische, also die Kinder, nicht die Luftballons – sie stehen zusammen und spielen, sie lachen und werden angelacht. Zwei am roten Stand sprechen Türkisch und eine andere Sprache, die ich nicht erkenne.
„Hättet ihr für irgendeinen SPD-Kandidaten lieber Wahlkampf gemacht?“, frage ich. „Brandt“, sagt Michael. „Eigentlich nicht, aber eine Frau wäre mal was für die SPD“, sagt Ingo. „Schulz“, sagt Max. „Ich bin Halbitaliener. 2004 hörte ich zufällig Martin Schulz, wie er im EU-Parlament Berlusconi runterputzte, der ihn dann einen Nazi nannte. Da rief meine Familie aus Italien aufgeregt an und meinte: Wer ist der Kerl?“ Niemand habe sich dort getraut, so mit Berlusconi zu reden. Max sagt: Das habe ihn stolz gemacht; da habe er gemerkt, dass das nicht nur Worte sind. „Ich hab einfach wie in so einer Ehe gedacht: Mensch, Schulz, du bist es! Ich finde großartig, was du tust – und deshalb unterstütze ich dich. Bis heute. Auch wenn mich das meinen Urlaub kostet.“
Ich hätte für Wehner Wahlkampf gemacht, denke ich, einen schimpfenden, alten Mann, obwohl, wer weiß, vielleicht auch nicht, ich denke, ich überlege. Ich blicke kurz zu unseren Nachbarn am hellblauen Stand.
Denn während wir kein Auto hatten und mit der Bahn kamen, steht bei unseren Stand-Nachbarn von der AfD ein spritfressender SUV einer Firma, die mehr Energie in das Manipulieren ihrer Abgaswerte steckt als in E-Fahrzeuge. Es wird kein Türkisch gesprochen, auch keine andere Sprache, die ich nicht kannte. Und alle Menschen sind etwa um die Hundert, tragen teure Jacken und Hemden und haben strenge, fast finstere Gesichter. Es sind Menschen, die hassen. Ihre Plakate: voller Vorwürfe und Verbote.
Ich fasse das Pappteil nach und gehe zum Zug.
Auf dem Rückweg fällt mir das Wichtigste auf: Am AfD-Stand gab es gar keine Luftballons und den ganzen Tag stand da nicht ein einziges Kind.
Das ist nicht Deutschland. Das war es einmal.