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„Man weiß nie, ob man an diesem Abend nach Hause kommt“

Protestierende in Moskau am 23. Januar: Auseinandersetzungen mit der Polizei gab es einige.
Foto: Gavriil Grigorov/imago images/ITAR-TASS

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In mehr als hundert russischen Städten protestierten am Samstag Menschen gegen Kreml-Chef Wladimir Putin. Sie forderten die Freilassung des Oppositionellen Alexej Nawalnys.

Nawalny war am 18. Januar in einem umstrittenen Eilverfahren zu 30 Tagen Haft verurteilt worden. Er soll gegen Meldeauflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen haben, während er sich in Deutschland von einem Giftanschlag erholte. Nawalny hält die Verfahren für politisch motiviert. In einem Enthüllungsvideo hatte er die Menschen aufgefordert, auf die Straße zu gehen.

Vergangenes Wochenende soll es zu tausenden Festnahmen und gewaltsamem Vorgehen gegen Demonstrierende gekommen sein. Trotzdem wollen auch am kommenden Wochenende wieder Menschen auf die Straße gehen – darunter auch viele junge RussInnen. Dabei geht es ihnen um weit mehr als die Freiheit Nawalnys.

„Angst ist immer irgendwie mit dabei“

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Foto: Privat

Mira Sharf, 22, studiert Computerwissenschaften und arbeitet als Softwareingenieurin in Moskau.

„Wir haben keine Freiheit. So viele Menschen werden wegen ihres politischen Aktivismus verfolgt. Ich denke, es ist unglaublich wichtig, zu zeigen, dass wir das nicht so einfach zulassen und für jeden verfolgten Aktivisten kämpfen. Unsere Proteste richten sich gegen Putin, das Regime, den Polizeistaat, es geht um jede unterdrückte Person in Russland.

Ich denke, dass friedliche Proteste einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied machen. Schon als Jugendliche bin ich mit meiner Mutter zu den Protesten gegangen, aber es war immer mein eigener Wille. Ich wurde noch nie verhaftet, aber bin immer nervös, dass es passieren könnte. Angst ist immer irgendwie mit dabei, aber zu Hause zu bleiben, fühlt sich viel schlimmer an.“

„Ich habe das Gefühl, dass die Protestierenden in Russland von Jahr zu Jahr jünger werden“

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Foto: Privat

Vasily Rogov, 23, kommt aus Moskau und macht gerade seinen PHD in Mathematik in Berlin.

„In Berlin zu protestieren, ist natürlich viel sicherer, als in Moskau. Aber auch, wenn ich in Russland wäre, würde ich mich den Protesten anschließen. Dafür gibt es viele Gründe, aber am Ende gehen alle auf Putin zurück: Verbote unabhängiger Medien, politische Gefangene, ein schlechtes Gesundheits- und Bildungssystem, lächerliche Renten im Vergleich zu den Palästen und Yachten der Beamten. Polizeigewalt, die nie untersucht wird, weil alle zu korrupt sind.

Ich habe das Gefühl, dass die Protestierenden in Russland von Jahr zu Jahr jünger werden. Die Informationen über die Demonstration haben sich auf Tiktok verbreitet, viele der Demonstranten sind sogar jünger als ich. Ihnen geht es nicht nur darum, sich gegen Putin, sondern auch für Nawalny einzusetzen. Ich denke, viele Menschen sind von seinem Mut inspiriert. Ich vertraue ihm und halte ihn für eine herausragende Persönlichkeit. Wenn er morgen bei einer Präsidentschaftswahl antreten würde, würde ich für ihn stimmen.

Aber es gibt viele Menschen in Russland, die ihn nicht mögen, selbst wenn sie keine Illusionen über Putin haben. Ich denke, das ist das sowjetische Erbe, das die Menschen misstrauisch gegenüber jedem macht, der professionell Politik macht. Dieser Mangel an Vertrauen ist das Hauptproblem der russischen Opposition.“

„Man weiß nie, ob man an diesem Abend nach Hause kommt“

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Foto: Privat

Evgenia Shlosman, 24, ist Lehrerin an einer Schule in Moskau.

„Es gibt einen Moment, in dem man so wütend und verzweifelt darüber ist, was im Land passiert, dass man einfach etwas tun muss. Natürlich ist es auch beängstigend. Man weiß nie, ob man an diesem Abend nach Hause kommt, oder ob man mit einem gebrochenen Arm und einer enormen Geldstrafe auf der Polizeiwache landet. Trotzdem werde ich auch dieses Wochenende demonstrieren. Es ist nicht nur wegen Nawalny, sondern wegen all der grausamen Dinge, die in Russland passieren.

In den letzten Jahren habe ich mich daran gewöhnt, von ungeheuerlichen neuen Gesetzen und Ereignissen zu lesen, die sehr stark an die Jahre des großen Terrors erinnern. Es ist interessant, wie sich ein Mensch an alles gewöhnen kann. Vor einigen Jahren konnte ich sagen: ‚Wenn X passiert, werde ich dieses Land für immer verlassen.‘ Heute sage ich das nicht mehr, denn alle Xe sind schon passiert, und wir sind immer noch hier. Ich möchte diese Gewöhnung, diese Apathie in mir selbst bekämpfen, denn während ich lethargisch werde und mich in meiner Komfortzone verschließe, leiden die Menschen weiter.

Ich mag die Rhetorik von Nawalnys Team nicht immer. Oft vereinfachen sie die Dinge und schaffen ein "billiges‘ Bild von Nawalny, er ist der Märtyrer und der Held. Ich, und wahrscheinlich alle Menschen, die mit der Idee von Kultfiguren (wie Stalin) vertraut sind, bevorzugen es, einen ‚kritischen‘ Blick auf alle zu behalten und nicht der politischen Anbetung nachzugeben. Ich denke jedoch, dass Nawalny (und seine Frau!) extrem charismatische, mutige und in der Tat heldenhafte Menschen sind. Die persönliche Stärke eines Menschen, der bereit ist, in das Land zurückzukehren, das ihn fast umgebracht hatte, ist bewundernswert.“

Die Regierung hört uns nicht, aber ich will meine Meinung sagen“

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Foto: Privat

Nikita Rumyantsev, 28, besitzt ein Café in Murmansk.

„Ich werde auch dieses Mal protestieren, wegen Nawalny, aber mehr noch wegen der Gesetzeslosigkeit. Die Regierung hört uns nicht, aber ich will meine Meinung sagen. Ich bin schon 2011 und 2012 zu den Protesten gegangen, als Putin versucht hat, nach Medwedew zurückzukehren. Die meisten Menschen wussten schon 2011 von der Korruption.

Außerdem bin ich im Sommer 2020 auf die Straße gegangen, als Putin unsere Verfassung änderte. In den vergangenen neun Jahren gab es nur sehr wenige Änderungen. Russland entwickelt sich nicht mit dem nötigen Tempo. Aber die Menschen wollen ein besseres Leben. Das ist der Grund, warum der Unmut und die Unzufriedenheit im Land immer weiterwächst.“

„Letztes Wochenende wurden viele meiner Kollegen verprügelt

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Foto: Privat

Pavel Yablonskiy, 24, Moskau, arbeitet als Journalist für das Stadtmagazin „The Village“.

„Ich werde an diesem Wochenende wieder an der Demonstration teilnehmen, aber ich bin mir noch nicht sicher, wie. Letztes Wochenende war ich als Korrespondent vor Ort. Wir versuchen, so viel Gewalt wie möglich einzufangen, denn die Videos könnten den Festgenommenen später vor Gericht helfen. 2019 wurde ich zweimal auf einer Demo von der Polizei festgenommen. Letztes Wochenende wurden viele meiner Kollegen verprügelt.

Eines der größten Probleme der russischen Opposition ist der Mangel an Einheit. Ich bin kein großer Fan von Nawalny, aber ich respektiere, was er tut. Ein Teil der Opposition kritisiert ihn aber für seine Unfähigkeit, Dinge abzugeben. Andere sagen, er sei genau wie Putin, nur ein bisschen jünger. So viele könnten dabei geeint protestieren, wenn sie sich nicht von kleinlichen Streitigkeiten aufhalten würden. Ich kenne viele, die so denken: Es geht bei den Protesten nicht um politische Nuancen, es geht darum, ob man gegen das Böse kämpft oder nicht.

Die Leute schienen dieses Mal mutiger zu sein als sonst. Nach all dem, was passiert war, der Corona-Krise, den jüngsten Verfassungsänderungen und so weiter haben die Menschen immer weniger zu verlieren.“

„Ich möchte in einem normalen Land leben“

Emil Aru, 24,  arbeitet als Künstler in Moskau.

„Die Proteste haben uns ein neues Maß an Brutalität gegenüber Zivilisten gezeigt, die im Grunde friedlich demonstriert haben. Es gab illegale Verhaftungen, Schläge auf unbewaffnete Menschen, Folter – es erinnert an die Ereignisse im August in Belarus und ist sehr alarmierend. Ja, ich habe Angst, 2021 zu einem friedlichen Protest in Russland zu gehen. Aber ich gehe, weil ich möchte, dass das ein Ende hat.

Ich möchte in einem normalen Land leben. Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Unverletzlichkeit des Privateigentums und Machtwechsel sind unentbehrliche Bestandteile eines demokratisch gestalteten Staates. In Putins Russland funktioniert das nicht. Der Grund dafür ist das korrupte System, das Putin und seine Freunde in das staatliche Verwaltungssystem eingebaut haben. Das sind echte Banditen. Während sie neue Schlösser bauen, geht es der Wirtschaft immer schlechter und die Einkommen der Menschen sinken.  

Natürlich unterstütze ich Alexej Nawalny. Sein Team deckt Korruptionspläne auf und hat einen Plan für die Entwicklung des Landes. Ich denke, dass sie die russische Gesellschaft in eine glänzende Zukunft führen können.“  

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