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G-20-Gegner wissen nicht, wo sie schlafen sollen

Foto: Axel Heimken, dpa

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Beim Demo-Rave „Lieber tanz ich als G20“, der Mittwochabend durch Hamburg zieht, haben sie das Schlaf-Verbot einfach zum Party-Anlass gemacht: An einem der Lautsprecherwagen hängt ein Banner mit der Aufschrift „Schlafen illegal? 3 Tage wach!“

Die G-20-Gegner spielen damit auf den Kampf um die Protest-Camps an, die sie ursprünglich in der Stadt errichten wollten. Als Ort zur Koordinierung des Protests, klar, aber auch, um dort zu übernachten. Irgendwo müssen die tausenden Demonstranten, die in der Stadt erwartet werden, ja schlafen.

 

Vergangene Woche wurde das für den Hamburger Stadtpark vorgesehene Camp von der Versammlungsbehörde allerdings komplett verboten. Zu hoch sei das Risiko, das von dort aus Blockaden und Straftaten organisiert würden, hieß es. Nach einer Klage der Aktivisten und einem Urteil des Verwaltungsgerichts wurde es schließlich doch erlaubt, aber mit Einschränkungen: an einem anderen Ort, nämlich auf der Elbhalbinsel Entenwerder, und nur als Kundgebungsort, an dem nicht gegessen und geschlafen werden darf. Wer sich in Entenwerder ins Zelt gelegt hat, wurde dort am Sonntagabend von der Polizei wieder herausgeholt.

Ein Schlaf-Verbot also. Das hat nicht nur viele Aktivisten wütend gemacht, sondern sie auch vor die Frage gestellt: Wo sollen wir schlafen, wenn wir nicht campen dürfen? Hotels kann und will sich nicht jeder leisten, die Hostels und Airbnbs in der Stadt sind seit Wochen ausgebucht.

Am Dienstagabend sitzt Marvin Hopp in der Fabrique im Hamburger Gängeviertel, um ein Pressegespräch zu führen, während vor ihm auf dem Tisch ständig eines seiner drei Handys klingelt. Marvin, 27, ist einer der Organisatoren von „Jugend gegen G20“, einem Zusammenschluss von mehr als 140 linken Jugendorganisationen, die am Freitag für einen Bildungsstreik auf die Straße gehen wollen. „Die meisten Demonstranten reisen am Donnerstag mit mehreren Bussen an und sollten eigentlich im Camp unterkommen. Jetzt sitzen sie überall auf gepackten Koffern und haben kein Dach überm Kopf in Aussicht“, sagt Marvin. „Gerade haben wir schon die Situation, dass Leute wildcampen müssen.“ Das Gespräch fällt kurz aus, Marvin muss seine Handys einpacken und sich ein Taxi nehmen: Das für heute geplante Plenum von „Jugend gegen G20“ wurde spontan in den Altonaer Volkspark verlegt, wo ebenfalls ein Protestcamp entstanden ist, in dem ebenfalls nicht übernachtet werden darf. Die Jugendvertreter wollen jetzt vor Ort den Campern ihre Solidarität signalisieren.

Der Aufbau der Zelte wurde als eigene Kundgebung angemeldet, als „Sleep-in gegen Schlafverbot“

Ungefähr zur gleichen Zeit werden am Hamburger Schauspielhaus Banner aufgehangen: „Bühne frei für Isomatten“ steht darauf und „Protest is no crime“. Die Demonstranten sind hergekommen, weil sich über Twitter eine gute Nachricht verbreitet hat: Das Schauspielhaus, hieß es, stelle 1500 Schlafplätze zur Verfügung. Bis sich herausstellte, dass diese Info ein Fake ist, waren die Demonstranten schon da – und die Polizei, die ihnen zunächst den Einlass verweigerte, nach Verhandlungen mit dem Theater aber abzog. Jetzt steht Peter Raddatz, der kaufmännische Geschäftsführer des Schauspielhauses, vor dem Eingang zum Malersaal und erklärt jedem bereitwillig, welche Lösung gefunden wurde: der Durchgang zum Saal werde für eine Nacht als Schlafplatz zur Verfügung gestellt, „als Akt der Menschlichkeit“. Etwa 100 Demonstranten können hier bleiben. Einer von ihnen ist ein junger Mann mit blonden Dreads, der seinen Namen nicht nennen möchte, aber sich sichtlich freut, von der mobilen Küche vorm Schauspielhaus etwas Warmes zu essen zu bekommen. Und danach schlafen zu können. „Ich habe meinen Platz da drin sicher“, sagt er. „Aber wie es es morgen weitergeht, wissen wir noch nicht.“

Im Protestcamp in Altona ist es am folgenden Mittag sehr ruhig. Nur wenige Leute sind da, sitzen in der Sonne oder unterhalten sich. Vorne auf der Wiese nahe dem Volksparkstadion stehen die großen Zelte der am Camp beteiligten Organisationen, etwa vom Internationalistischen Block oder von Attac. Dahinter, etwas abgetrennt, ist Platz für kleinere Schlafzelte. Auf fast allen davon steht der Schriftzug „NO G20“. Die meisten Zelte sind leer, keine Menschen drin und auch keine Schlafsäcke. Trotzdem haben hier einige Leute übernachtet und sich den Schlaf mit einem Trick erstritten: Der Aufbau der Zelte wurde als eigene Kundgebung angemeldet, als „Sleep-in gegen Schlafverbot“ – und fällt damit unters Versammlungsrecht.

„Wir campen hier ja nicht, weil wir Lust aufs Campen haben, sondern weil wir demonstrieren wollen“

„Letzte Nacht wurde hier niemand geweckt“, sagt Georg Ismael, einer der Pressesprecher des Camps. „Nur gegen sechs kam die Polizei und hat die Zelte gezählt.“ Georg spricht die meiste Zeit mit einem freundlichen, breiten Grinsen im Gesicht, das aber auch nicht überspielen kann, wie genervt er ist. „Wir campen hier ja nicht, weil wir Lust aufs Campen haben, sondern weil wir demonstrieren wollen“, sagt er. „Wir wollen über die steigende Kriegsgefahr sprechen, über die Krise im Südpazifik und die rund um Katar, statt darüber, wo welches Zelt steht.“ Ihre Arbeit, sagt er, werde verhindert, weil sie sich dauernd mit Polizisten auseinandersetze müssten. Gestern etwa hätten sie Aktivisten eingekesselt, die Brot, Zwiebeln und Kartoffeln gekauft haben.

Im Moment seien über den Tag verteilt bloß 150 bis 200 Leute im Camp, schätzt Georg. Am Donnerstag, dem Tag vor dem eigentlichen Gipfel, könnte sich das allerdings ändern: Mehrere Großdemonstrationen stehen dann an. Jannik, einer der Helfer aus dem Infozelt des Camps, sagt: „Die Leute, die dann in die Stadt kommen, werden irgendwann schlafen müssen.“ Er sagt irgendwann, nicht irgendwo. Drei Tage wach, das schafft eben nicht jeder.

Aber Hamburg hat ja nicht nur Gebäude, die man spontan besetzen, und Parks, in denen man Sleep-ins veranstalten kann. Sondern Hamburg hat auch die Hamburger, von denen viele zwar genervt sind vom ganzen G-20-Trubel, viele es aber auch begrüßen, dass Menschen herkommen, um gemeinsam mit ihnen auf die Straße zu gehen. Genau diese Hamburger bieten aktuell ihre Gästezimmer und Sofas als Schlaf-, oder ihre Gärten als Zeltplätze an. Fast 200 Einträge gibt es in der Liste der „G20-Bettenbörse“, einer Art Couchsurfing-Seite für Gipfel-Gegner.

Einen der Einträge hat Steffen erstellt, 27, Politik-Absolvent und gerade als Bundesfreiwilliger beim BUND, für den er auch bei den Protesten in Hamburg aktiv ist. Als am späten Sonntagabend das Protestcamp in Entenwerder von der Polizei aufgelöst wurde, hat er beschlossen, Schlafplätze in seiner WG anzubieten. „Ich habe schon vorher darüber nachgedacht“, sagt er. „Aber die Auflösung des Camps war dann ausschlaggebend.“ Darum sitzen am Mittwochnachmittag also Adèle und ihr Freund Tilman in seinem Wohnzimmer. Gestern Abend sind die beiden in Heidelberg in den den Nachtzug gestiegen und heute Morgen in Hamburg angekommen. Später werden sie sich hier, unter der Dachschräge, zwischen Wand und Stützbalken, ihr Schlaflager einrichten. Der Durchgang zum Malersaal im Schauspielhaus ist sicher nicht mal halb so gemütlich.

tilman adele steffen

Tilman und Adèle aus Heidelberg mit Steffen in seiner Wohnung. Die Kombination kam über die Bettenbörse zustanden.

Foto: Nadja Schlüter

Adèle, 21, ist Französin und studiert Geschichte in einem deutsch-französischen Studiengang. Sie sitzt im Schneidersitz und in Jogginghose auf einem Polster und sagt, sie wisse schon ewig, dass sie zu G20 nach Hamburg kommen und bei den Proteste dabei sein will. Aber erst am Samstag hat sie angefangen, nach einer Unterkunft zu suchen. Über die Seite g20-protest.de ist sie auf die Bettenbörse gestoßen. „Steffen war der Erste, der zugesagt hat“, erzählt sie. „Aber ich war erstaunt, wie viele positive Antworten ich bekommen habe. Ich hätte an vielen Orten schlafen können!“ Bei der Ankunft habe sie sich sofort wohlgefühlt. Steffen bestätigt das: „Wir haben ja eine ähnliche politische Ausrichtung. Das ist auch so was wie eine Vertrauensbasis.“ Später wollen sie gemeinsam zum „Women’s March“ gehen. Steffen freut sich, dass er den beiden das bieten kann, was er „ihr Grundrecht auf Schlaf“ nennt. „Vielleicht klappt das aber auch nicht immer. Es kreisen ja dauernd Helikopter über der Stadt.“

Kurz darauf gibt es auch im Hin und Her um die Protest-Camps eine neue Entwicklung: Nach einer erneuten Klage der Gipfelgegner hat das Oberverwaltungsgericht entschieden, dass jeweils 300 Schlafzelte aufgebaut werden dürfen, sowohl im Protestcamp im Volkspark als auch auf Entenwerder – was trotzdem nur ein Bruchteil der beantragten 1500 bleibt. Die Leute vom Altonaer Protestcamp laden daraufhin über Twitter sofort ein, legal im Volkspark zu übernachten und posten Bilder von bepackten Aktivisten, die ins Camp einlaufen. Die Entenwerder-Fraktion hingegen hat beschlossen, das Camp nicht wieder aufzunehmen. „Die noch verbleibende Zeit reicht kaum für den Aufbau, geschweige denn für das geplante Programm aus. Außerdem reichen die erlaubten 300 Zelte nicht aus um unser Konzept umzusetzen“, heißt es in einem online veröffentlichten Statement. Man begrüße allerdings, dass in den vergangenen Tagen Plätze in der Innenstadt besetz und „zu Orten selbstbestimmten Protestes“ gemacht worden seien. Zum Ort des Protests soll jetzt auch die Haupttribüne des Millertor-Stadions werden. Am Donnerstagmorgen gaben das Präsidium und der Aufsichtsrat des FC St. Pauli auf der Webseite des Vereins bekannt, dass am 12 Uhr mittags des gleichen Tages 200 Schlafplätze für Demonstrierende eingerichtet werden können.

Am Mittwochabend, als die „Lieber tanz ich als G20“-Demo ihren Endpunkt am Gängeviertel erreicht, ruft eine Aktivistin per Lautsprecher-Durchsage noch zu einer spontanen, analogen Bettenbörse auf: Man könne jetzt im Viertel zusammen essen, sagt sie, „es werden auch Leute da sein, die Schlafplätze haben, für alle, die noch einen suchen!“ Und eine junge Demonstrantin mit Nasenring und einem Bier in der Hand bringt das ganze Schlafplatz-Dilemma dann sogar mit dem zusammen, worum es hier ja eigentlich geht: Kritik an der G20. „Die Politiker kommen in den dicksten Hotels der Stadt unter. Aber die Leute, die hier Demokratie leben wollen, haben keinen Schlafplatz.“

Mehr über die G-20-Proteste in Hamburg:

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