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Schkeuditz, die Hauptstadt der Deutschland-Flagge
Nein, der Pressesprecher der Stadt, Helge Fischer, ist nicht begeistert, als er erfährt, dass Schkeuditz der Ort mit den meisten Deutschlandflaggen pro Einwohner ist. Fischers Reaktion wirkt zunächst ein wenig so, als hätte er eben erfahren, dass es keine deutsche Stadt mit mehr Bestellungen an Totschlägern pro Kopf gäbe. Oder als hätte ein Arzt ihm einen ebenso unerwarteten wie unangenehmen Befund mitgeteilt. Und wie im Sprechzimmer in solchen Situationen kreist über allem an diesem Nachmittag im Rathaus die Frage: Warum gerade ich? Beziehungsweise in diesem Fall: Warum gerade wir?
Und daraus ergibt sich natürlich die nächste Frage: Wieso eigentlich, hat dieses Land das nicht hinter sich? Eine Flagge ist etwas Symbolträchtiges. Überall auf der Welt. In den USA würden die Verantwortlichen der Stadt wahrscheinlich umgehend ein großes Schild am Ortseingang aufstellen. Aufschrift: Willkommen in Amerikas patriotischster Stadt! Ob man das sympathisch finden muss, ist eine ganz andere Frage. In Deutschland ist es mit dem Nationalstolz jedenfalls deutlich komplizierter als anderswo. Erst während der Fußball-WM 2006 wurde die Flagge ja gesellschaftlich gewissermaßen rehabilitiert. Die kollektive Freude über den Sport suchte ein gemeinsames Symbol und fand es in Form der Flagge. Man war jetzt nicht mehr per se ein dumpfer Rechtsextremer, wenn man sie zeigte. Bis zur Flüchtlingskrise dauerte diese entspannte Phase des „positiven Patriotismus“. Dann mischte sich dem neuen freundlichen Sound des Worts Patriotismus ein dunkler, wütender Klang bei, der immer montags in Dresden und bald auch vor Flüchtlingsunterkünften zu hören war.
Deshalb also diese Reise in die Flaggenhauptstadt. Diesen Status hat Schkeuditz durch die Auswertung von Verkaufsranglisten und Pro-Kopf-Verkaufsquotienten verschiedener deutscher Flaggenversandhändler erlangt. Vielleicht kann man hier, wo – gemessen an der Zahl der Einwohner – die höchste Flaggendichte der Republik zu finden ist, etwas über Heimatgefühl und Patriotismus im Jahr 2017 lernen. Vielleicht kann man dadurch im Jahr der Bundestagswahl und in einer Zeit, in der viel über Nationalismus und Rechtspopulismus diskutiert wird, sogar etwas über den Zustand dieses Landes generell erfahren.
Erst vergangenes Wochenende ist wieder eine Diskussion über die deutsche Leitkultur entbrannt, die Innenminister Thomas de Maizière einfordert. Er schreibt unter anderem: „Unsere Nationalfahne und unsere Nationalhymne sind selbstverständlicher Teil unseres Patriotismus.“
Aber ist das wirklich der Fall?
Pressesprecher Fischer vertritt heute den Oberbürgermeister von Schkeuditz, der hatte leider keine Zeit, es ist Wahlkampf und am Abend findet im "Bürgerhaus zur Sonne" das Duell mit dem Herausforderer statt. Der Pressesprecher, ein großer, breitschultriger Mann, den man sich als gutmütigen Lehrer vorstellen kann, putzt nachdenklich seine Brillengläser und schaut aus dem Fenster. Warum gerade Schkeuditz? Warum gerade diese Kleinstadt in Sachsen, etwa 17.600 Einwohner, zwischen Halle und Leipzig liegend mit einem Flughafen nördlich des Stadtzentrums, den meisten Deutschen wohl allenfalls bekannt wegen des Schkeuditzer Kreuzes, das die A 9 und die A 14 miteinander verbindet.
Selbst bei der Fußball-WM, wo nun wirklich im ganzen Land Schwarz-Rot-Gold zu sehen sei, selbst da seien in Schkeuditz unterdurchschnittlich viele Flaggen zu sehen gewesen, sagt Fischer und kann partout nichts erkennen, was eine überdurchschnittliche Flaggendichte erklären würde. Andererseits gibt es kaum einen Blick auf die Welt, der beruhigender ist als der aus dem Fenster eines freundlichen Rathausbüros. Von dort aus betrachtet sieht man wahrscheinlich in jeder Stadt sehr viel Ordnung und sehr wenig Beunruhigendes. Wo, wenn nicht von dort aus?
Ob Fischer selbst eine Deutschlandflagge besitzt, will der Reporter wissen. Er überlegt. Nein, das bedeute aber nicht, dass er etwas gegen die deutsche Flagge habe. Die Frage sei aber doch: Wozu?
Ja, wozu eine Deutschlandflagge und warum gerade hier?
Auf den ersten Blick ist Schkeuditz eine ziemlich normale deutsche Kleinstadt. Nüchterne Gewerbegebiete, dörfliche Strukturen, schmucklose Zweckbauten in Grau, schmucke Neubauten in freundlichen Pastellfarben, bewohnt von freundlichen Menschen. Dann gibt es noch den Flughafen Leipzig/Halle, der auf Schkeuditzer Gebiet liegt und der Stadt viel nächtlichen Fluglärm, aber auch viele Arbeitsplätze und Wachstum beschert. Große Frachthallen von DHL direkt neben pittoresken Kleingärten mit blühenden Kirschbäumen. Den Ortskern erreicht man, wenn man von der Bahnstation aus mit dem Rad einen kleinen Berg hinabrollt, durch die Bahnhofstraße: Pizzaservice. Bestattungsdienst. Nagelstudio. Pizzaservice. Dönerbude. Nagelstudio. Leerstand. Theaterrestaurant. Kreissparkasse. Supermarkt. Rathausplatz. Deutschlandflaggen? Nirgends eine zu sehen.
Insgesamt scheint es Schkeuditz gut zu gehen. Neues Pflaster. Neue Straßenbahn. Sehr gepflegt. Rentner mit Rollatoren pendeln zwischen Supermarkt und Stadtpark. Vor einer Eisdiele essen ein paar Teenager gelangweilt Softeis. Der Reporter fragt, ob sie zufällig eine Deutschlandflagge besäßen. Schweigen. Unsichere Blicke. Kichern.
„Nee, aber wenn doch, wär’s auch nich’ schlimm, oder?“, lässt sich der Wortführer vernehmen.
Die Frage wäre: Wozu?
„Wie, wozu?“
Wozu die Flagge?
Der Wortführer, trotzig: „Na, weil’s eben die deutsche Flagge ist, und wir sind in Deutschland, mehr gibt’s da nicht zu sagen!“
Ein Abstecher zum Jugendzentrum Neue Welle. Ein bunt bemalter Flachbau, der in einer grauen Gegend liegt, die man in einer Großstadt vielleicht Problemviertel nennen würde. Der Sozialpädagoge der Neuen Welle, Andreas Pohle, tut das nicht. „Probleme haben zwar alle Menschen mal, nicht nur in diesem Viertel, aber ich würde die Gegend hier nicht so nennen wollen.“
Ein Junge, blond, Brille, tritt heran, Marcus lautet sein Name.
Hat er denn eine Deutschlandflagge?
„Nein, hab ich nicht.“
Warum nicht?
„Gute Frage, habe ich noch nie drüber nachgedacht. Für mich ist die Flagge jetzt nichts so Besonderes, also politisch, die steht eher für Fußball und sie ist halt einfach die deutsche Flagge.“
In Schkeuditz kaufen die Menschen laut Statistik besonders viele Deutschlandflaggen, überrascht dich das?
„Ja, ziemlich!“
Ist die Deutschlandflagge am Ende das Symbol einer Rebellion gegen das, was die AfD das Establishment nennt?
Überhaupt nicht überrascht ist Petra Kießling. Die Künstlerin engagiert sich im örtlichen Kulturzentrum Art Kapella. Petra Kießling, Bubikopf, neugierige Augen, sitzt auf einer Bank im Stadtpark, der einmal ein Friedhof war, raucht eine Zigarette und schaut auf die Plattenbauten gegenüber dem Park. „Schauen Sie sich mal die Lage von Schkeuditz an. Eine Kleinstadt, zwischen zwei Großstädten eingeklemmt. Leipzig und Halle. Hier ist es wie in vielen deutschen Kleinstädten, die Leute lieben und hassen ihre Stadt und sehnen sich danach, auf irgendwas stolz sein zu können.“
Aber ist der Flughafen nicht Symbol für etwas Größeres, etwas Modernes, Globales, was der Stadt guttut? Kießling schüttelt den Kopf. „Der Flughafen zeigt den Menschen hier doch erst recht, wie klein ihre Welt ist. Und dann kommt noch der Fluglärm. Die Globalisierung hier ist grau, laut und groß, da wundert es mich nicht, dass die Leute sich nach irgendwas Größerem, Kollektivem sehnen, das ihr Selbstwertgefühl stärkt. Das ist so wie bei Grönemeyer: Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl.“
Sozialpsychologen sprechen hierbei von sozialer Identität. Von dem Wunsch, zu einer Gruppe zu gehören. Im Kleinen wäre das die Familie, der Verein, die Stadt, im größeren Zusammenhang das Volk, die Nation. Patriotismus als eine Antwort auf den Wunsch, zu etwas Größerem zu gehören, als man selbst ist. Oder ist das alles zu liberal, zu psychologisierend gedacht? Vielleicht ist es doch völlig normal, eine Deutschlandflagge im Vorgarten oder auf dem Balkon zu platzieren und nur in der urbanen Elite verpönt, die stolz darauf ist, mehrere Fremdsprachen zu beherrschen und ein Semester im Ausland studiert zu haben. Eine Elite, die weit weg ist von den Menschen in der Provinz, über die sie so oft spottet.
Ist die Deutschlandflagge am Ende das Symbol einer Rebellion gegen das, was die AfD das Establishment nennt? Ein Symbol, hinter dem man sich trotzig sammelt? Und ist Schkeuditz die heimliche Hauptstadt dieser Rebellion?
Was sagen die Ergebnisse der letzten Landtagswahl? Unauffällig. Helge Fischer hat sie vor sich auf dem Schreibtisch liegen. Die NPD – mit 3,5 Prozent unter dem Landesdurchschnitt. Die AfD – neun Prozent, auch das sind weniger Stimmen als landesweit. Vor einem Jahr standen mal NPD-Leute mit Infostand am Rathausplatz, aber sie blieben den ganzen Tag lang alleine, die AfD, so Fischer, habe hier nicht einmal ein Büro und auch von Pegida und seinen Ablegern hat man in Schkeuditz noch nie etwas gesehen. Schkeuditz ist keine Hochburg des Extremismus, auch kein Ort, der für nationalkonservative Aufwallungen bekannt ist.
Andererseits: In Schkeuditz, wo so fleißig Flaggen gekauft werden, gehen erschreckend wenig Menschen wählen – gerade einmal 38 Prozent waren es bei der letzten Landtagswahl. Im Allgemeinen wird eine niedrige Wahlbeteiligung als Zeichen mangelnden Vertrauens in die demokratischen Institutionen gesehen. Sind die Politikverdrossenen stolz auf ihr Land und ihre Flagge? Und wenn ja, wieso zeigen sie ihre Flaggen nicht?
Der Reporter fragt eine Herrenrunde vor einer Kleingartenanlage. Männer in den Fünfzigern, karierte kurzärmelige Hemden, helle Hosen, freundlich, eher Kleinbürger als Selbständige.
Entschuldigung, haben Sie eine Deutschlandflagge?
„Warum, brauchen Se eine?“, scherzt einer.
Es gibt hier in Schkeuditz besonders viele Deutschlandflaggen, aber wenn man fragt, hat keiner eine.
„Ach, wissen Se, das sollte ja normal sein. Bei den Amerikanern sagt da ja auch keiner was, die wären da ja sogar stolz drauf, aber wenn das der Deutsche macht, dann heißt es: Oh, das ist ein Nazi! Aber das sag ich jetzt nur so unter uns.“
Haben Sie denn eine Flagge?
Die Runde lacht verlegen und will sich nicht weiter äußern.
Der Einzige, der offen über Stolz auf Deutschland spricht, ist der indischstämmige Wirt eines italienischen Restaurants
Zurück in der Innenstadt findet sich dann doch noch ein bekennender Flaggenbesitzer. Gegenüber dem Rathaus wirbt das Pizzahaus Nova mit deutschem Essen. Der Gastraum ist eine ehemalige Bankfiliale, zu den Toiletten gelangt man durch eine dicke Tresortür. Hinter dem Tresen steht ein freundlich blickender dunkelhäutiger Mann in den Dreißigern. Er erkennt den Reporter als Ortsfremden, man kommt ins Gespräch. Sukhvir Singh ist gebürtiger Inder, verheiratet mit einer Deutschen, er lebt seit zwölf Jahren in Schkeuditz. Er ist der Wirt des Nova. Ob er von der Flaggendichte in Schkeuditz überrascht ist?
„Nein, das haben hier viele, ich habe selber auch eine.“
Sie haben eine Deutschlandflagge?
„Ja, natürlich. Man kann stolz sein auf Deutschland, das ist doch normal, oder?“
So ganz normal ist das nicht, das hat der Besuch in Schkeuditz gezeigt. Hier sieht es nicht so aus wie in de Maizières Leitkultur-Wunschvorstellung: Die Nationalfahne sei „selbstverständlicher Teil unseres Patriotismus“. Warum ist dann der Pressesprecher nicht stolz und gibt gleich eine Pressemitteilung raus? „Schkeuditz, Flaggenhauptstadt Sachsens!“ Und warum drucksen die Kleingarten-Herren herum und wollen nicht mal verraten, ob sie eine Fahne besitzen?
Nein, in Schkeuditz findet man nicht den klischeehaften bürgerlich saturierten Patriotismus des Mittelständlers, der vor dem akkuraten Eigenheim die Flagge hisst. Der Einzige, der offen über Stolz auf Deutschland spricht, ist der indischstämmige Wirt eines italienischen Restaurants.
Aber irgendwo müssen sie ja sein, die Flaggen. Offenbar herrscht in Schkeuditz ein verborgener patriotischer Stolz, der womöglich etwas von einer Kränkung in sich trägt, weil mit ihm der Anschein engstirniger Kleinbürgerlichkeit verbunden wird. Ein Stolz, der vor allem die Sehnsucht nach Stolz ist.
Thomas de Maizière verkündete nicht ohne Pathos, dass die Zeit, in der die Deutschen Probleme mit dem Patriotismus hätten, nun vorbei sei. „Wir sind aufgeklärte Patrioten“, schrieb er, und fügte an: „Ja, wir hatten Probleme mit unserem Patriotismus. Mal wurde er zum Nationalismus, mal trauten sich viele nicht, sich zu Deutschland zu bekennen. All das ist vorbei, vor allem in der jüngeren Generation.“
Der real existierende Patriotismus, zumindest der in der Flaggenhauptstadt Schkeuditz, scheint ein anderer zu sein: ein Patriotismus, der mehr Selbstsuche als Selbstgewissheit, mehr Furcht als Zuversicht verrät. Und dadurch vielleicht doch wieder typisch deutsch ist.